Bild: Cottonbro Studio | Pexels

„Ich will aussehen wie mein Filter-Selfie!“ – Über Schönheit, Manipulation und Verantwortung

Ist doch jeder Person selbst überlassen, ob sie ästhetische Eingriffe bei sich machen lässt. Ja, aber: Ist diese Entscheidung vor dem Hintergrund von Social Media und Werbeindustrie wirklich unsere eigene?

Ich bin mit meiner fünfjährigen Tochter E. in einem kleinen Restaurant in Berlin-Charlottenburg. Der Tresen, an dem wir sitzen, rahmt eine offene Küche ein: drei Köch*innen bereiten hier das Essen zu. E. verfolgt jeden ihrer Handgriffe, bis sich zwei Personen neben uns setzen und dem Küchengewusel die Show stehlen.

Sie haben lange blonde Haare, die in weiche Wellen übergehen. E. scheint fasziniert von ihnen. Nach einiger Zeit sagt sie einen Tick zu laut: „Mama, die Frau muss sich aber auch mal wieder die Fingernägel schneiden!” Mein Blick fällt auf die sehr langen Gelnägel der Person neben uns, ich werde rot, lächele unsicher in ihre Richtung, aber sie sind ins Gespräch vertieft.
„Glaubst du, es sind Zwillinge?”, will E. wissen. Tatsächlich sehen sich die beiden ähnlich: Ihre Lippen sind auffallend voll, ihre Wangenknochen deutlich angehoben. Ich flüstere, E. solle bitte leiser sprechen. Sie sagt jetzt auch nichts mehr, wirft den Frauen nur immer wieder heimliche Blicke zu.

„Hello, Spiegel-Ich, du gefällst mir überhaupt nicht!“

Vor einigen Jahren war ich zu einem Abendessen mit Kolleg*innen im neuen Job eingeladen, man unterhielt sich, irgendwann ging es um OPs und Unterspritzungen, ein großer Teil der Anwesenden hatte damit schon Erfahrung. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir darüber nie ernsthaft Gedanken gemacht. Oder wenn ich noch ehrlicher bin: Ich habe das Thema irgendwann mit der Hoffnung abgeschlossen, dass Menschen, die mich wirklich kennen, dann „das Schöne“ in mir und damit auch an mir sehen. Diese Haltung war notwendig geworden nach den wiederkehrenden Phasen einer Magersucht, die mit 15 angefangen und mich zu Therapeut*innen, in Kliniken, durch Ängste und bohrende Selbstzweifel geführt hatte. Wer Ähnliches erlebt hat, weiß, dass diese Krankheit niemals wirklich verschwindet. Ich hatte mich derart intensiv und wohl auch gewaltvoll mit meinem Körper auseinandergesetzt, dass das Thema Schönheitseingriffe bei mir seit langem im toten Winkel lag.

In diesem neuen Job jedenfalls hatte ich viel mit Social Media zu tun. Dadurch sah ich mich selbst ständig. Verglich mich wieder. Musste Selfies machen. Vor allem Videos. –  Hello, Spiegel-Ich, du gefällst mir überhaupt nicht!
Nach diesem Abendessen damals war ich verwirrt. Ich dachte zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, ob ich etwas unternehmen, also ob ich mich so einer Behandlung unterziehen sollte. Unterhalb der Augen vielleicht? An der Stirn aber auch unbedingt. Und vor allem….

Buccal Fat Removal

Die Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact zeigt, dass sich insbesondere Personen zwischen 16 und 39 Jahren durch Postings auf Instagram oder Tiktok bei ihrer Entscheidung zu Schönheitseingriffen beeinflusst fühlen.

Befragt wurden Menschen, die regelmäßig Influencer*innen-Content auf Social Media konsumieren; rund ein Drittel von ihnen gibt an, durch den Konsum von Content auf Instagram oder TikTok zu einem Schönheitseingriff verleitet worden zu sein.

Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner spricht bei Deutschlandfunk Nova von einem „patriarchalen Schönheitsideal“, angestrebt werde noch immer ein weißes, makelloses Gesicht. Das habe mit kolonialen Zusammenhängen zu tun, die unsere Gesellschaft nach wie vor prägen. Es müsse faltenfrei sein, dürfe keine Haare an der falschen Stelle haben, sei stark normiert.

Auch lesen: „Nur wer Deutschlands Kolonialgeschichte kennt, kann heutigen Rassismus verstehen und bekämpfen“ von Josephine Apraku

Der neueste dazu passende Trend heißt „Buccal Fat Removal“, laut Vogue der derzeit wohl gefragteste Beauty-Trend, der mit extremen Gesundheitsrisiken verbunden ist. Durch einen Schnitt im Mundinnenraum wird hier ein Fettpölsterchen aus der Wange entfernt. „Dadurch sollen die Wangen schlanker wirken und die benachbarten Konturen – also Jochbein und Kieferlinie – betont werden.“

Und hier stelle ich mir die Frage: Ist das jetzt wirklich unser eigener Wunsch, diese OP durchzuführen? Oder ist das der Wunsch einer mächtigen Schönheitsindustrie, die mal so eben ein paar Trends in der Gegend verteilt und dann richtig viel Geld verdient?

„Ich radiere einfach in meinem Gesicht herum, lösche weg, was mich schon immer gestört hat, ziehe Falten glatt.“

Ich nutze eine Pause vom Schreiben dieses Textes, um die App zu öffnen, mit der ich alles an mir verändern kann: Ich radiere einfach in meinem Gesicht herum, lösche weg, was mich schon immer gestört hat, ziehe Falten glatt, mache hier noch etwas markanter, da noch etwas voller. Bis ich das Gefühl habe, „fertig“ mit mir zu sein. Ich wechsle immer wieder von „vorher“ zu „nachher“, bleibe bei „nachher“ hängen und denke: „Schön.“

Das bin ich. Vor und nach dem Filter. Will ich aussehen wie die Person auf der rechten Seite?
Foto: Ana Torres

Kurz vor meinem ersten Eingriff

Ich hatte schon einen Termin bei einer Dermatologin gemacht.
Kurz vorher, an einem typisch hektischen Morgen, ging ich noch mal schnell zum Spiegel. Die zwei Kinder und ich waren kurz davor, die Wohnung zu verlassen, ich hatte gleich ein wichtiges Arbeitsmeeting und fragte, ob die Klamotten so „okay” seien, und E. antwortete sehr beiläufig: „Du bist doch immer okay, Mama.” Ich sah sie an … und cancelte den Termin beim Doc wieder.

Was wäre denn, wenn es meinen Kindern auffällt? Ich meine: Wie sollte ich ihnen das erklären? „Eure Mama wird älter, dagegen muss etwas getan werden.” Und was lernen sie daraus? Dass es nicht okay ist, mit Makeln zu leben? Mit Falten zu leben? Dass es ein Ideal gibt, dem man möglichst nahekommen muss, um akzeptiert zu sein?

„Die meisten Menschen wollen mit dem Eingriff eine bessere Version von sich selbst (…) Aber dieses Ideal ist schwer oder gar nicht zu erreichen.“

Dr. Tom Decates (Plastischer Chirurg)

Die Pandemie hat den Wunsch, einem Schönheitsideal zu entsprechen, noch immens verstärkt. Die Gesamtzahl der Eingriffe ist entsprechend der VDÄPC-Statistik (Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen) im Jahr 2022 um etwa 15 Prozent gestiegen, nämlich von 81.516 Eingriffen im Vorjahr auf 93.853 Eingriffe (bei den VDÄPC-Mitgliedern). Ganz vorne auf der Wunschliste sind Behandlungen mit Botulinumtoxin, Hyaluron und Fillern. Die Fachgesellschaft beobachtet außerdem die Entwicklung hin zu differenzierten Wünschen der Patient*innen zur Definierung der Körperform.

Auch lesen: „Selfie, Selfie an der Wand – wer ist die Schönste im Social-Media-Land?“ von Theresa Lachner

„Die meisten Menschen wollen mit dem Eingriff eine bessere Version von sich selbst. Wegen des Schönheitsideals heute kommen Frauen mit einem Foto zu mir, das sie mit einem Filter bearbeitet haben. Aber dieses Ideal ist sehr schwer oder gar nicht zu erreichen”, sagt der plastische Chirurg Dr. Tom Decates aus den Niederlanden in der Dokumentation „Wahnsinnig schön“. Noch vor etwa zehn Jahren galten unterschiedliche Typen als schön. Heute hingegen sehen die Promis alle gleich aus. Die gleichen Wangenknochen, die gleiche Kieferform – gleiche Lippen, gleiche Nase, gleiche Wimpern. („Glaubst du, es sind Zwillinge?”, wollte E. wissen.)

Klar: Wir nutzen alle dieselben Filter. Und die digital bearbeiteten Bilder verändern die Selbstwahrnehmung ganz massiv. Im Rahmen einer britischen Studie gaben etwa 90 Prozent von 175 befragten Frauen zwischen 18 und 30 Jahren an, dass sie Filter verwenden, um ihre Fotos nachträglich zu bearbeiten und so ihr Aussehen zu verändern.

„Wir sehen uns selbst ja ständig mit Filter, identifizieren uns damit, und dadurch wird die Kluft zwischen dieser künstlichen Selbstwahrnehmung und dem echten Bild unüberwindbar.“

Neulich nahm meine Tochter ein Stück Haut zwischen ihre Finger und fragte mich breit grinsend, ob sie zu dick sei. Bei mir leuchtet da sofort alles rot und ich höre Sirenen: Ich sehe sie vor mir, wie sie wenige Jahre später durch Insta scrollt und immer unglücklicher wird. Wie der Druck kommt, wie er sich über sie stülpt und wie sie zum ersten Mal am Esstisch „Nein, danke” sagt.

Kein Plädoyer dagegen!

Stop, Missverständnis, das wird kein Plädoyer gegen OPs, Faltenbehandlungen und all das! Das muss wirklich jede Person selbst entscheiden. Aber wenn ich mich dafür entscheide, etwas machen zu lassen, dann möchte ich mir vorab mehrmals die Frage stellen, warum ich das will. Für wen. Mit welchem Ziel. Wer oder was bringt mich auf die Idee, das zu tun? Kommt der Wunsch wirklich nur aus mir selbst heraus? Wo fängt es an? Wo hört es auf? Und soll es überhaupt aufhören? – Ich möchte diese Fragen wirklich ehrlich für mich beantworten und dann noch mal überlegen.

Denn ich bin sicher, dass die unablässige Auseinandersetzung mit dem Äußeren und mit Dingen, die für das Erreichen eines Ideals verändert werden müssen, die Menschen von sich selbst entfernt. Lid straffer, Brust größer, Bein dünner, Po dicker – ganz schön viel Energie für ein bisschen Selbstoptimierung.

Heute wird meine Tochter sechs Jahre alt. Und ich wünsche ihr vor allem, dass sie sich selbst mag. Dass sie bei sich bleibt. Dass sie erkennt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Dass sie empathisch ist, sich für andere einsetzt. Dass sie die Unvoreingenommenheit beibehält und Menschen offen begegnet.

FEMALE FUTURE FORCE DAY 2023

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EDITION F Voices

Dieser Text erschien erstmals in einer gekürzten Version bei Voices – dem Newsletter von EDITION F, in dem starke Stimmen aus dem EDITION F Umfeld über Familie, Gesellschaft & Politik, Business, Körper & Sex und Mental Health schreiben. Abonniert ihn jetzt!

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