Im Staffelfinale der 5. Staffel unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ spricht Dramatikerin und Autorin Sina Ahlers über Leihmutterschaft. Ihr Stück „Milch und Schuld“, inszeniert von Sarah Franke, ist seit Dezember 2024 am Staatstheater Kassel zu sehen und beleuchtet die ethischen, emotionalen und gesellschaftlichen Fragen rund um das Thema.
Kurz zur Handlung: Das Stück zeigt das Leben von Zartie. Die junge Frau arbeitet als Leihmutter für ein Paar, das keine Kinder bekommen kann. Für ihre Dienste soll sie finanziell entlohnt werden. In der Pränataldiagnostik stellt sich heraus, dass das Kind eine Behinderung hat. Zartie sieht sich mit existenziellen Ängsten konfrontiert. Mit Hilfe einer einbeinigen Taube, die ihr als Beraterin zur Seite steht, lässt sie ihren Gedanken freien Lauf: Was passiert, wenn die „Bestelleltern“ das Kind jetzt nicht mehr haben möchten? Soll sie das Kind selbst behalten – allein, ohne Geld und ohne Unterstützung? Im Internet begegnet Zartie Stimmen anderer Mütter und Leihmütter. Im zweiten Teil des Stücks trifft sie schließlich auf Holly, die Frau, die das Kind in Auftrag gegeben hat. Schnell wird klar: Auch sie fühlt sich ungenügend und fehlerhaft.
Sina Ahlers „Milch und Schuld“ wirft grundlegende Fragen auf: Gibt es die „natürliche“, bedingungslose Mutterliebe oder einen „Mutterinstinkt“? Wo stehen wir in Bezug auf konservative Rollenbilder? Warum sehnen wir uns überhaupt nach einem leiblichen Kind? Wie gehen wir mit einem Kind um, das nicht der „Norm“ entspricht und als „ungenügend“ betrachtet wird? Was ist die vermeintlich moralisch richtige Seite? Und kann Leihmutterschaft wirklich ein rein körperliches Geschäft sein?
Neben den vielen Fragen, die das Stück aufmacht, spricht Sina in der Podcast-Folge beispielsweise auch über persönliche Anstöße, die sie zu dem Text inspiriert haben und wie ihr Stück am Staatstheater Kassel inszeniert wurde. Reinhören lohnt sich!
Die ganze Podcastfolge hörst du über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Sina Ahlers liest du hier.
Liebe Sina, lass uns zum Einstieg erst mal über Leihmutterschaft im rechtlichen Kontext sprechen. Wie ist die aktuelle Lage in Deutschland?
„In Deutschland ist Leihmutterschaft verboten. Das regelt das Embryonenschutzgesetz, das auch die Eizellspende untersagt. Es legt außerdem fest, dass bei einer künstlichen Befruchtung maximal drei Embryonen eingesetzt werden dürfen.
Diese Regelung soll verhindern, dass zu viele Embryonen produziert werden, und dient dem Schutz der Mutter. Denn bei der Einsetzung von drei Embryonen könnte es zu einer Drillingsschwangerschaft kommen, die erhebliche gesundheitliche Risiken mit sich bringt – alles darüber hinaus wäre lebensgefährlich.“
Es gibt einen Unterschied zwischen kommerzieller und altruistischer Leihmutterschaft. Kannst du das näher erläutern?
„Bei der kommerziellen Leihmutterschaft wird die Leihmutter für ihre Arbeit mit einer höheren Geldsumme entlohnt, die je nach Land stark variieren kann.
Bei altruistischer Leihmutterschaft wird hingegen keine klassische Entlohnung gezahlt, sondern lediglich eine Aufwandsentschädigung. Dabei geht es vor allem darum, die Kosten während der Schwangerschaft zu decken, um die Leihmutter finanziell zu unterstützen.“
Selbst wenn kein Geld fließt, bleibt Leihmutterschaft in Deutschland verboten. Wie sieht es international aus? Welche Unterschiede sind dir aufgefallen?
„In den USA hängt die Gesetzeslage vom Bundesstaat ab: In Kalifornien ist Leihmutterschaft beispielsweise erlaubt, in Michigan hingegen verboten. In Kanada ist ausschließlich altruistische Leihmutterschaft legal.
In der Ukraine ist jegliche Form der Leihmutterschaft zwar zugelassen, allerdings nur für verheiratete, heterosexuelle Paare. In Indien ist Leihmutterschaft seit 2015 nur noch stark eingeschränkt möglich.“
Viele kritisieren, dass wirtschaftlich benachteiligte Frauen aus Ländern wie der Ukraine durch finanzielle Anreize von wohlhabenden Eltern aus westlichen Ländern zur Leihmutterschaft gedrängt werden. Welche weiteren Kritikpunkte thematisierst du in deinem Stück?
„Ein zentraler Kritikpunkt ist die oft rein zweckgebundene Beziehung zwischen Leihmutter und Bestelleltern, die meist unmittelbar nach der Geburt endet. Das kann sowohl für die Leihmutter als auch für das Kind emotional belastend sein.
Manche Kinder möchten später auch Kontakt zu ihrer genetischen Mutter aufnehmen. Das scheitert jedoch häufig an der Anonymität der Eizellspende. In vielen Ländern fehlt es an Transparenz, wodurch oft nicht herausgefunden werden kann, wer die „dritte” Mutter ist.
Ich finde das Thema Leihmutterschaft wahrscheinlich so spannend, weil es dazu anregt, über alternative Familienstrukturen nachzudenken. Es geht dabei nicht nur um die klassische Kernfamilie oder das genetische Weitervererben, sondern auch um die Möglichkeit, größere Modelle zu entwickeln, in denen mehrere Menschen zusammenkommen und Verantwortung für ein Kind übernehmen.“
Welche Menschen entscheiden sich überhaupt dafür, eine Leihmutter zu beauftragen?
„Das sind natürlich vor allem Menschen, die sich die hohen Kosten einer Leihmutterschaft leisten können. Abgesehen davon handelt es sich oft um heterosexuelle Paare, die selbst keine Kinder bekommen können. Entweder ist einer von beiden unfruchtbar oder es gibt einen genetischen Defekt, den man nicht weitervererben möchte.
Auch homosexuelle Paare greifen häufig auf Leihmutterschaft zurück, insbesondere wenn Adoption für sie keine Option ist oder aufgrund finanzieller Hürden scheitert. Wenn jemand zum Beispiel kein regelmäßiges, festes Einkommen hat – etwa wenn man Künstler*in ist – kann es extrem schwierig sein, ein Kind zu adoptieren.“
In Hollywood wird Leihmutterschaft von einigen genutzt, um den eigenen Körper zu schonen. Ist sowas deiner Meinung nach ein valider Grund?
„Nein, ich finde das ganz schön hart. Wenn man aufgrund von irgendwelchen Körpernormen oder Körperidealen den eigenen Körper schonen möchte und dadurch einen anderen Körper belastet, finde ich das wirklich problematisch.“
In deinem Stück „Milch und Schuld“ hast du Zitate von Leihmüttern integriert, die du im Internet gefunden hast. Welche Perspektiven haben dich besonders bewegt?
„Mich haben sehr viele Stimmen bewegt – aber eine Erzählung ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Eine Leihmutter berichtete davon, dass sie vor der Geburt eine sehr gute Verbindung zu den Bestelleltern hatte und alles gut verlaufen war.
Doch während der Geburt musste ein Not-Kaiserschnitt gemacht werden, und sie fiel in Ohnmacht. Die Bestelleltern waren direkt nach der Entbindung mit dem Kind verschwunden und weder die Leihmutter noch ihr Ehemann, bekamen das Kind jemals zu Gesicht.
Die Bestelleltern brachen jeglichen Kontakt ab. Trotz des guten Kontakts vor der Geburt erkundigten sie sich weder, wie es der Leihmutter ging, noch ob sie überhaupt noch lebte. Das fand ich ganz schön heftig.“
Kann Leihmutterschaft überhaupt ein rein körperliches Geschäft sein? Oder spielen immer auch Emotionen und Nähe zum Kind eine Rolle?
„Das ist eine Frage, die sich auch Zartie im Stück immer wieder stellt. Ist es möglich, dass Leihmutterschaft nur ein reines Geschäft ist, von dem man sich vollkommen abkapseln kann? – ich denke, nein. Und auch alle Stimmen, die ich gelesen habe, bestätigen eigentlich, dass man sich nicht einfach von seinem eigenen Körper trennen kann.
Es mag sein, dass man noch keine emotionale Bindung zu dem Kind aufgebaut hat, wenn es geboren wird – man hat es ja auch noch nie gesehen, sondern nur gespürt. Aber es gibt einfach eine starke körperliche Verbindung, die schon besteht. Und deswegen kann es nicht nur ein Geschäft sein.“
Spielt hier der „Mutterinstinkt“ eine Rolle?
„Ich glaube tatsächlich nicht, dass es so etwas wie einen „Mutterinstinkt“ gibt. Eine Frau kann sich meiner Meinung nach nicht automatisch besser um ein Kind kümmern, als ein Mann oder irgendeine andere Person. Warum Frauen in bestimmten Situationen vielleicht schneller reagieren, hat einfach viel mit Sozialisierung zu tun.
Was ich aber glaube, ist, dass es ein enormer psychologischer Prozess ist, sich nach der Geburt von dem Kind zu lösen, das man neun Monate lang in sich getragen hat. Man kann sich darauf vorbereiten – was auch oft gemacht wird – aber es bleibt ein langfristiger Prozess, der auch nach der Geburt weitergeht.“
Im Laufe deines Stücks kommt heraus, dass das Kind eine Behinderung hat. Auch dieser Moment zeigt deutlich, dass eine Leihmutterschaft viele emotionale und psychologische Dimensionen haben kann. Wie geht Leihmutter Zartie in dem Stück mit dieser Botschaft um?
„Sie fragt sich vor allem, ob sie selbst in irgendeiner Art und Weise Schuld daran trägt. Sie sucht nach möglichen Ursachen: Hat sie sich falsch ernährt, sich unpassend bewegt oder etwas anderes falsch gemacht? Diese Schuldfrage lässt sie nicht los und beschäftigt sie wirklich sehr.“
In Ländern wie der Ukraine legen manche Agenturen tatsächlich vertraglich fest, dass die Leihmutter ein gesundes Kind zur Welt bringen muss, richtig?
„Genau. Oft beinhaltet der Vertrag sogar eine Klausel, die besagt, dass die Leihmutter abtreiben muss, falls das Kind vorab mit einer Behinderung diagnostiziert wird.
Manchmal wird dieser Punkt aber auch gar nicht geregelt, was wirklich problematisch sein kann. In solchen Fällen könnte die Leihmutter, die vielleicht selbst nie Mutter werden wollte oder es sich finanziell nicht leisten kann, plötzlich mit einem Kind zurückgelassen werden – nur, weil es die Bestelleltern aufgrund der Behinderung nicht mehr annehmen wollen.“
Dieses Aussortieren von Kindern, die nicht in die „Norm“ passen, scheint bei Leihmutterschaft generell ein großes Problem zu sein?!
„Wenn der Körper so kommerzialisiert wird, läuft es auf Wirtschaftlichkeit hinaus: Es werden zu viele Embryonen produziert, die Frau wird möglicherweise mit Drillingen schwanger – und dann wird nur das vermeintlich „beste“ Kind ausgewählt.
Das ist ein perfektes Beispiel dafür, wie die ekligen Seiten des Kapitalismus in diesen Prozess einfließen. Das finde ich wirklich extrem schwierig und problematisch an der ganzen Sache.“
Wie reagiert denn die Kundin in deinem Stück auf die Nachricht, dass das Kind eine Behinderung hat?
„Sie reagiert tatsächlich erleichtert. Sie hatte nämlich die Befürchtung, die Leihmutter würde das Kind selbst behalten wollen. Sie geht davon aus, dass es ihr aufgrund der Behinderung nun leichter fallen würde, es abzugeben.
Diese Annahme löst bei der Leihmutter verständlicherweise große Verärgerung aus, da die Behinderung für sie keinen Unterschied macht. Ihr fällt es in jedem Fall schwer.
Die Kundin ist von verschiedenen Ängsten getrieben und entwickelt Strategien, um die Leihmutter davon zu überzeugen, das Kind abzugeben. Die Behinderung spielt dabei also keine negative Rolle.“
Die Verzweiflung der Kundin spiegelt den gesellschaftlichen Druck wider, den Frauen in der Familienplanung erleben. Woher kommt dieser Zwang, unbedingt ein Kind haben zu müssen?
„Ich glaube, dass der weibliche Körper gesellschaftlich sehr stark mit Mutterschaft verknüpft wird und es kaum weibliche Vorbilder gibt, die bewusst keine Kinder wollen und stattdessen andere Lebenswege wählen. Das macht den gesellschaftlichen Druck, mit dem man sich auseinandersetzen muss, umso größer.“
Du willst mehr über das Thema erfahren?
Noch mehr Einblicke in das Thema und die spannende Zusammenarbeit mit dem Staatstheater Kassel gibt uns Sina Ahlers in der 52. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Reinhören lohnt sich!
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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!
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