Neu in der Stadt, keine Kontakte, keinen Platz zum Schlafen. Wie finde ich bloß Anschluss, Freunde und Mitarbeiter? Sissel Hansen befand sich 2012 in genau dieser Situation und entwickelte: den Berlin Startup Guide.
Den Eingang finden
Wo kann ich Leute kennenlernen? Wie finde ich einen Platz zum Schlafen, wo kann ich am besten arbeiten? Als Sissel Hansen 2012 aus Dänemark nach Berlin kam, stellte sie sich genau diese Fragen. Die Kultur war fremd, ihr fehlten sowohl die deutschen Sprachkenntnisse als auch die nötigen Kontakte.
Lonely Planets und Reiseführer mit touristischen Tipps für Bars, Hotels und Events gab es bereits en masse. Doch was war mit Menschen wie ihr, genauer gesagt: Neuankömmlingen und jungen Entrepreneuren, die zwar eine gute Idee für ein eigenes Business haben, aber weder die deutsche Kultur, andere Menschen noch geheime Spots kennen, an denen man genau das ändern könnte?
Tief einatmen und durch
Um anderen Neuankömmlingen diese Fragen zu ersparen und den Start zu erleichtern, entwickelte die 23-Jährige das Konzept für einen Startup-Guide – eine Art Stadtführer mit Tipps: wo man arbeitet, zu wem man den Kontakt suchen, wie man mit bestimmten Situationen umgehen sollte. Am 5. Februar 2016 erscheint nun die zweite Ausgabe des Startup-Guides.
„Ich war selbst neu in Berlin und im Prinzip genau diese Person – mit dem Bedürfnis, neu zu starten.“
Endlich wissen, wo man hingehört.
Wie sie es selbst geschafft hat, bei Null anzufangen und als Stadtfremde alle hilfreichen Tipps in einem Buch zusammenzufügen?
„Ich habe tief eingeatmet und bin einfach durch. Ich habe alle möglichen Orte besucht, bin zu tausenden Events gegangen, habe teilweise mit ziemlich unfreundlichen, dann aber auch wieder mit unheimlich sympathischen Menschen gesprochen.“
Das, was wirklich zähle, um in der Startup-Szene Fuß zu fassen, sei Neugierde. Man dürfe keine Scheu haben, sondern müsse einfach Fragen stellen. Meist reiche schon ein „Hey, wer bist du? Woran arbeitest du momentan?“ oder auch „Welches Bier kannst du mir empfehlen?“, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Mit je mehr Leuten sie gesprochen habe, desto mehr sei ihr bewusst geworden, wie viele Menschen sich eigentlich in der gleichen Situation befinden – alle mit der Sorge: „Wie zur Hölle komme ich in die Szene hinein, wo ist der Eingang?“
„Mach’s nicht!“
Die erste Ausgabe des Startup-Guides, erzählt uns Sissel, erschien im August 2014. Mehr als 45 Entrepreneure und Experten erzählen darin von ihren Erfahrungen, und was sie selbst durch die Gründung ihrer Startups gelernt haben. Das fünfköpfige Team um Sissel wollte möglichst viele Stimmen zu Wort kommen lassen – um nicht vorzugeben, was gut oder schlecht ist, sondern schlichtweg, um spannende und lehrreiche Geschichten zu erzählen.
Ein Blick ins Buch. Quelle aller Bilder: Peter Bjerke
Eine große Herausforderung sei dabei gewesen, es einfach zu tun, und sich nicht von den Menschen einschüchtern zu lassen, die meinten: Keiner lese oder kaufe mehr Bücher. Es gäbe keinen anderen Bereich, der so schnelllebig sei wie die Startup-Szene. Das Buch werde überholt sein, wenn es erst mal gedruckt ist: „Mach’s nicht.“
Sissel hat sich davon nicht beeindrucken lassen. Hätte sie auf das gehört, was die Leute über sie und ihre Idee gesagt haben, so erzählt sie, wäre das Buch vermutlich nie entstanden.
„Zwar sollte man auf die Meinung anderer achtgeben, aber genauso auf sich selbst hören und das Risiko auf sich nehmen, Dinge auszuprobieren. Wenn du sie austestest und sie funktionieren, kannst du darauf bauen, und wenn die Idee nicht aufgeht, kannst du sie verändern oder etwas Neues machen.“
„Proof of Business“: Die Nachfrage ist da
Den Druck der ersten 250 Guides finanzierten sie primär durch den Verkauf der Fotos, die sie für den Guide gemacht hatten. Der Bestand war innerhalb einer Woche ausverkauft. Um weitere 3000 zu finanzieren, gingen sie Kooperationen mit Content-Partnern wie Banken oder Anwälten ein, doch auch dieser Vorrat an Guides reichte nur ein halbes Jahr. Was für Sissel letztlich der Beweis war: All das, was die anderen ihr einzubläuen versucht hatten, stimmte nicht. Die Nachfrage ist definitiv vorhanden, das Projekt funktioniert. Sie können Content-Partner finden, und befinden sich dadurch in der glücklichen Lage, das Projekt auf andere Städte ausweiten zu können.
Berlin sei die perfekte „Spielwiese“ gewesen, um den Markt für den Guide auszutesten. Ihre erste Firma, die sie in Kopenhagen gründete, überlebte nicht, unter anderem wegen der hohen Gehälter und Lebenshaltungskosten in der dänischen Hauptstadt. In Berlin sei das anders. Sissel beschreibt die Stadt als einen „fantasievollen, kreativen Ort, an dem alles möglich ist“.
Nachts arbeitete sie in Bars, tagsüber entwickelte sie den Guide und verdiente genug, um ihr Leben „irgendwie am Laufen zu halten“. Jetzt, so beobachtet Sissel, wird die Szene mutiger, dennoch hofft sie, dass der Zusammenhalt weiter bestehen bleibt und immer noch junge Menschen – wie sie damals – in die Hauptstadt kommen, um ihre Träume zu verfolgen.
Nach links und rechts schauen
Nachdem der erste Guide in Berlin fertig war, zog Sissel zum Studieren nach Aarhus, eine kleine Studentenstadt mit 100.000 Einwohnern. Nach ihrem Berliner Projekt sah ihr geschultes Auge, dass auch in einer Kleinstadt wie Aarhus viel in der Startup-Szene passiert, doch niemand wusste davon. Also folgte nach dem Berlin-Guide ein Startup-Guide über Aarhus und schließlich über Kopenhagen. Weitere sind geplant für Stockholm, Lissabon, Madrid sowie London.
Ihr Studium hat Sissel bisher nicht weiter verfolgt. Als das Projekt so florierte, beschloss sie, erst mal zu pausieren.
„Manchmal musst du einfach kurz innehalten, eine Pause machen und nach links und rechts schauen. Manchmal ist man zu fokussiert auf eine Richtung, dass man das Potenzial der anderen Richtungen übersieht.“
Da Sissel aber nicht so viel arbeiten und in allen Städten gleichzeitig sein kann, übernimmt nun jeweils eine Firma vor Ort die Lizenz des Buches.
Ob sie im Nachhinein etwas anders machen würde?
„Nein. Ich glaube, alles geschieht aus einem bestimmten Grund. Fehler sind nur dazu da, dass wir aus ihnen lernen können. Ich bin absolut glücklich. Ich habe den ganzen Mist abbekommen, aber mindestens genau so viel Glück.“
Sissels Tipps, um in Berlin Kontakte zu knüpfen
Bethaus: Dort herrscht eine sehr offenen Atmosphäre. Du kannst dort einfach hingehen und triffst immer nette Leute, die an ihren verschiedenen Projekten arbeiten.
Beta Breakfast: Um die Startup-Szene kennenzulernen und Anschluss zu finden, ist das Frühstück im Betahaus, das jeden Donnerstag stattfindet, die beste Adresse. Dort lernst du andere Startups kennen und triffst Entrepreneure, die auf deiner Wellenlänge sind.
St. Oberholz: Perfekt, wenn du nur einen Kaffee trinken gehen und den ,Beat der Startup-Szene‘ spüren willst. Dort sind jede Menge Leute, die gerade ein Meeting halten, programmieren, konzipieren.
Tech Open Air: Wenn ich mich für Tech interessieren würde, würde ich dieses Event definitiv nicht verpassen. Für mich ist es in dem Bereich das Beste in Deutschland, zu dem Menschen aus aller Welt extra anreisen.
meetup.com: Hier findest du Veranstaltungen und „Meet-Ups“ für jedermann, der sich für einen Nischenbereich begeistert: für „Hacker“, für Finntech- oder Healthtech-Interessierte. Schau dort öfter vorbei, triff dich auf ein Bierchen, komme ins Gespräch.
Vol. 2 des Berlin Startup Guide erscheint am 5. Februar 2016.
Mehr bei EDITION F
Die Factory: Was andere über den Startup-Hub sagen. Weiterlesen
Mein Leben in der Startup-Welt braucht nicht viel Besitz. Weiterlesen
Das Startup-Sausage-Fest: Gründerinnen? Fehlanzeige. Weiterlesen