Credit: Mehran Djojan

Psychotherapie in Deutschland: Das läuft schief – Psychologe Umut Özdemir im Interview

In der 47. Episode unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ ist Psychologe und Psychotherapeut Umut Özdemir zu Gast. Mit ihm beleuchtet Host Tino Amaral die größten Missstände in der Psychotherapie.

Umut Özdemir und Tino Amaral sprechen unter anderem über folgende Themen: Warum müssen Kassenpatient*innen in Deutschland durchschnittlich ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten – und welche Möglichkeiten gibt es, um schneller an Hilfe zu kommen? Warum gibt es so wenig Diversität unter Psychotherapeut*innen – und was bedeutet das für Patient*innen? Reinhören lohnt sich!

Lieber Umut, warum müssen Kassenpatient*innen in Deutschland durchschnittlich ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten?

„Da müssen wir unterscheiden. Es stimmt, dass Erwachsene durchschnittlich ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten – bei Kindern und Jugendlichen sieht es aber oft noch schlimmer aus. Ich habe eine Kollegin, die aktuell eine Warteliste von anderthalb Jahren hat. Das liegt jedoch nicht an zu wenigen Psychotherapeut*innen, sondern an der begrenzten Anzahl an Kassensitzen.

Als gesetzlich versicherte Person hat man es schwerer, einen Therapieplatz zu finden als Privatpatient*innen oder Selbstzahlende. Doch auch in meiner Privatpraxis beträgt die Wartezeit, je nach verfügbarer Uhrzeit, drei bis sechs Monate.“

Was sind Kassensitze genau? Und wie kommt die Anzahl überhaupt zustande?

„Als Psychotherapeut*innen – oder auch Ärzt*innen anderer Fachrichtungen, also HNO, Gynäkologie, Urologie usw. – dürfen wir nicht einfach eine Praxis aufmachen und gesetzlich Versicherte behandeln. Es gibt Berechnungen, die bestimmen, wie viele hausärztliche bzw. psychotherapeutische Praxen es in einem bestimmten Umkreis geben darf. Und wenn diese Anzahl erfüllt ist, darf man keine Kassenpraxis mehr aufmachen. Also wir suchen uns das teilweise gar nicht selbst aus, ob wir eine Privatpraxis führen oder nicht, denn eigentlich bleibt uns gar nichts anderes übrig.“

Wo hat die Anzahl an psychotherapeutischen Kassensitzen ihren Ursprung?

„1999 wurde das Psychotherapeutengesetz eingeführt. Hier wird unter anderem geregelt, ab wann man sich überhaupt als Psychotherapeut*in betiteln darf. Es wurde aber auch geschaut, wie viele Psychotherapeut*innen es zu dem damaligen Zeitpunkt gab, und festgehalten, dass diese Anzahl für die damalige Bevölkerung ausreichend gewesen sei.

Bis heute basiert die Berechnung der Anzahl der Kassensitze auf den damaligen Festlegungen und der aktuellen Einwohnerzahl im Vergleich zu früher. Es wird nicht berücksichtigt, wie viele tatsächliche Diagnosen oder Menschen mit Behandlungsbedarf es gibt. Das ist völlig absurd.“

Und die Situation verschärft sich immer weiter. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist die Zahl der psychischen Erkrankungen deutlich gestiegen, oder nicht?

„Die Zahlen tauchen immer wieder auf. Und ich muss sagen: Wirklich optimistisch blicke ich nicht in die Zukunft. 2018 – vor der Pandemie – wurde festgestellt, dass mindestens 2.400 Kassensitze in ganz Deutschland fehlen. Daraufhin hat der gemeinsame Ausschuss der gesetzlichen Krankenversicherungen 800 neue eingeführt – also 1.600 wurden einfach ignoriert. Es scheint, als würde vieles schlicht übersehen.“

Bevor wir darüber sprechen, wie man schneller an einen Therapieplatz kommt würde ich gerne erst einmal darauf eingehen, für wen Psychotherapie überhaupt Sinn macht. Wann merke ich denn, dass ich das wirklich brauche?

„Also erstmal vorab: Nicht alle Menschen brauchen Psychotherapie. Psychotherapie macht nur Sinn, wenn man eine Diagnose hat. Da man das als Laienperson natürlich nicht immer einschätzen kann, gibt es für gesetzlich Versicherte die sogenannte psychotherapeutische Sprechstunde. Da wird im schnellsten Fall innerhalb von 50 Minuten grob geguckt, ob eine Diagnose vorliegen könnte und ob man irgendwo vorstellig werden sollte. Diesen Termin kriegt man recht schnell – aber auch nur, weil Kolleg*innen den anbieten müssen. Leider ist es sehr oft so, dass im Anschluss kein Platz angeboten werden kann.

Ansonsten ist es recht naheliegend, dass ich mich um meine mentale Gesundheit kümmern sollte, wenn ich feststelle: Ich grüble immer wieder, ich leide, ich kann gewisse Dinge nicht mehr machen – oder ich habe den Eindruck, da ist etwas anders als vorher und gibt mir das Gefühl, ich müsse mich immer so entscheiden – obwohl ich darunter leide oder mich das beeinträchtigt.“

Hast du irgendwelche Kniffe im Kopf, wie man die Suche beschleunigen kann?

„Das ist ein bisschen schwierig. Die Wartezeit ist nun mal geringer, wenn ich es mir leisten kann, das aus eigener Tasche zu bezahlen. Das muss man leider de facto so sagen, so traurig das ist.

E-Mail-Anfragen könnten eine Idee sein – wobei man hier auch sagen muss, dass die offizielle Ansage ist, dass mit Patient*innen nicht per E-Mail kommuniziert werden darf, da es zu unsicher ist.

Ganz viele haben telefonische Sprechzeiten. Die mit Kassensitz müssen die sogar anbieten. Da muss man sich halt einen Wecker stellen und dann anrufen. Wenn es gar nicht anders geht, kann man auch Freund*innen oder Familienmitglieder fragen, ob sie einen unterstützen würden.“

Ich habe gelesen, dass auch Ausbildungsinstitute für Psychotherapie Plätze anbieten. Würdest du so etwas empfehlen?

„Absolut. Das sind Psycholog*innen, die bereits einen Masterabschluss in Psychologie haben. Sie haben Praktika in Psychiatrien und ähnlichen Einrichtungen absolviert, Theorieveranstaltungen besucht und behandeln nun im Rahmen ihrer Ausbildung zum Psychotherapeuten bzw. zur Psychotherapeutin.

Da in den Ausbildungsinstituten oft viele Auszubildende gleichzeitig arbeiten, ist die Chance, dort einen Platz zu bekommen, deutlich höher als bei jemandem wie mir, der allein in einer Praxis arbeitet.

Auch gut: In diesen Ausbildungsinstituten müssen die Psycholog*innen nach durchschnittlich vier Sitzungen, die sie mit Patient*innen hatten, in eine sogenannte Supervision gehen. Hier wird jeder Fall noch einmal intensiv mit einer erfahrenen Psychotherapeut*in durchgegangen und das weitere Vorgehen besprochen. Also eigentlich kümmern sich hier zwei Menschen um einen einzelnen Patienten oder eine einzelne Patientin. Das ist super praktisch.

Und was man auch nicht vergessen darf: Der Vorteil bei jungen Psycholog*innen ist, dass sie ihr Studium erst vor kurzem abgeschlossen haben und daher auch oft über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse verfügen. Im Gegensatz dazu könnte jemand, der seit 20 Jahren allein in der Praxis arbeitet, unter Umständen immer noch Methoden anwenden, die vor 20 Jahren aktuell waren.“

Was macht denn generell einen guten Therapeuten oder eine gute Therapeutin für dich aus?

„Gute Therapeut*innen arbeiten wissenschaftsbasiert. Sie behandeln nicht nach Bauchgefühl oder eigenen Weltanschauungen. Sie müssen nicht nachempfinden oder selbst erleben, wie es Patient*innen geht, sondern viele gezielte Fragen stellen.

Gute Psychotherapt*innen sind transparent in ihrem Vorgehen. Sie scheuen nicht davor zurück, auch mal Fragen zu beantworten. Letztlich ist aber vor allem eins entscheidend: Die Chemie zwischen Therapeut*in und Patient*in muss stimmen.“

Auf Instagram hast du auch darauf aufmerksam gemacht, welchen Einfluss fehlende Diversität unter Psychotherapeut*innen haben kann. Kannst du darauf noch mal eingehen?

„Vorab muss man sagen: Natürlich leben wir in Deutschland. Natürlich sind die meisten weiß, die meisten sind deutsch und – das darf man auch nicht vergessen – die meisten, die Psychologie studieren, sind weiblich.

Das Problem ist, dass rassismuskritische Themen oder queer-positive Inhalte ganz oft keinen Raum im Studium finden und auch nicht doziert werden in der Psychotherapie-Ausbildung. Dadurch werden sich manche angehenden Psychotherapeut*innen ihrer eigenen Einstellungen oder Vorurteile, die schlimmstenfalls bestehen, oft gar nicht bewusst. Es kann also schnell passieren, dass dann im Therapieraum Diskriminierung repliziert wird.

Da muss auch keine böse Absicht dahinter stecken. Es erschwert aber natürlich für Menschen, die einer Minderheit angehören, entweder sich Hilfe zu suchen, weil sie davon ausgehen: ,Das wird mir wieder passieren.’ Oder aber sie werden nicht ernst genommen, in dem, was sie berichten.

Oder im schlimmsten Falle – und diese Nachrichten kriege ich leider: ,Naja, ich bin gesetzlich versichert, ich finde keinen anderen Platz. Also: Um meine Depression loszuwerden, gehe ich halt jede Woche dahin, aber muss mir auch fast jede Woche irgendwelche rassistischen Sachen anhören von meiner Therapeut*in.’ Und sowas geht natürlich gar nicht – auf gar keinen Fall.“

Wie erklärst du dir die fehlende Diversität unter Psychotherapeut*innen?

„Ich glaube, dass es dafür richtig viele Gründe gibt. Und ich glaube auch, dass wir die wahrscheinlich gar nicht alle überblicken – oder noch nicht wissen.

Eine zentrale Frage ist: Wer macht überhaupt Abitur? Das sind oft Kinder aus Akademikerfamilien, also Kinder, die aus Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status kommen. Migrantische Kinder sind in dieser Gruppe eher unterrepräsentiert. Die Herkunft bestimmt in Deutschland immer noch die Bildungschancen.

Außerdem: Wer studiert überhaupt welche Fächer? Das dürfen wir auch nicht vergessen. Einige migrantische Familien betrachten Psychologie, ähnlich wie künstlerische Berufe, vielleicht als weniger erstrebenswert.

Hinzu kommt, dass die Ausbildung zur Psychotherapeut*in im Schnitt rund 25.000 Euro kostet. In dieser Zeit verdient man kaum Geld, sodass man erst viel später finanziell abgesichert ist. Das muss man sich erst einmal leisten können. Das ist eher möglich, wenn man Akademiker-Eltern hat.

Möglicherweise fehlt auch ein Vorbild aus der eigenen migrantischen Community, das diesen Beruf ausübt. Das kann dann dazu führen, dass man den Beruf als etwas betrachtet, das vor allem von einer bestimmten Gruppe von Menschen ausgeübt wird. Es spielen also viele Faktoren eine Rolle.“

Du willst noch mehr über das Thema erfahren?

Noch mehr Impulse gibt uns Umut Özdemir in der 47. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Zusammen mit Host Tino Amaral beantwortet er unter anderem die Frage, wie es sein kann, dass Diagnosen von einigen Psychotherapeut*innen verschwiegen werden und wie gravierend Fehldiagnosen wirklich sind.

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Die beiden sprechen außerdem darüber, wie man die passende Therapieform für sich findet und inwiefern die Digitalisierung und neue Technologien wie KI das Feld der Psychotherapie in Zukunft verändern könnten. Die Folge findet ihr über diesem Absatz, mit einem Klick in den Header und überall dort, wo es Podcasts gibt.

Neue Folgen von „Echt & Unzensiert“ gibt es alle zwei Wochen immer freitags auf editionf.com oder bei Spotify, Apple Podcasts & Co!

Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt wichtige Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!

Umut Özdemir auf dem FEMALE FUTURE FORCE DAY

Du möchtest Umut Özdemir live erleben? Dann komm zum FEMALE FUTURE FORCE DAY am 12. Oktober 2024 im bcc Berlin und lass dich von Umut und vielen anderen großartigen Speaker*innen inspirieren. Sichere dir dein Ticket für den FFF DAY 2024 hier.

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