Für manche Menschen kann Shoppen zur Hölle werden. Nämlich dann, wenn sich aus dem ständigem Drang zu kaufen eine Krankheit entwickelt, die ernste Folge für die Betroffenen hat.
Wenn dich der Kaufdrang nicht mehr loslässt
Es ist mal wieder einer dieser miesen Tage, an denen überhaupt nichts so läuft, wie man will: Regenschirm vergessen, Bus verpasst, Akku leer, zu spät im Büro, Ärger vom Chef, Streit mit Kollegen und Kolleginnen, Stress. Da hilft dann nur noch eins: Frustshoppen. Irgendwas kaufen, um die negativen Erlebnisse des Tages zu vergessen, zu verdrängen und sich stattdessen über das neue Paar Sneaker, die neue Handtasche oder das neue Kleidungsstück zu freuen. Was sich erstmal harmlos anhört, kann gefährlich werden und Menschen an den Abgrund, zur Verzweiflung oder sogar in die Psychiatrie bringen.
„Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich hatte Entzug, habe geschwitzt und gezittert. Ich habe sogar über Suizid nachgedacht und habe mir Züge aufgeschrieben, die nachts fahren, und dachte: Da könnte ich jetzt hin, und dann ginge es allen gut, wenn ich nicht mehr da bin“, erklärt mir Sieglinde
Zimmer-Fiene gefasst und ruhig. Sie lebt in Hannover und hatte viele Jahre mit der umgangssprachlich als Kaufsucht bezeichneten Krankheit zu kämpfen – und kämpft auch heute noch. „Die Sucht hast du ein Leben lang. Die ist ja nicht heilbar.“
Was ist Kaufsucht?
Kaufsucht ist ein ernstzunehmendes Krankheitsbild, das wissenschaftlich noch nicht komplett erschlossen ist. Ulrike Schneider-Schmid ist Psychologin und erklärt, dass sich die Forschung noch nicht sicher sei, ob das pathologische Kaufen, wie man die Krankheit in Fachkreisen nennt, den Süchten, den Zwängen oder den Impulskontrollstörungen zuzuordnen sei. Sie fasst das Krankheitsbild zusammen: „Pathologisches Kaufverhalten ist ein intensiver Kaufdrang und eine zwanghafte, gedankliche Beschäftigung mit dem Thema Kaufen, die in exzessivem Warenkonsum mündet.“ Oft dauert das Einkaufen länger als geplant und übersteigt die finanziellen Mittel. Außerdem, so Schneider-Schmid, entwickeln Patienten und Pantientinnen meist eine Toleranz: „Man braucht immer öfter dieses Kauferlebnis. Es kommt zu innerer Unruhe und Anspannung, die nur durch den Akt des Kaufens gelöst wird.“
Auslöser für die Krankheit können ganz unterschiedlich sein. Sofern eine Veranlagung vorhanden ist, kann eigentlich jedes Lebensereignis ein potenzieller Auslöser sein – ganz gleich ob ein positives, wie zum Beispiel eine Hochzeit, oder ein negatives wie etwa der Tod einer nahestehenden Person.
„Ich habe in der Zeit funktioniert, aber in mir ist etwas kaputtgegangen.”
Bei Sieglinde Zimmer-Fiene ging es damals sehr schleichend los: „Ich wollte meinem Vater schon in der Jugend immer alles recht machen, ich wollte Anerkennung.“ Als sie diese Anerkennung von ihm nicht bekam, suchte sie woanders – und zwar in den Warenhäusern, beim Kaufen: „Am Anfang ist das ein saugutes Gefühl. Weil ja alle was bekommen und sich freuen.“ Sie fing an, auf Markenkleidung zu achten, kleidete ihre Töchter und ihren Mann modern, schick und teuer ein. „So bin ich langsam in diesen Sog reingekommen“, gibt sie zu. Als ihr damaliger Mann dann an Krebs verstarb, fiel sie in ein tiefes, schwarzes Loch. Sie fing an, immer mehr und immer teurere Dinge zu kaufen. Heute weiß sie, dass sie damit einen perfekten Schein nach außen aufrechterhalten wollte: „Kleider machen Leute: Ich konnte eine heile Welt darstellen. Ich habe in der Zeit funktioniert, aber in mir ist etwas kaputtgegangen. Ich habe gemerkt, dass ich das gar nicht halten kann. Denn Mahnungen gab es da ja schon viele.“
Selbsthass, Schlaflosigkeit, Depressionen
Auch die psychologische Psychotherapeutin Johanna Wegscheider bestätigt:
„Die Verschuldung der betroffenen Personen ist ein entscheidender Faktor.“ Denn irgendwann gibt man weitaus mehr Geld aus, als man eigentlich zur Verfügung hat. Das weiß auch Sieglinde Zimmer-Fiene und gibt offen zu: „Zum Schluss bin ich auf Knien vor meinem Vater gerutscht und habe gesagt: ‚Bitte, bitte, Papa, hilf mir! Nimm einen Kredit auf für mich.’“ Dabei hatte sie irgendwann eigentlich alles, was man irgendwie gebrauchen könnte: „Ich habe alles gekauft: Ich habe Möbel gekauft, ich habe drei Blumensträuße gleichzeitig
gehabt, ich habe die Wohnung schön gehabt. Irgendwann hatte ich alles,
irgendwann war alles da.“ So schön und perfekt ihre Wohnung damals aussah, so
furchtbar und dunkel sah es in ihrem Inneren aus. „Der Suizid, der Selbsthass,
Schlaflosigkeit und Depression, das sind ganz gemeine Nebeneffekte, die jeder
Kaufsüchtige, der lange drin ist, kennt – auch wenn man da nicht gern drüber
spricht“, erklärt sie.
Damals habe sich eigentlich alles nur noch um das eine Thema gedreht: Kaufen. Denn das, erklärt Sieglinde Zimmer-Fiene, war das, was sie aufrechterhalten – und gleichzeitig auch zerstört habe: „Du bist eigentlich nur noch mit dem Kaufen beschäftigt, ob nachts, nach dem Aufwachen, auf der Arbeit. Du denkst nur noch an dieses Kaufen.“ Sogar in der Mittagspause kreisten ihre Gedanken darum, was sie als Nächstes kaufen könnte. Und dabei spielt es gar keine Rolle, was gekauft wird, sondern dass gekauft wird. Psychologin Ulrike Schneider-Schmid führt an: „Man ist nicht mehr fähig, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Es geht nur um den Akt des Kaufens. Was man kauft, ist unwichtig.“ Die Psychotherapeutin Johanna Wegscheider pflichtet ihr bei und erklärt, dass oft gar nicht unbedingt sinnvolle Sachen für sich selbst gekauft werden, sondern viele unnütze Dinge, die nicht für den Eigenbedarf gedacht sind. So kauft eine Frau vielleicht auch Männerschuhe oder Kinderkleidung, die sie gar nicht tragen kann.
Kaufsucht sieht man einem Menschen nicht an
Sieglinde Zimmer-Fiene erinnert sich, dass sie einige Einkäufe direkt beim
Nachhausekommen versteckte: hinter dem Schrank, im Bettkasten, auf dem Boden. Niemand sollte sehen, dass sie schon wieder etwas gekauft hatte. Natürlich machten sich auch bei ihr die finanziellen Folgen bemerkbar. Letztlich wurde sie verurteilt, weil sich die Schulden anhäuften, weil sie Dinge nicht in die
Geschäfte zurückbrachte – nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Scham, aus
Angst. Sie wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und stieß auf jeden
Menge Unverständnis. Denn die Kaufsucht, erklärt sie, die sieht man einem
Menschen ja schließlich nicht an.
Mittlerweile kann sie mit der Krankheit umgehen: Vor über 15 Jahren gründete sie eine Selbsthilfegruppe für Kaufsüchtige. Das erste Treffen war für sie eine Art Wendepunkt: „Durch die Gruppe konnte ich runterkommen. Ich konnte zum ersten Mal mit jemandem darüber sprechen, der verstanden hat, wie es mir ging, was in mir vorging. Es war gut zu wissen, dass ich nicht alleine bin, dass es da andere Menschen gibt, denen es geht wie mir.“ Seitdem kümmert sie sich um die Selbsthilfegruppe, berät am Telefon, klärt auf. Sie betont: „Es gibt diese
Sucht in allen Gesellschaftsschichten. Ich habe auch zwei Fußballer aus der
ersten Liga oder eine Politikerin, die mich anrufen. Kaufsucht ist überall.
Sein Gesicht zu zeigen und sich zu stellen, ist aber sehr, sehr schwierig.“
Das passiert im Gehirn
Doch was passiert eigentlich bei der Kaufsucht im Gehirn? Wie kann sich dieses
schädigende Verhalten so in den Alltag der Betroffenen einfressen? Psychologin
Schneider-Schmid erklärt, dass Gewöhnung dabei eine große Rolle spielt: „Wenn man immer denkt, ‚ja, mir geht’s grad nicht so gut, ich geh jetzt shoppen und dann kaufe ich mir ’ne Handtasche und dann geht’s mir besser‘, ist das Gehirn irgendwann so darauf geeicht, dass wir wirklich automatisiert immer das gleiche Verhalten zeigen und auch gar keine anderen Möglichkeiten mehr haben, um uns gut zu fühlen.“ Wir automatisieren dieses Verhalten, trainieren es uns quasi an. Andere Reize, die uns sonst ein gutes Gefühl geben, werden dann ausgeblendet.
Wenn Betroffene dann mal nicht ihrer Sucht nachgehen können, leiden sie oft an einer gewissen Form von Entzugserscheinung: Es kommt zu starkem Herzklopfen, Schwitzen, Zittern, Übelkeit, innerer Erregung oder Unwohlsein.
Schneider-Schmid erklärt: „Das Hirn ist dann auf Dopamin-Entzug, das heißt, es
fehlen Glückshormone.“ Man sei kaum noch fähig, sich auf andere Dinge zu
konzentrieren, verspüre oft auch eine große Scham und Schuld.
Die Psychotherapeutin Johanna Wegscheider spricht sogar von einem Teufelskreis: „Die Kaufsucht führt oft zum sozialen Rückzug. Der wiederum führt zu negativen Gefühlen, welche dann wieder mit Kaufen betäubt werden.“
Hilfe suchen
Aus ihrer Erfahrung heraus weiß Sieglinde Zimmer-Fiene: Der Austausch mit anderen Betroffenen ist wichtig. Das gilt auch für sie selbst: „Ich bin da nicht
die Leiterin in der Gruppe. Ich sitze da auch und erzähle über meine
Erlebnisse, über das, was mich beschäftigt. Früher war es so: Da konntest du
denken, denken, denken, aber du konntest es nirgendwo lassen.“
Psychologin Ulrike Schneider-Schmid empfiehlt außerdem noch eine Verhaltenstherapie. Dabei gehe es jedoch nicht darum, dass man nie wieder irgendwas kaufen soll, sondern darum, einen adäquaten Warenkonsum, ein normales Kaufverhalten wieder zu erlernen. Psychotherapeutin Wegscheider führt zudem an, dass Betroffene auch eine Schuldnerberatung aufsuchen sollten. Diese gibt es in vielen Städten kostenlos. „Unser Leitspruch in der Therapie ist immer: Externe Sicherheit vor der internen Sicherheit. Das heißt, wenn das Leben von außen durch Verschuldung bedroht ist, muss das erst mal geklärt werden, sonst ist der Kopf nicht frei für Veränderungen“, erklärt sie.
Sieglinde Zimmer-Fiene weiß, dass Rückfälle dazu gehören und dass sie ihr Leben lang nicht aus ihren Schulden rauskommen wird: „Ich zahle sie ab, so, wie ich sie abzahlen kann, aber man wird seine Gläubiger nicht los.“ Und dennoch hat sie ihren Weg gefunden: „Bei mir ist es so, wie es ist, gut, ich kann das händeln, aber ich weiß nicht, was morgen meine Gedanken bringen.“ Ihr Wissen, ihre Erfahrungen teilt sie gern mit anderen. Denn es ist ihr wichtig, dass mehr über diese Krankheit gesprochen wird, dass sie ernster genommen wird, dass sie mehr in den Fokus rückt. Nachdenklich, aber bestimmt sagt sie: „Ich finde, dass die Kaufsucht mit die schlimmste Sucht ist, die wir haben. Alkohol kannst du aus dem Weg gehen, du kannst zu vielen Sachen Nein sagen, aber einkaufen musst du halt jeden Tag.“ Sie ist eine von wenigen Personen, die sich öffentlich zu ihrer Kaufsucht bekennen und darüber sprechen.
Auch viele junge Menschen sind von der Kaufsucht betroffen
Laut Psychotherapeutin Wegscheider ist nicht ganz klar, wie viele Personen an der Kaufsucht, dem pathologischen Kaufen, tatsächlich leiden. Die Rede sei von einer unklaren Prävalenz zwischen ein bis sechs Prozent in den Industrieländern, vermutlich mit höherer Dunkelziffer.
Die Kaufsucht betrifft nicht nur erwachsene Menschen im Berufsleben: Auch junge Menschen sind betroffen. Psychologin Schneider-Schmid erklärt: „Werbung, Influencer, Instagram – junge Menschen sind noch ein bisschen mehr ausgeliefert als Erwachsene, weil die Impulskontrolle erst ab 21 Jahren ausgereift ist.“ Sie gibt zu verstehen: „Wir leben in einer Konsumgesellschaft, es ist eine große Gefahr, gerade für die Jugend. Ich bin dafür, dass wir mehr darüber sprechen.“
Die Kaufsucht beziehungsweise das pathologische Kaufen ist ein ernstzunehmendes Krankheitsbild. Betroffene und Angehörige von Betroffenen können sich an Selbsthilfegruppen oder (Verhaltens-)Therapeuten und Therapeutinnen wenden. Außerdem helfen kostenfreie Schuldnerberatungen dabei, die finanzielle Situation zu überblicken.
Der Originaltext von Ole Siebrecht ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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