Michael Bohmeyer, Gründer des Vereins Mein Grundeinkommen, erklärt, warum unsere Gesellschaft nicht krisenfest ist, wenn Erwerbsarbeit wegbricht und wie Existenzangst überwunden werden kann. Ein Interview.
Die Corona-Krise ist für einige Menschen in Deutschland existenzbedrohend. Zum Beispiel für Tonia Merz. Sie ist selbstständige Modedesignerin in Berlin, trägt Verantwortung für fünf Mitarbeiter*innen. Bisher lief ihr Geschäft gut, doch ausreichend Rücklagen, um eine Krise wie derzeit zu überbrücken, hat sie nicht.
Deshalb hat sie eine Petition gestartet. Darin fordert sie ein Grundeinkommen in Höhe von 800 bis 1.200 Euro, zeitlich begrenzt auf sechs Monate, für alle. Über 400.00 Menschen haben unterzeichnet. Tonia sagt: „Eine bessere Möglichkeit, das Konzept Grundeinkommen zu testen, gibt es nicht.“
Die politische Idee eines Grundeinkommens ist nicht neu. Aber ist jetzt der Zeitpunkt, um umzudenken? Darüber haben wir mit Michael Bohmeyer gesprochen, dem Gründer von Mein Grundeinkommen. Seit 2014 verlost der Verein einjährige Grundeinkommen mit 1.000 Euro monatlich sobald 12.000 Euro über Crowdfunding zusammenkommen. Über 450 Menschen haben so bereits gewonnen.
ze.tt: Sind es gerade gute Zeiten für die Idee des Grundeinkommens?
Michael Bohmeyer: Ja und nein. Ich finde, unsere Gesellschaft wird gerade ganz schön auf die Probe gestellt und dabei entsteht auch viel Leid, nicht zuletzt Krankheit und Tod. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine riesige gesellschaftliche Transformation, die ganz viel Vertrauen und Mut braucht – und Zeit, damit man sich damit beschäftigen kann. Deshalb ist jetzt nicht der richtige Moment, um ein nachhaltiges Grundeinkommen vollumfänglich einzuführen. Aber darum geht es gerade auch gar nicht.
Unsere Gesellschaft, in der Einkommen fast ausschließlich aus Erwerbsarbeit gewonnen wird, ist nicht so krisenfest, wenn man plötzlich nicht mehr erwerbsarbeiten kann.
Michael Bohmeyer, Gründer von Mein Grundeinkommen
Es gibt das Prinzip der Selbstversorgung nicht mehr. Diese Vorstellung haben wir aber häufig noch. In unserer politischen Kultur gibt es ein ziemlich großes Misstrauen gegenüber anderen. Deswegen sind auch alle unsere Systeme auf Misstrauen und auf Bedarfsprüfung gebaut. Ich glaube aber, dass wir gerade merken, dass die Menschen ziemlich gut zusammenstehen. Wir können in dieser Zeit Vertrauen schöpfen und uns vergegenwärtigen, dass wir alle zusammen im Boot sitzen.
Was du über Vertrauen und Misstrauen sagst, erinnert mich an ein Zitat des niederländischen Autors Rutger Bregman: „Der Sozialstaat, der den Menschen eigentlich Sicherheit und Selbstwert vermitteln soll, ist zu einem System von Misstrauen und Scham geworden.“
Dem stimme ich total zu. Wir erleben das bei den Menschen, die bei unserem Verein Grundeinkommen gewonnen haben. Darunter sind viele, denen es eigentlich gut geht. Aber wenn man genauer hinschaut, sind sie relativ gesehen arm und hätten durchaus Anspruch auf eine Aufstockung. Sie sind aber zu stolz, sich vor dem Amt auszuziehen und machen lieber zwei Jobs und keinen Urlaub. Das sind genau die, die jetzt in der Krise durchs Raster fallen.
Menschen sind dann glücklich, wenn sie sich selbst wirksam fühlen und ihre Integrität gewahrt ist.
Michael Bohmeyer, Gründer von Mein Grundeinkommen
Eine aktuelle Petition fordert ein befristetes Grundeinkommen für sechs Monate für alle. Über 400.000 Menschen haben unterzeichnet. Was hältst du von der Idee?
Ich finde das total spannend. Es gibt so viele Menschen, die von der Hand in den Mund leben müssen. 40 Prozent der Deutschen haben überhaupt kein Vermögen. Wenn die nicht arbeiten können, weil es keine Aufträge gibt, haben sie kein Einkommen. Deshalb wundert es mich überhaupt nicht, dass diese Petition so groß geworden ist, dass jetzt sogar der Finanzminister Stellung dazu beziehen muss.
Wir müssen nur verstehen: Da geht es nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen, für immer und für alle, sondern um Helikoptergeld, das als Notfallversorgung an alle ausgezahlt werden soll. Daraus können wir ganz viel lernen. Aber ein richtiges bedingungsloses Grundeinkommen wäre mehr als nur ein Krisengeld.
Die Existenzangst, die bei viel mehr Menschen da ist, als es zugeben wollen, wird mit einem Grundeinkommen überwunden.
Michael Bohmeyer, Gründer von Mein Grundeinkommen
Was kann man in nur sechs Monaten lernen? Kann man etwas so Grundlegendes wie ein Grundeinkommen überhaupt testen?
Immer wenn ein Test zum Grundeinkommen gemacht wird, wird irgendjemand sagen: Das ist nicht hoch genug, das ist nicht konsequent genug, das ist nicht lang genug, da sind nicht genug Menschen dabei. Ich glaube, wir können durch jeden Versuch klüger werden.
Auch in Finnland war es nur ein partielles Grundeinkommen, das an Erwerbslose ausgezahlt wurde. Aber dabei haben wir gelernt: Wenn Menschen bedingungslose Grundsicherung bekommen, arbeiten sie trotzdem nicht weniger. Genauso könnten wir jetzt in einer Phase, in der wir Privatpersonen Geld in die Hand geben, als Gesellschaft lernen, wie das ist. Ein neues Prinzip.
Wir geben uns sehr viel Mühe, komplizierte Förderungs- und Umverteilungsmechanismen zu organisieren, wo wir Banken und großen Konzernen Milliardenbeträge überweisen – in der Hoffnung, dass das irgendwann durchsickert und ein Bruchteil davon bei den Arbeitnehmern ankommt. Warum geben wir den Menschen das Geld nicht einfach direkt? Am Ende erhält es die Wirtschaft und unsere Gesellschaft aufrecht, wenn Menschen konsumieren und ihr Leben bestreiten können.
An der Petition wird kritisiert, dass sie von der Krisensituation einzelner ausgeht, aber in Konsequenz ein Grundeinkommen für alle fordert. Expert*innen wie der Armutsforscher Christoph Butterwegge sagen, es brauche gezieltere Maßnahmen für die, die besonders betroffen sind: Kurzarbeit, Soforthilfen, Kredite. Gemäß der Formel: Ungleiche müssen ungleich behandelt werden, damit es gerecht ist.
Das ist auch nicht ganz verkehrt. Es sind tolle Impulse, die da gerade aus der Politik kommen. Man reibt sich ja die Augen vor Verwunderung, was plötzlich möglich ist. Es gibt bei der Grundsicherung keine Vermögensprüfung und beim Existenzminimum keine Kürzungen mehr. Wir sind Hals über Kopf einen Riesenschritt vorangekommen. Der Sozialstaat ist quasi zukunftsfähig geworden – leider nur vorübergehend.
Aber: Das Spannende an einem temporären Grundeinkommen ist der psychologische Effekt. Wir haben in unseren sechs Jahren, die wir zum Grundeinkommen forschen, herausgefunden, dass es vor allem bei den Menschen wirkt, die das Geld gar nicht brauchen. Die also genug auf dem Konto haben, die in der Mittelschicht sind, die auch heute so eine Nothilfe gar nicht bekommen würden. Bei denen wird ein Potential freigelegt, das atemberaubend ist: Sie arbeiten effizienter, sind seltener krank, haben viel mehr Zuversicht und Eigenverantwortung und eine höhere Lebenszufriedenheit. Die Existenzangst, die bei viel mehr Menschen da ist, als es zugeben wollen, wird mit einem Grundeinkommen überwunden.
Das Grundeinkommen wird oft missverstanden. Es ist kein zusätzliches, sondern ein grundsätzliches Geld.
Michael Bohmeyer, Gründer von Mein Grundeinkommen
In einer Situation, in der man nicht genau weiß, wie lange die Krise noch geht, gibt diese kontinuierliche Zahlung für alle Sicherheit. Und man kommt aus der Logik heraus, dass die einen die Bedürftigen, die Verlierer sind und die anderen die Gewinner, die das nicht brauchen. Diese Trennung der Gesellschaft zu überwinden, könnten wir jetzt erproben.
Auch langjährige Befürworter*innen des Grundeinkommens, wie die Linken-Politikerin Katja Kipping räumen ein, dass es Monate dauern würde, die dafür nötigen Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Stattdessen wird von vielen auf die Grundsicherung oder Hartz IV verwiesen – mit der Forderung, bürokratische Hürden zu senken und die Sätze zu erhöhen.
Ich glaube, die Strukturen ließen sich organisieren, wenn man wollte. Zum Beispiel durch die Finanzämter. Jeder Mensch, der in Deutschland geboren wird, hat ja eine Steuer-ID.
Wir dürfen aber zwei Dinge nicht durcheinanderbringen: Das eine ist der Sozialstaat. Den soll es auch mit Grundeinkommen noch geben. Der ist für die da, die aus eigener Kraft nicht erreichen können, was sie brauchen. Ihnen muss die Gesellschaft helfen. Und zusätzlich gibt es das Instrument des Grundeinkommens, das das Einkommensproblem von den anderen Problemen des Sozialstaates löst. Erstmal haben alle genug Einkommen. Und dann können wir uns um weitere Dinge kümmern: Integration, Weiterbildung und andere Maßnahmen.
Wir alle hätten die Gewissheit, nicht tiefer rutschen zu können als 1.000 Euro.
Michael Bohmeyer, Gründer von Mein Grundeinkommen
Nehmen wir mal an, für alles Bürokratische ließen sich Lösungen finden: Ein Grundeinkommen für sechs Monate kostet den Staat über 500 Milliarden Euro. Und schon jetzt plant der Finanzminister mit einer nie da gewesenen Neuverschuldung von über 150 Milliarden Euro. Wie kommen diese Summen wieder rein?
Das Grundeinkommen wird oft missverstanden. Es ist kein zusätzliches, sondern ein grundsätzliches Geld. Das heißt: Wenn ich heute 2.000 Euro verdiene, dann würde ich in einer Grundeinkommensgesellschaft etwas mehr Steuern zahlen. Sagen wir mal 1.000 Euro. Ich würde aber auch 1.000 Euro Grundeinkommen kriegen. Unterm Strich wäre also ähnlich viel Geld in der Tasche, aber wir alle hätten die Gewissheit, nicht tiefer rutschen zu können als 1.000 Euro.
Das mit dem Geld ist eigentlich ein Trick. Es geht um die Bedingungslosigkeit, die wir noch gar nicht kennen. Die macht den großen Unterschied, denn sie sorgt für Eigenverantwortung, Freiheit, Selbstbestimmung und dieses Aufbruchsgefühl, das wir so oft bei unseren Gewinnern erleben.
Deshalb muss man die Rechnung anders machen: Alle kriegen vorab 1.000 Euro, auch der Millionär. Aber alle tragen auch entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit über höhere Steuern zum Grundeinkommen für alle bei. Im Vergleich ändert sich also gar nicht so viel, nur dass wir den Boden, bis zu dem wir fallen können, gemeinsam auf 1.000 Euro erhöhen und damit das Existenzielle aus dem Spiel nehmen.
Der Originaltext von Nina Monecke ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.