Die Erzählung einer Tochter, die ihren Vater in den letzten Tagen seines Lebens im Hospiz begleitet
Die Stille
Die Stille weckte sie. Alles um sie herum war in den letzten Wochen so vertraut geworden. Das Laken und die Bettdecke auf der sie ihren Kopf zum Schlafen abgelegt hat. Die Stuhllehne, die ihr dabei unangenehm auf die Rippen drückte, das gedämpfte Licht, das durch die halb durchlässigen Vorhänge in das kleine Zimmer fiel. Und der Geruch. Noch nie zuvor hatte sie etwas vergleichbares gerochen. Es war nicht unangenehm, es roch auch nicht nach Krankenhaus, wie sie befürchtet hatte. Aber hier war ja auch niemand, um gesund zu werden. Vielleicht war es das, was sie roch. Menschen, so wie sie eben sind, am Ende ihres Lebens.
Aber etwas fehlte. Noch bevor sie den Kopf hob wusste sie es. Sie hörte nichts. Kein Geräusch. Kein Tropfen der Infusion. Kein leises Stöhnen. Kein angestrengtes Atmen durch einen Schlauch in der Luftröhre. Es war still. Und ihr Vater war tot. Darum war sie hier.
Vor drei Stunden hatte man sie angerufen. 15:04 Uhr. Man müsse ihr Mitteilen, dass ihr Vater gerade eingeschlafen sei. Herzliches Beileid. Wenn sie ihn noch sehen wolle, sich verabschieden wolle, es sei bei ihnen so üblich, dass die Bewohner in ihren Zimmern aufgebahrt werden bis alle, die möchten, Abschied nehmen konnten.
Ich komme, hatte sie gesagt.
Im Eingang leuchtete eine Kerze in einer Stehle aus Ton, die die Tage und Wochen zuvor nie gebrannt hatte. Zumindest nicht, wenn sie hier war. Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen. Oder es begann wieder zu schlagen, was es die Minuten seit dem Anruf vergessen hatte. Wie macht man etwas begreifbar, was so wenig greifbar ist wie der Tod. Wie das Fehlen von etwas, was doch immer da war.
Der Gang bis zum Zimmer Nummer 10, am Aufenthaltszimmer vorbei, ein Nicken für eine Frau, die sich gerade einen Tee eingoss. Ein Gefühl von Verbundenheit. Das hatte sie hier immer gemocht. Alles darf hier sein. In diesen Räumen darf gelacht werden und geweint, darf gegrüßt oder wortlos aneinander vorbei gegangen werden. „Und wenn sie das Gefühl haben, schreien zu müssen, dann tun sie das. Manchmal muss das alles einfach raus. Sie müssen sich für nichts schämen.“ hatte die Nachtschwester zu ihr gesagt, als sie das Hospiz das erste Mal wieder verließ. Sie hatte nie schreien müssen, aber die Schwester hatte ihr in diesem Moment etwas geschenkt, was sie die kommenden Wochen hat aushalten lassen. Ihre Trauer. Und ihren Mut.
Sie betrat das Zimmer, leise und sich jeder Bewegung bewusst, wie jedes Mal. Schloss die Tür hinter sich und sagte, wie immer „Hallo, Papa. Ich bin’s.“
Die wenigen Apparate waren verschwunden, nichts erinnerte mehr an einen Zustand von Krankheit. Keine Aufstehhilfe mehr über dem Bett, nicht mal der Kasten mit den Einmalhandschuhen hing neben der Tür. Auf dem Tisch neben dem Bett stand eine Kerze auf einem kleinen Deckchen, die Vorhänge waren zu und selbst das Radio schwieg. Die Bettwäsche war nicht, wie sonst, gelb-weiß gestreift, sondern strahlend weiß. Auf ihr lagen ein paar Rosenblätter und die Hände ihres Vaters. Immer noch die kräftigen Hände, die sie so sehr an ihre eigenen erinnerten. Die Hände, die sie in den letzten Wochen so oft gehalten hatte, obwohl sie nicht wusste, ob er überhaupt etwas spürte von ihrer Berührung. Etwas hörte, von dem was sie ihm erzählte. Und doch wusste sie es. Er war da. Immer. Nicht in dem Körper, der, von so viel Krankheit gezeichnet, nur noch den Mut suchte, oder den Frieden, um loslassen zu können. Aber in diesem Raum, bei ihr, in ihrer Berührung, in all dem, was sie bewegte, wenn sie bei ihm war, in ihren Tränen und ihrem Lachen. Und da war auch das kleine Mädchen, das sich so sehr diesen Vater in ihrem Leben gewünscht hat und nicht nur das bunt ausgemalte und mit Geschichten versehene Bild des Seemannes, der sie zur Seemannstochter gemacht hat. Einer einsamen Tochter, die es mit dem Erwachsenwerden nicht mehr geschafft hat, den Graben zu überwinden, den Zeit, Meere und eine Scheidung zwischen ihnen aufgemacht hatten.
Er trug ein knallrotes T-Shirt und man hätte ihn nicht passender anziehen können, denn auf der linken Brusttasche prangte das Emblem des Vereins für Seenotrettung. Sie musste lächeln und war einmal mehr unendlich dankbar für die Menschen, die in diesem Haus arbeiteten. Sie würde es ihnen sagen, wenn sie ihre Worte wiederfand.
Es stand noch kein Stuhl am Bett. War noch niemand hier gewesen? Sie zog sich den Stuhl an die Stelle neben dem Bett von der aus sie, wie jetzt auch, immer gut die Hand ihres Vaters hatte halten können und legte den Kopf auf die Matratze. So wie immer. Für einen Moment war alles stumm. In ihr. Kein Bewegen mehr. Keine Rastlosigkeit. Kein banges Warten. Und als sie einmal hörbar ausatmete war es klar. Ihr Vater war nicht mehr da. Nach fast drei Wochen, an denen sie sich jeden Abend neu von ihm verabschiedet hatte um am nächsten Abend wieder an seiner Seite zu sitzen.
Sie lies seine Hand los und blieb mit dem Kopf auf dem Bett liegen, ihre nassen Wangen in das Laken gepresst, die Augen so fest verschlossen, wie sie nur konnte.
Loslassen.
Du hast es geschafft. Dachte sie. Komm gut an. Dann wurde es dunkel in ihr.