Die amerikanische Autorin Sara Zaske lebte einige Jahre lang in Berlin – und staunte über die Erziehungsmethoden deutscher Eltern. Nun lobt sie die deutsche Art, Kinder aufwachsen zu lassen, sogar in einem Buch – klar, dass wir darüber ein Interview mit ihr geführt haben.
Deutschland ist das neue Frankreich – in Sachen Kindererziehung
Sara Zaske lebte mit ihrem Mann und Kleinkind in Oregon, bis ihr Mann ein Jobangebot in Berlin annahm und die Familie nach Deutschland zog. Sechs Jahre wohnte Sara in Berlin, ihr zweites Kind wurde hier geboren – und sie staunte darüber, wie es deutschen Eltern gelingt, ihre Kinder zu entspannten und selbstbewussten Wesen heranzuziehen.
Während sie selbst auf dem Spielplatz nach Rettung schrie, tranken deutsche Eltern seelenruhig Kaffee, während ihre Kinder in schwindelerregender Höhe aus dem Maul eines Holzdrachens baumelten. Das imponierte ihr.
Und uns tut es natürlich sehr gut, zu hören, wie toll wir das mit der Kindererziehung machen – denn gemeinhin wird einem ja gern vermittelt, deutsche Eltern würden die Erziehung ihrer Kinder einigermaßen vergeigen und nur die Franzosen hätten raus, wie man Kinder dazu bringt, im Restaurant still am Tisch zu sitzen und auch sonst nicht als Nervensägen aufzufallen.
Jetzt ist Saras Buch zum Thema erschienen: „Achtung Baby. English Edition: An American Mom on the German Art of Raising Self-Reliant Children“. Wir wollten natürlich unbedingt ganz genau wissen, was wir eigentlich so toll machen, und haben Sara ein paar Fragen gestellt.
Könntest du uns beschreiben, was dich am meisten überrascht hat an der Art, wie man in Deutschland Kinder erzieht und aufwachsen lässt?
„Das war die ganz einfache körperliche Freiheit, die die Deutschen ihren Kindern zugestehen. Viele amerikanische Eltern – mich damals eingeschlossen – haben ein stereotypes Bild der Deutschen in ihren Köpfen: Die Deutschen sind strenge Kontrollfreaks. Aber dann sah ich in Berlin Eltern, die ihre Kinder so viel alleine machen ließen: allein zur Schule gehen, im Park spielen, im Supermarkt einkaufen, U-Bahn und Bus fahren, alles ohne die Aufsicht eines Erwachsenen. Eltern und Lehrer in Deutschland lassen Kinder potentiell gefährliche Dinge machen, etwa auf Spielplätzen in großer Höhe klettern, Lebensmittel mit echten Messern schneiden, in der Schule lernen, wie man mit Streichhölzern umgeht – all das ist schockierend für Amerikaner.“
Du beschreibst den Erziehungsstil deutscher Eltern als ziemlich entspannt, darauf vertrauend, dass unsere Kinder dadurch selbstbewusst und eigenständig werden. Hier in Deutschland wiederum wird ständig darüber diskutiert, dass eine angeblich wachsende Zahl von Eltern ihre Kinder ständig beschützen will und sie eben nicht frei aufwachsen lässt, Stichwort die mittlerweile klischeehaften „Helikopter-Eltern“ – führt das zu der Schlussfolgerung, dass der Erziehungsansatz amerikanischer Eltern noch hysterischer ist?
„Die meisten Eltern in den USA sind Helikopter-Eltern. Die meisten amerikanischen Eltern lassen ihre Kinder im Schulalter niemals irgendetwas ohne Aufsicht eines Erwachsenen machen. Die Kinder gehen nirgends allein hin, oder spielen allein auf dem Spielplatz. In der Regel dürfen sie keine Messer benutzen oder sonst irgendetwas, das auch nur als als potentiell gefährlich eingestuft wird. Amerikanische Eltern sind außerdem so besorgt über die Zukunft ihrer Kinder, dass sie deren schulische Leistungen genauestens kontrollieren und ihre Kinder mit allen möglichen Zusatzaktivitäten überladen, wie Nachhilfe, Musikstunden, Sport – alles, was den Kindern irgendwie dabei behilflich sein könnte, an einer Top-Universität genommen zu werden.“
Du schreibst, deutsche Eltern hätten bezüglich ihrer Kinder dieselben Ängste wie amerikanische, die selben Gedanken daran, was ihnen alles Schreckliches zustoßen könnte. Sie würden aber mit diesen Ängsten produktiv umgehen, indem sie ihre Kinder auf potentielle Gefahren vorbereiten – was machen denn amerikanische Eltern stattdessen?
„Amerikanische Eltern reagieren auf ihre Ängste um die Sicherheit ihrer Kinder, indem sie ihnen alles verbieten, was sie als gefährlich empfinden. Sie scheinen zu glauben, dass nichts Schlimmes passieren kann, wenn sie ihre Kinder nur jede Sekunde des Tages überwachen. Natürlich ist das unrealistisch, und wenn Eltern ihren Kindern nicht von der Seite weichen, können diese nicht selbstständig werden. Die Konsequenz daraus ist, dass viele Kinder, die so aufwachsen, sich nicht kompetent fühlen, und dass sie die Ängste ihrer Eltern absorbieren. Wir beobachten zurzeit einen Anstieg bei Angststörungen und Depressionen unter jungen Erwachsenen in den USA und das wird auch direkt mit Helikopter-Elternschaft in Verbindung gebracht.“
In einem Artikel über dein Buch war zum Thema Kinderbetreuung zu lesen: „Kein Wunder, dass zwischen 92 und 98 Prozent der deutschen Kinder zwischen drei und fünf Jahren einen Kindergarten besuchen – verglichen mit nur 23,4 Prozent der amerikanischen Kinder.“ Hier in Deutschland bekommt man den gegenteiligen Eindruck: Nämlich dass die deutschen Mütter relativ lange, für viele zu lange, zu Hause bleiben nach der Geburt eines Kindes, während die amerikanischen Mütter nach wenigen Wochen wieder in den Beruf einsteigen – was stimmt? Und hältst du es aus der Perspektive einer Nichtdeutschen für eine gute Idee, dass deutsche Mütter für relativ lange Zeit aussteigen – und wie sieht es eigentlich mit den Vätern aus?
„Der Mutterschutz für Frauen ist in den USA tatsächlich nur sehr kurz, drei Monate. Gleichzeitig sendet unsere Gesellschaft die dazu im Widerspruch stehende Botschaft, dass es am besten wäre, wenn Mütter zuhause bei ihren Kindern blieben. Dieser gesellschaftliche Druck, und die enorm hohen Kosten für Kinderbetreuung drängen viele Frauen zu der Entscheidung, eine ,stay-at-home-Mother‘ zu werden und ihre Karriere komplett aufzugeben. Für manche Frauen mit geringem oder mittlerem Einkommen macht es wirtschaftlich betrachtet gar keinen Sinn, arbeiten zu gehen, weil der gesamte Lohn für die Kinderbetreuung draufgehen würde. Kinder von Müttern mit geringem oder mittlerem Einkommen gehen selten in die Vorschule, und falls doch, dann nur für ein paar Stunden und nicht jeden Tag.“
Und das deutsche System hältst du dahingehend für besser?
„Ich finde das deutsche System, das beiden Elternteilen ermöglicht, nach der Geburt eines Kindes länger aus dem Job auszusteigen, auf jeden Fall besser. Mütter bekommen die Möglichkeit, im ersten Jahr mit ihrem Baby zu bonden, das ist die Zeit, in der viele Mütter das Gefühl haben, dass ihr Baby sie besonders braucht. Aber danach gibt es die Kita, von der meiner Ansicht nach Mütter und Kinder profitieren. Die Mütter haben wieder Zeit, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, während die Kinder neue Erfahrungen machen und daraus lernen.
Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass mehr Väter eine Auszeit nehmen würden – das wäre ein Gewinn für sie und ihre Kinder. In den USA gibt es in der Regel keine Möglichkeit für Väter, nach der Geburt auszusetzen. Mir ist bewusst, dass deutsche Väter viel kürzer aussetzen als Mütter – aber immerhin haben sie die Option, und das ist schonmal ein großer Schritt in Richtung Gleichberechtigung, und in Richtung einer Verbesserung für die Situation der Kinder. Wir scheinen manchmal zu vergessen, dass es für Kinder wunderbar ist, auch mit ihren Vätern mehr Zeit zu verbringen.“
Dein zweites Kind wurde in Berlin geboren – welche möglicherweise überraschenden Beobachtungen und Erfahrungen hast du während deiner Schwangerschaft und in der Zeit um die Geburt gemacht, verglichen mit deinem ersten Kind, das in den USA zur Welt kam?
„Ich war überrascht, dass ich während der Schwangerschaft eine Hebamme brauchte und keinen Arzt – in den USA sind eher die Ärzte in der Verantwortung. Und ich fand es toll, wieviel Kontrolle ich über alle mich betreffenden Informationen hatte. Ich habe meinen Mutterpass geliebt! In Amerika bleiben Patienteninformationen in der Regel beim Arzt, und es kann schwierig sein, Einsicht in die eigenen Akten zu bekommen. Ich fand es auch toll, nach der Geburt von meiner Hebamme zu Hause besucht zu werden. Auch das ist nicht üblich in den USA, und mir haben diese Besuche enorm geholfen. Generell hatte ich das Gefühl, mit mehr Respekt behandelt zu werden, und dass ich mehr Kontrolle über meine Behandlung und Versorgung hatte.“
Du beschreibst die ersten Jahre der Kinderbetreuung in Deutschland als liebevoller und stärker auf das Kind konzentriert als in den USA – inwiefern?
„Kindergarten und auch Vorschule* sind in den USA mittlerweile sehr durchstrukturiert und akademisch. Ein starker Fokus liegt darauf, den Kindern schon Lesen und Mathematik beizubringen. Das ist nicht an den Bedürfnissen von Kindern orientiert, denn die meisten Kinder in dem Alter habe daran einfach überhaupt kein Interesse. Unsere deutsche Kita und sogar die Grundschule meiner Tochter ließen die Kinder viel selbst entscheiden, was sie lernen wollten, und die Kinder hatten einfach viel mehr Zeit zu spielen! Amerikanische Grundschulen haben lange Tage – für gewöhnlich sechs oder mehr Unterrichtsstunden mit nur einer kurzen Pause und einem Mittagessen. Kinder haben nicht viel Zeit, Kinder zu sein.“
(*Anm. d. Red.: Kindergarten ist in Amerika eine einjährige Klasse für fünf- bis sechsjährige Kinder und befindet sich auf dem selben Gelände wie die Grundschule (elementary school), „pre-school“ ist eine eigene Einrichtung, für die normalerweise von den Eltern gezahlt werden muss und sich an drei- bis fünfjährige Kinder richtet.)
Irgendwas muss es doch geben, das deutsche Eltern tun, was dir überhaupt nicht gefallen – das musst du uns abschließend auch noch verraten!
„Zwei Dinge: Viele Expats beklagen sich, dass deutsche Kinder keine guten Manieren hätten. Das hat mich nicht weiter gekümmert, ich denke aber auch, dass es nicht allzu viel verlangt ist, ,bitte‘ und ,danke‘ zu sagen und generell Rücksicht auf andere Leute zu nehmen. Meinen eigenen Kindern sage ich immer, dass das zu ihrem eigenen Wohl ist – weil die Leute positiver auf sie reagieren, wenn sie höflich sind.
Ein viel größeres Problem ist aus meiner Sicht das deutsche Schulsystem nach der vierten oder sechsten Klasse: Das deutsche System der unterschiedlichen Schulzweige ist viel zu streng. Befindet sich das Kind einmal auf einem bestimmten Zweig, wird es schwierig, diesen nochmal zu verlassen. Manche Kinder sind aber Spätzünder – sie entdecken ihre Lust am Lernen erst später im Leben. In Amerika kannst du deinen Schul- oder Karriereweg jederzeit ändern. Das ist für den einzelnen Menschen besser – und schafft eine flexiblere Gesellschaft.“
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