Foto: Kirsten Becken

Schizophrenie – wie geht unsere Gesellschaft mit außergewöhnlichen Menschen um?

Die Mutter der Fotografin Kirsten Becken ist an Schizophrenie erkrankt. Dass die Krankheit wenig erforscht und kaum bekannt ist, hat sie dazu bewegt, ein Kunstprojekt darüber zu initiieren.

Außergewöhnlich oder krank?

„Das ist schizophren“ ist eine Phrase, die umgangssprachlich häufig gebraucht wird und letztlich wenig mit dem tatsächlichen Krankheitsbild zu hat, das viel weniger bekannt ist als andere psychische Krankheitsbilder, wie etwa Depressionen. Das liegt auch daran, dass diejenigen, die an Schizophrenie erkrankt sind, oder ihre Angehörigen selten öffentlich darüber sprechen – das Stigma der Krankheit ist hoch.

Die Fotografin Kirsten Becken möchte ändern, dass über Schizophrenie in der Familie geschwiegen wird. Denn sie hat eine Mutter, die als junge Frau daran erkrankte, so dass Kirsten sich schon lange persönlich mit der Diagnose auseinandergesetzt hat. Sie will mehr Öffentlichkeit dafür, sie sagt: „Bei einer Schizophrenie ist es wichtig, sie früh richtig zu erkennen und im besten Fall im Umfeld, also in der Familie und Partnerschaft, aufzufangen. Es ist ratsam, offen mit der Diagnose umzugehen, denn ohne Behandlung wird es schwieriger, den Symptomen die Stirn zu bieten. Beginn und Verlauf einer Schizophrenie sind sehr individuell und vielfältig. Deshalb ist es wichtig aufzuklären und über die Krankheit zu sprechen.“

Als Kreative wählt sie jedoch einen anderen Zugang als ein Sachbuch oder eine Dokumentation. Gemeinsam mit ihrer Mutter Angela Becken hat die Münchnerin ein Kunstprojekt initiiert, in das die zwei Frauen andere Betroffene und Künstler einbinden wollen: „Seeing Her Ghosts“.

Wir haben mit Kirsten darüber gesprochen, wie die Schizophrenie ihre Mutter-Tochter-Beziehung geprägt hat und was sie bewegt hat, das Krankheitsbild künstlerisch zu bearbeiten.

Deine Mutter leidet, seitdem sie 21 ist, an Schizophrenie. Wie würdest du das in deinen eigenen Worten beschreiben?

„Ich würde Schizophrenie als erhöhte Sensibilität für die Welt beschreiben. Sie ist komplex und hat eine positive und eine negative Symptomatik. Die positive umfasst die psychotischen Schübe und schlaflosen Zeiten innerhalb der Manie. Als negative Symptome bezeichnet man beispielsweise Gefühlsverflachung, Antriebsschwäche. Ausgangspunkt der medizinischen Definition ist ein gestörter Stoffwechsel im Gehirn, der ein Ungleichgewicht erzeugt und die Informationsverarbeitung stört. Die Entstehung der Krankheit ist noch nicht erforscht, ebenso besteht noch Entwicklungspotential in der Behandlung. Bisher sind Neuroleptika im Einsatz, die sehr starke Nebenwirkungen haben, die sogar den Symptomen der Krankheit nahekommen. Diese Mittel unterdrücken die Reizübertragungsprozesse auf einer breiten Ebene und schalten viele weitere Prozesse, die vielleicht gar nichts mit dem Krankheitsbild zu tun haben, gleich mit ab. Zum Glück rückt Psychotherapie mehr und mehr auf den Behandlungsplan, das war lange Zeit nicht der Fall.“

Wie ist deine individuelle Wahrnehmung beim Krankheitsbild deiner Mutter?

„Ich bin auf Kriegsfuß mit dieser Krankheit, weil sie so zerstörerisch und komplex ist. Meine Mutter ist unfassbar stark und trotz dieser unglaublichen Belastung ein witziger, herzlicher, warmherziger Mensch. Es gibt ein Motiv in den Aquarellen meiner Mutter, das den Titel ,Die ewige Träne‘ trägt und ein Porträt von mir darstellt. Dieses Aquarell beantwortet deine Frage sehr gut. Ich bin fasziniert, wie reflektiert meine Eltern mit der Krankheit umgehen, trotz aller Gefühle. Es ist ganz schwer zu beschreiben, wenn man nicht viel darüber weiß. Aus diesem Grund machen wir unser Buch ,Seeing Her Ghosts‘ – damit über die Krankheit reflektiert wird, ohne sie pathologisch zu kategorisieren.“

Aquarell von Angela Becken „Die ewige Träne“.

Korrespondiert das für dich mit dem Stigma, das die Diagnose Schizophrenie in der Öffentlichkeit hat?

„Erstaunlich ist doch, wie viele Menschen selbst Betroffene in ihrem Umfeld haben und nicht darüber sprechen. Das ist sehr traurig und hilft niemandem – weder den Betroffenen noch den Angehörigen, noch denen, die sich dafür interessieren. Es kann sogar dazu führen, dass sich die Krankheit verschlimmert, weil sie nicht oder falsch behandelt wird. Ich bin offen mit dem Thema umgegangen und meine Freunde und Bekannten hat es interessiert. Leider herrscht sehr viel Halbwissen und Unwissenheit über diese Krankheit. Es wird hier ehrenamtlich einiges getan, aber dennoch findet sich in Deutschland mehr Unterstützung für Katzenbabys und Fußball.“

Wie hat die Krankheit die Beziehung zu deiner Mutter geprägt?

„In meiner Kindheit habe ich die Krankheit meiner Mutter nur indirekt miterlebt. Meine Mutter hat, bis ich eingeschult wurde, Teilzeit und ohne Nachtschicht als MTA gearbeitet. Meinen Eltern war es wichtig, dass ich so lange wie möglich unbeschwert aufwachsen konnte. Sie haben mich behutsam eingeweiht und ich habe angefangen zu beobachten. Ich habe früh bemerkt, wenn etwas nicht stimmte, und würde die Beziehung zu meiner Mutter als sehr innig bezeichnen. Wir haben einen ganz besonderen Draht. Ich muss sagen, dass ich ihre erhöhte Sensibilität sehr schätze und durch ihre Feinsinnigkeit stark geprägt wurde. Insgesamt habe ich mich durch die Art und Weise, wie ich die Welt kennenlernen durfte, mit einem Rüstzeug entwickelt, das mir hilft, auf mich zu vertrauen und intuitiv das Richtige zu tun. Ich bin sehr dankbar für den sensiblen und aufgeklärten Umgang meiner Eltern mit der Diagnose und habe großen Respekt – auch vor den zeitlichen Einschränkungen und dem warmherzigen Einsatz meines Vaters.“

Haben Mütter mit psychischen Erkrankungen besonders mit Vorurteilen zu kämpfen?

„Wie es heute ist, kann ich nicht sagen, aber meine Mutter hat ihre Krankheit bei ihrer Arbeit kommuniziert. Ihre Kollegen wussten zwar von ihrer Psychose, haben aber die eigentliche Schwere und Bedeutung nicht erkannt. Vor einigen Jahren war es noch schwieriger, darüber zu sprechen, als heute. Noch ein Argument für einen offeneren Umgang – es wird einfach Zeit.“

Wie seid ihr in der Familie und im Freundeskreis damit umgegangen?

„Als sich die Krankheit zum ersten Mal zeigte, hat meine Großmutter nicht gezögert, ein paar Anrufe gemacht und einen guten Arzt herausgesucht. Wie es sich emotional auf eine Familie auswirkt, wenn das Kind, die Schwester, die Mutter, die Lebenspartnerin an einer Schizophrenie leidet, kann ich in diesem Interview nur andeuten. Es gibt ein wunderbares Buch von Andrew Solomon „Weit vom Stamm: Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind“, das ich empfehlen kann, um sich etwas anzulesen. Dort werden viele unterschiedliche Fälle erzählt, die sich mit individuellen Schicksalen befassen und einen großartigen Einblick geben. Es hilft zu verstehen, wenn man sich mit dem Thema befassen möchte. Im Wesentlichen geht es darum, wie unsere Gesellschaft mit außergewöhnlichen Menschen umgeht.“

Wie kam es jetzt zu der Idee, das Buch zu machen?

„Wir haben gemeinsam die Mappe mit den Aquarellen meiner Mutter durchgeschaut. Ihre Arbeiten sind wunderbar und haben eine Leichtigkeit, die in der Öffentlichkeit bei diesem Thema nicht zu finden ist. So entstand die Idee, ein öffentlichkeitswirksames Kunstbuch auf die Beine zu stellen.“

Auf was bezieht sich der Projektname „Seeing Her Ghosts?“

„,Seeing Her Ghosts‘ fasst zusammen wie unser Buchkonzept entstanden ist. Unser Titel benennt den Moment, an dem ich mir ihre Geister angesehen habe. Ich lebe schon lange mit dem Schicksal meiner Mutter, habe es aber bisher nie in einen künstlerischen Zusammenhang gebracht und beginne damit jetzt. Das Konzept besteht darin, internationale Künstler ihre Geister zeigen zu lassen und aus autobiografischem Material und den daraus entstehenden Kunstwerken ein Sammelwerk zu schaffen.“

Warum wählt ihr einen künstlerischen Ansatz?

„Wir wählen ganz bewusst einen künstlerischen Ansatz, weil wir das Thema spannend und zugänglich machen möchten. Es gibt ja kein freiwilliges Interesse für diese Leiden, und Bleiwüsten und pathologische Schreckensberichte gibt es zur Genüge. Es geht auch nicht darum, die Krankheit zu verklären, eher um eine reizvolle Auseinandersetzung mit dem, was der Mensch zu bieten hat. Und das war ja immer Gegenstand der Kunst. Eine Freundin nannte mir die Künstlerin Agnes Martin, ich recherchierte und stieß auf die Tatsache, dass Agnes Martin eine Schizophrenie hatte. Es ist spannend, Biografien zu lesen und den Kopf aufzumachen. Es gibt so viele Künstler, die einen Bezug zu Krankheiten wie diesen haben und nicht umsonst gilt die Publikation von Hans Prinzhorn als ,Bibel der Surrealisten‘.“

Wie sieht die Zusammenarbeit von dir und deiner Mutter aus?

„Für ,Seeing Her Ghosts‘ arbeiten wir eng zusammen und sichten die ersten eingereichten Beiträge. Die gestalterische Richtung und Balance zwischen dunkler, bedrohlicher Kunst und leichten Illustrationen stimmt meine Mutter genau ab. Wir haben einen Materialpool angelegt, der aus autobiografischem Material besteht. Es sind Geschichten aus dem Leben und wahnhafte Episoden dabei. Diese ,Stories‘ verschicken wir auf Anfrage und lassen Künstler damit arbeiten. Es ist beeindruckend, wie schnell die ersten Arbeiten entstanden sind und wie positiv das Feedback ist.“

Habt ihr bereits ein Netzwerk aus Menschen, die ebenfalls die Diagnose haben?

„Ich habe zu Beginn des Projekts Elyn Saks, eine Professorin, die ebenfalls Schizophrenie hat, angeschrieben und bin seither mit ihr im Dialog über das Projekt. Sie ist eine große Inspiration und ihr TED-Talk unglaublich beeindruckend. Mit Siri Hustvedt und Andrew Solomon hatte ich auch kurzen Kontakt und bin überrascht, wie positiv die Reaktionen und Wünsche sind.“

Was plant ihr mit dem Buch? Soll es auch Ausstellungen geben?

„Wir planen eine kleine Auflage des Buches im Selbstverlag zu finanzieren und wir sind auf der Suche nach Förderern und Privatleuten, die Interesse haben, unser Buch zu unterstützen. Ausstellungen sind der nächste Schritt und werden sorgfältig geplant. Unser Traum ist, die internationale Reichweite zu nutzen und möglichst breit zu streuen. Wünscht uns viel Erfolg!“

Wenn ihr selbst etwas zum Projekt beitragen wollt, findet ihr auf der Website von „Seeing Her Ghosts“ mehr Informationen. Die Künstlerinnen freuen sich zudem über Förderer, die mit Geldspenden helfen möchten, das Buch zu ermöglichen.

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