Foto: Weltkino 2016

„Unser Haus hatte sich in eine Hausfrauenfabrik verwandelt, aus der wir nicht rauskonnten”

Heute startet „Mustang”, der Debütfilm der jungen türkischen Filmemacherin Deniz Gamze Ergüven in den deutschen Kinos. Wir haben uns den Film schon vorab für euch angesehen und finden: dieser Film hätte den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ absolut verdient!

 

„Von einem Tag auf den anderen wurde plötzlich alles scheiße”

„Mustang“ erzählt die Geschichte von fünf Schwestern, die in einem kleinen Dorf in der Nähe von Trapzon am Schwarzen Meer bei ihrem Onkel und ihrer Großmutter aufwachsen. Die Eltern sind vor einigen Jahren gestorben. Die Mädchen bilden seither eine eingeschworene Gruppe und ziehen mit  ihrer Schönheit und ihrer Impulsivität die Blicke der tratschenden Dorfbewohner auf sich.

Wie Ninjas rennen die fünf kreischend, mit den Krawatten ihrer Schuluniformen um den Kopf gewickelt, an den Strand und springen in voller Montur bekleidet ins Wasser. Eine Nachbarin beobachtet die Wasserschlacht, bei der auch einige Jungen dabei sind. Als die Schwestern lachend und zerzaust zu Hause ankommen, setzt es Ohrfeigen. Schluss mit lustig.

Kommentiert werden die Ereignisse im Film von der jüngsten der Schwestern, Lale, die einfach nicht verstehen kann, warum sie und ihre großen Schwestern nicht ein bisschen Spaß haben dürfen – schließlich haben sie doch niemandem etwas getan. Die Nachbarin behauptet, sie habe gesehen, wie sie sich im Wasser auf den Schultern junger Männer in aller Öffentlichkeit selbst befriedigt hätten. Wütend rennen die Mädchen aus dem Zimmer und setzen ihre Küchenstühle in Brand.

„Die Stühle haben auch unsere Hintern berührt. Das ist auch ekelig!”

So leicht lassen sich Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay nicht unterkriegen. Die Frauen im Dorf können ja ruhig mit ihren Kopftüchern durchs Dorf schleichen und ihren Männern den Tee zubereiten, aber sie wollen auf keinen Fall so werden wie sie. Mit ihren langen offenen Haaren erinnern die Mädchen, wie der Titel bereits andeutet, an eine Gruppe wilder Pferde, Mustangs. Der Onkel der Mädchen beschließt, dem ausgelassenen Treiben jedoch ein Ende zu bereiten. Um das Gerede der Nachbarn zu beenden und die Familienehre zu wahren, bändigt er die Mädchen, indem er sie während der Sommerferien im Haus einschließt.

„Unser Haus hatte sich in eine Hausfrauenfabrik verwandelt, aus der wir nicht rauskonnten”

So beschreibt es Lale frustriert. Sie will nicht kochen lernen und die kackbraunen Gewänder der Großmutter anziehen, sie will Jeans anziehen und zum Fußballspiel gehen. Anfangs scheint alles noch wie ein langweiliges neues Spiel. Aber dann heißt es plötzlich, dass Selma und Sonay verheiratet werden sollen.

„Da waren es nur noch drei”

Von da an geht es Schlag auf Schlag: Ein Mädchen nach dem anderen wird plötzlich wildfremden Männern aus dem Dorf versprochen. Schleier drüber und auf Wiedersehen. Zeitgleich werden die übrigen Mädchen, die noch beim Onkel wohnen, durch immer höher wachsende Gitterzäune von der Außenwelt abgeschottet. In der Art, wie die Mädchen betrübt in ihren Nachthemden vorm sonnendurchfluteten Fenster lümmeln und nur noch einander haben, um ein wenig Spaß am Leben zu erkennen, erinnern sie nur zu deutlich an die Bilder aus Sophia Coppolas „Virgin Suicides. Auch hier gab es für die Schwestern kein Zurück in die Freiheit.

Doch wie gut, dass Lale, im Gegensatz zu ihren Schwestern, noch keine Brüste hat. So kann sie sich als einzige noch durch den Zaun zwängen und in die endlos erscheinende Landschaft außerhalb des Hauses verschwinden. Eigentlich wollte sie immer wie ihre großen Schwestern sein, stolzierte gackernd mit ausgepolstertem BH durchs Haus – doch als die Jüngste sieht, was um sie herum passiert, hat sie es gar nicht mehr eilig, eine Frau zu werden.

Quelle: Weltkino 2016

In einem Interview sagte die Regisseurin Gamze Ergüven, dass sie mit ihrem Film zeigen wollte, wie es heutzutage ist, ein Mädchen in der Türkei zu sein. Denn das sind sie schließlich alle noch: Mädchen. Der Übergang zum Leben als Hausfrau und Ehefrau beginnt in der Türkei bei vielen Mädchen allerdings bereits dann, wenn sie gerade einmal in die Pubertät gekommen sind.

Ergüven hat in ihrer Kindheit ähnliches erlebt wie die fünf Schwestern in ihrem Film. Sie selbst lebt heute in Frankreich. Durch den Abstand, den sie zu ihrer türkischen Heimat hat, konnte sie die Vorgänge und den Umgang mit Traditionen dort von außen betrachten und gleichzeitig nachempfinden, wie es sich für die Mädchen anfühlt, in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem die Menschen, wie in viel zu engen Korsagen, in ihren Geschlechterrollen feststecken.

Quelle: youtube

Mehr bei EDITION F

Türkei: Gebärprämien für Mütter. Weiterlesen

Oscars: Frag sie was anderes! Weiterlesen

Je t´aime…moin non plus – Tut sich etwas für Frauen im Filmgeschäft? Weiterlesen  

Anzeige