In Folge 54 unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ spricht Journalistin Heba Alkadri über ihr Aufwachsen in Syrien, ihre Flucht nach Deutschland und ihre Rückkehr in ein verändertes Heimatland nach dem Sturz des Assad-Regimes.
Ein tiefgründiges Gespräch über Identität, Widerstand, das Ankommen in der Fremde – und über die Kraft der Hoffnung.
Die ganze Podcastfolge hörst du über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Heba Alkadri liest du hier.
Liebe Heba, wie kann man sich dein Großwerden in Syrien vorstellen?
„Ich bin in einer kleinen, ruhigen Stadt aufgewachsen, etwa 80 Kilometer von Damaskus entfernt. Die politischen Spannungen im Land habe ich als Kind also nicht so stark wahrgenommen.
Meine Kindheit war weitgehend friedlich, aber auch verwirrend. Überall hingen Porträts von Hafiz oder Baschar al-Assad. Gebäude, Bibliotheken, selbst Moscheen waren nach ihnen benannt. Aber niemand sprach offen darüber, was man wirklich von ihnen halten sollte – auch in meiner Familie nicht. Wenn das Thema aufkam, wurde geschwiegen.“
Wann hast du das erste Mal bemerkt, dass du in einer Diktatur lebst?
„Ich war etwa sechs Jahre alt, gerade in der ersten Klasse. Eines Morgens nahm ich ein Schulheft zur Hand, auf dem das Gesicht von Hafiz al-Assad abgedruckt war – und malte ihm lange Wimpern. Mein Vater, der sonst sehr ruhig war, reagierte plötzlich erschrocken und sagte, ich solle das sofort wegradieren. Aber es ging nicht. Also nahm er mir das Heft weg und meinte, ich solle der Lehrerin sagen, ich hätte es verloren. Ich verstand damals nicht, was daran so schlimm war. Aber ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Ich dachte zunächst, mein Vater wäre einfach ein Fan von al-Assad – also versuchte ich, gut über ihn zu sprechen. Aber er schwieg nur. Dieses Schweigen hat viel ausgesagt.“
Dein Vater war also regimekritisch, hat aber nie offen darüber gesprochen?
„Genau. Das war wie ein stilles Geheimnis, das über allem lag. Ich habe es irgendwann geahnt, aber wirklich verstanden habe ich es erst 2011, als die Proteste begannen. Erst da habe ich begriffen, dass wir unter einem Diktator lebten – und wie gefährlich es war, das auch nur auszusprechen.“
2011 kamen Proteste auf, die schließlich zum Krieg führten. Wie hat das dein Leben verändert?
„Als der Arabische Frühling Syrien erreichte, war ich sofort bewegt. Ich war in der 11. Klasse und spürte: Eine Revolution ist das Richtige. Doch offen darüber sprechen konnten wir nicht.
Ich hatte zu der Zeit einen Blog – und erinnere mich, wie ein anderer Blogger über die Proteste schrieb. Am nächsten Tag wurde er verhaftet. Zum ersten Mal hörte ich von politischer Inhaftierung, von Foltergefängnissen. Ich recherchierte weiter und las plötzlich über das Massaker in Hama in den 80er-Jahren – bei dem eine Stadt ausgelöscht wurde, nur weil sie protestiert hatte.
Ich war schockiert, wütend, enttäuscht – auch auf meinen Vater. Warum hatte er mir all das nicht erzählt? Ich rannte zu ihm, voller Fragen, voller Zorn. Ich wollte verstehen. Und ich glaube, so ging es vielen meiner Generation. Wir wuchsen in Unwissenheit auf – und wurden dann mit der ganzen Härte der Realität konfrontiert.“
Deine Freund*innen flohen – du bist zunächst geblieben. Warum?
„Als Kind und Teenager hatte ich oft das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören. Doch mit der Revolution wuchs plötzlich ein Gefühl der Verwurzelung. Ich dachte: Wenn wir, die Menschen, die es sich leisten können, jetzt gehen – was bleibt dann für die, die keine Wahl haben?
Ich fühlte mich verantwortlich. Ich war eine derjenigen, die protestiert hatten. Viele hatten Angst – völlig verständlich. Aber ich konnte nicht einfach fliehen. 2013 verließ meine erste Freundin das Land. Ich habe bitterlich geweint. Nicht nur wegen ihr, sondern weil ich wusste: Das ist erst der Anfang. Und so kam es. Nach und nach gingen sie alle.“
Irgendwann hast du angefangen zu schreiben – was genau hast du dokumentiert?
„Zuerst schrieb ich über meine Heimatstadt. Als beispielsweise eine Journalistin bei uns verhaftet wurde, hielt ich das fest – weil niemand sonst darüber sprach. Später gründete ich mit anderen eine kleine Zeitung. Sie war nicht extrem regierungskritisch, aber ehrlich. Sie wurde schnell verboten. Daraufhin arbeiteten wir unter Pseudonymen weiter – doch in einer kleinen Stadt wusste man schnell, wer dahintersteckt.
Ich hatte Glück. Ich wurde nie verhaftet. Eine Freundin sagte mir neulich: ‚Ich verstehe bis heute nicht, wie wir da heil rausgekommen sind.‘ Ich auch nicht. Aber das Schreiben war mein Weg, Widerstand zu leisten. Später wurde ein Magazin auf mich aufmerksam, für das ich dann auch anfing zu schreiben. Ich zog nach Damaskus, begann zu studieren – und war freier, aber auch gefährdeter.“
Wann war dir klar, dass auch du Syrien verlassen musst?
„Es war kein einzelner Moment, sondern ein schleichender Prozess. Ich spürte: Ich kann den Menschen hier nicht mehr helfen – ich schade ihnen vielleicht sogar. Viele begannen, die Revolution für das Leid verantwortlich zu machen. Ich verstand ihre Angst, ihren Frust. Aber es tat weh.
Ich reiste oft zwischen Damaskus und meiner Heimatstadt – immer vorbei an Checkpoints, Militärkontrollen, ständiger Bedrohung. Ich hoffte lange auf Veränderung, auf Freiheit, auf Demokratie. Doch irgendwann war da nur noch Erschöpfung und Angst. Ich wusste: Wenn ich nicht gehe, gehe ich innerlich kaputt.“
Wie verlief deine Flucht nach Deutschland?
„Anders als bei vielen anderen. Ich hatte meine Papiere und konnte mit dem Flugzeug reisen. Viele hatten dieses Privileg nicht. Sie mussten übers Meer, durch mehrere Länder, oft unter Lebensgefahr – so wie auch meine Cousine.
Meine Flucht war kompliziert – aber nicht lebensgefährlich. Es hat etwa ein Jahr gedauert. Man brauchte definitiv Kontakte, um alles durchzubekommen. In Syrien gab es keine Botschaft, deshalb musste ich in den Libanon reisen, was auch nicht einfach war. Und natürlich hat es auch Geld gekostet.“
Wie hast du die erste Zeit in Deutschland erlebt?
„Ich kam im September 2016 nach Deutschland. Die Sonne schien, aber für mich war es sehr kalt. Meine Freund*innen sagten: ‚Wenn du jetzt schon frierst – was machst du erst im Winter?‘
Ich wollte alles richtig machen. Ich wollte dazugehören und mich schnell integrieren. Ich suchte in der Bibliothek nach Büchern, wie man deutsche Freund*innen findet. Ich schaltete sogar eine Anzeige: ‚Wer will mit mir Kaffee trinken und mir Deutsch beibringen?‘
Was mich wirklich schockierte, war die Bürokratie. Ich wartete monatelang auf Papiere und einen Deutschkurs. Also brachte ich mir die Sprache schließlich selbst bei. Was mir half, war ein Theaterprojekt. Dort lernte ich viel – sprachlich, aber auch kulturell.
Trotzdem war es hart. Ich dachte, wenn ich alles richtig mache, wird man mir Türen öffnen. Aber oft passierte das Gegenteil. Ich musste lernen: Hier kommt niemand einfach auf dich zu. Das war schwer zu akzeptieren.“
Mittlerweile lebst du seit über acht Jahren hier – mit Staatsbürgerschaft, Job, sozialem Umfeld. Aber du sagst, du fühlst dich nicht wirklich integriert. Warum?
„Am Anfang habe ich mich sehr intensiv mit Integration beschäftigt. Ich habe alle Ratschläge verfolgt und die Integrationskurse ernst genommen, aber mein Gefühl war immer: Es reicht nicht. Es wird nie reichen.
Vor zwei Jahren sagte ich mir dann: ‚Ich habe versagt – oder das System funktioniert einfach nicht für mich.‘ Ich habe die Idee der Integration losgelassen. Das war hart, aber befreiend. Ich hörte auf, mich zu verbiegen – und plötzlich fühlte ich mich zugehörender.
In ihrem Buch bringt es Autorin Brené Brown ganz gut auf den Punkt. Sie schreibt: Integration bedeutet, sich anzupassen. Zugehörigkeit bedeutet, sich selbst treu zu bleiben.
Seit ich das verstanden habe, investiere ich mehr in mich selbst – nicht mehr in das, was andere von mir erwarten. Und genau das hat mir das Gefühl gegeben, wirklich anzukommen.“
Anfang Dezember 2024 fiel überraschend das Assad-Regime. Erinnerst du dich noch gut an diese Zeit?
„Oh ja. Es war eine intensive Woche. Ich war in Hamburg, mitten im Masterstudium. Wir hatten gerade ein Modul in Datenjournalismus, ich war voll drin – aber mein Handy war immer in der Hand. Ich schlief kaum.
Jeden Tag befreiten sich mehr Städte von Assad. Ich hatte Hoffnung – aber auch Angst. Was, wenn Assad zurückschlägt? Was, wenn die Rebellen Gewalt anwenden?
Dann kam dieses Video: Jemand schreit aus dem Fenster: ‚Assad ist gestürzt! Syrien ist frei!‘ Ich konnte es nicht glauben. Ich rief meinen Schwiegervater an. Ich sah ihn zum ersten Mal weinen. Er sagte: ‚Ich habe 50 Jahre auf diesen Moment gewartet.‘ Ich weinte auch. Es war unbegreiflich.
Ich hatte Angst, dass es ein Traum war. Aber am nächsten Morgen war alles noch da. Die Tweets, die Stimmen von damals – sie waren zurück. Es war real. Endlich.“
Im Januar 2025 bist du zurückgereist. Was waren die ersten Eindrücke, als du wieder syrischen Boden betreten hast?
„An der Grenze sah ich den leeren Rahmen, in dem früher Assads Porträt hing. Nur seine Mütze war noch zu erkennen – das Gesicht war verschwunden. Es war ein starkes Bild, das stellvertretend für ganz Syrien steht: Assad ist weg – aber sein Schatten bleibt.
Es gab keine Checkpoints mehr. Keine Soldaten. Stattdessen junge Menschen, die sagten: ‚Willkommen zurück. Willkommen in eurem Land.‘ Aber auch: Armut, Zerstörung, Erschöpfung. Hoffnung und Sorge lagen nah beieinander.“
Was braucht Syrien jetzt?
„Die Lage in Syrien ist sehr komplex. Es geht nicht nur um die letzten 14 Jahre und all das, was passiert ist, es geht nicht nur darum, dass mehr als 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, es geht nicht nur um den Krieg und das schwere Erbe von al-Assad – sondern die Geschichte der letzten 50 Jahre. Wir müssen sehr viel aufarbeiten.
Aber was mir Hoffnung gibt: die vielen Syrerinnen im Ausland. Sie haben gesehen, wie Demokratie funktioniert, wie freie Medien arbeiten, wie gesellschaftlicher Wandel möglich ist. Wenn wir dieses Wissen zurückbringen – nicht als Retter*innen, sondern als Teil eines Ganzen – dann haben wir eine Chance. Aber es wird nicht leicht. Und es geht nur gemeinsam.
Ich hoffe wirklich, dass der neuen Regierung ihre historische Verantwortung bewusst wird – und dass sie entsprechend handelt. Ich hoffe, dass sich alle Syrer*innen mit einbezogen fühlen. Denn nur dann kann Syrien heilen. Es gibt keinen anderen Ausweg.“
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Noch mehr über Heba Alkadri und ihre Geschichte erfährst du in der 54. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Ein Gespräch, das unter die Haut geht.
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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!
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