Eine Frau in rotem Kapuzenpulli schreit wütend und ballt sie Hände zu Fäusten.
Bild: Jan Kopriva | Unsplash

The Power of Rage – Warum wir alle mehr Wut zulassen sollten

"Wut hat sich für mich schon als Kind besser angefühlt als Traurigkeit. Über die Jahre ist sie mein emotionales Zuhause geworden." Die Autorin Katharina Rein schreibt, wie Wut zu ihrem Motor wurde, wie Frauen ihre Wut systematisch aberzogen wird und warum wir alle dieses Gefühl mehr zulassen sollten.

„Reg dich erstmal ab.“ – Kaum etwas bringt mich schneller auf 180! Wenn ich vorher eher mittelmäßig angepisst war, dann bin ich, sobald dieser Satz ausgesprochen ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kurz vorm Explodieren. 

Männer, die leidenschaftlich für ihr Recht einstehen, gelten als „durchsetzungsfähig“. Wenn Frauen hingegen ihrer Wut Luft machen, werden sie häufig als überemotional oder gar irrational bezeichnet. Ihre Wut macht sie „zickig“, „hysterisch“, „unsympathisch“. Wer wie ich zum Club der wütenden Frauen gehört, bekommt den Scheiß-Satz „Reg dich erstmal ab“ oder eine Variante davon entsprechend oft zu hören. Denn der Satz ist eine Taktik. Beim sogenannten „Tone policing“ werden Ton und Wortwahl angegangen, um vom Inhalt des Gesagten abzulenken. So ist es leichter, sich der Debatte zu entziehen. Das Gegenüber soll ins Zweifeln kommen: Ist meine Wut berechtigt? Dabei ist Wut als Reaktion auf real existierende Ungerechtigkeiten eine verdammt angemessene Reaktion! Und ich als Frau habe allen Grund, wütend zu sein.

Die amerikanische Aktivistin, Journalistin und Autorin Soraya Chemaly beschreibt die Wut in ihrem TED-Talk „The power of women’s anger“ als Emotion, die uns „vor Demütigung, Drohungen, Beleidigungen und Leid“ warnen soll. Wut zeigt uns also an, wenn uns Unrecht widerfährt. Sie meldet sich, wenn etwas passiert, was wir nicht möchten. Wenn wir auf unsere Wut hören, fällt es uns leichter, Grenzüberschreitungen zu erkennen. Und laut „STOPP“ zu sagen.

„Wenn ich wütend bin, werde ich vom hilflosen Opfer der Umstände zur Verteidigerin meiner eigenen Grenzen.“

Katharina Rein

Deshalb hat sich Wut für mich schon als Kind besser angefühlt als Traurigkeit. Über die Jahre ist sie mein emotionales Zuhause geworden. Bin ich traurig, verletzt und hilflos, dann möchte ich mich in die Ecke verkriechen und mich selbst bemitleiden. Meine Wut aber macht mich wehrhaft. Wenn ich wütend bin, werde ich vom hilflosen Opfer der Umstände zur Verteidigerin meiner eigenen Grenzen. Waren früher Mitschüler*innen gemein zu mir, so war die Wut mein Antrieb, lautstark zurückzufeuern. Behandelten Lehrer*innen mich oder meine Klassenkamerad*innen ungerecht, ging ich auf die Barrikaden. Viele Schulstunden verbrachte ich deshalb vor der Tür zum Klassenzimmer. Lieber wurde ich von allen respektiert, von allen gehört, als von allen gemocht. Ich habe früh gelernt, dass Wut mir hilft, mich durchzusetzen. Und dass ich für meine Wut einen Preis zahlen muss, den Männer nicht zahlen. 

Obwohl Wut schon immer meine bevorzugte Emotion war, schaue ich heute auf viele Momente zurück, in denen ich viel wütender hätte sein müssen. Momente, in denen Männer mich ohne meine Zustimmung angefasst haben, in denen mir Männer ins Wort gefallen sind, mich bloßgestellt haben.

„Mich überkommt eine Wut auf die Ungerechtigkeit, die meinem jüngeren Ich widerfahren ist.“

Katharina Rein

Vor kurzem fiel mir ein altes Bild in die Hand. Tenniscamp 2005. Ich stehe zwischen den anderen Mädchen aus meiner Mannschaft. Ich habe vielleicht 15 Kilo mehr auf den Rippen als die anderen. Ich betrachte das Bild und sofort schießen mir Erinnerungen an diese Zeit durch den Kopf. An die vielen Sprüche über mein Gewicht, die ich mir von Lehrern, Jungs und ja, auch meinen Tennistrainern anhören musste. Damals habe ich in diesen Situationen oft mit einem frechen Spruch gekontert, bewusst Humor genutzt, um mir in der Situation noch mehr Häme zu ersparen. Innerlich habe ich getobt. Ich war wütend. Meistens auf mich selbst, dafür, dass ich nicht einfach so sein konnte wie die anderen. Doch in diesem Moment, mit dem Foto in der Hand, überkommt mich eine andere Wut. Wut auf die Ungerechtigkeit, die meinem jüngeren Ich widerfahren ist. Dem Ich, das jahrelang geglaubt hat, es sei weniger wert, weil es zu dick ist. 

Meine Wut richtet sich jetzt gegen die, die mich schikaniert haben. Und gegen die, die daneben standen und mich nicht verteidigt haben. Gegen das System, in dem Frauen nur so viel zählen, wie sie sexuell attraktiv sind. Ich fange an zu beben, das Blut schießt mir ins Gesicht, mein Magen verkrampft sich. Ich bin so rasend vor Wut, dass ich das Gefühl habe, meine Haut brennt. Ich schreie aus vollem Hals all meine Wut raus. 

Danach sitze ich in der Stille. Ich fühle mich, als ob eine Last von mir abgefallen ist. Denn ich realisiere, dass ich Mitleid habe mit dem Mädchen, das Ungerechtigkeit erfahren hat. Dass ich den Impuls habe, es zu beschützen. Und ich denke an die vielen Situationen, in denen ich meine Wut nicht gegen mich selbst, sondern gegen den Aggressor gerichtet habe. In denen ich für mich eingestanden bin, ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken. In denen ich laut „STOPP“ und „NEIN!“ gesagt habe. In denen die Wut mein Motor war. Mein Schutzschild und mein Schwert. Und plötzlich bin ich stolz auf mich. Stolz darauf, eine wütende Frau zu sein. Diese Erfahrung wünsche ich mir für alle Frauen.

Deshalb macht es mich rasend, dass Frauen ihre Wut systematisch aberzogen wird. Die Forschung ist eindeutig: Frauen fühlen Wut genauso intensiv und häufig wie Männer. Die Reaktion auf ihre Wut macht den Unterschied. Sie werden weniger ernst genommen, erfahren Ablehnung, wenn sie ihre Wut zeigen – und lernen früh, sich selbst zu zensieren. Und wie ich, die Wut nach innen zu richten. „Frauen haben nicht nur gelernt, ihre Wut zu unterdrücken, sondern dann mit einem anderen Gefühl zu reagieren. Mit einem erlaubten. Sie dürfen ängstlich und hilflos und traurig sein (…) Mädchen, die weinen, werden in Schutz genommen, Mädchen, die zornig sind, werden weggeschickt,” erklärt Almut Schmale-Riedel im Expert*inneninterview mit der Frankfurter Rundschau. Die Supervisorin, Lehrtherapeutin und Coachin, leitet das Fortbildungs- und Psychotherapie-Institut TEAM in Gilching bei München und untersucht das Phänomen in ihrem Buch „Weibliche Wut“. Dass die weibliche Wut so anders bewertet werde, habe auch mit Dominanz zu tun, erklärt Prof. Dr. Ursula Hess, Professorin für Sozial- und Organisationspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wer wütend ist, zeige Dominanz und die gelte als unweiblich. Dominante Frauen werden laut empirischen Untersuchungen entsprechend aggressiver wahrgenommen als Männer, wenn sie das Gleiche sagen.

„Frauen haben nicht nur gelernt, ihre Wut zu unterdrücken, sondern dann mit einem anderen Gefühl zu reagieren. Mit einem erlaubten.“

Almut Schmale-Riedel

Es geht noch weiter: Wenn Frauen dominant und wütend auftreten, setzen sie sich schlimmstenfalls körperlicher Gewalt aus. Immerhin jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von sexueller und / oder körperlicher Gewalt betroffen (Quelle: BMFSFJ).

Im vergangenen Jahr hat mich ein Typ, der im Club an der Schlange vorbei ins frei werdene Klo drängelte, weggeschubst und mir brutal den Arm in der Tür eingeklemmt, als ich die Toilettentür aufhielt, um ihn zur Rede zu stellen. 

Das Problem: Wer der sozialen Rolle der submissiven, angepassten Frau gerecht werden will, wer nicht wütend ist, akzeptiert den Status Quo. Und das ist ein Privileg derjenigen, die weniger stark unter ihm leiden. Ein Privileg, das sich nicht alle Frauen leisten können – und das sich keine von uns leisten sollte. Es sind die Frauen, die nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Sexualität, ihrer Behinderung, ihrer (sozialen) Herkunft oder ihrer Armut diskriminiert werden, die am meisten unter dem Patriarchat leiden. Und denen gleichzeitig, wenn sie  Widerstand leisten, die größten Konsequenzen drohen. Im Job kann ich beispielsweise leichter unbequem und kritisch sein, wenn ich finanzielle Polster habe und mir bei Verlust meiner Arbeit nicht die Wohnungslosigkeit droht. Ich kann einfacher meinem Ärger Luft machen, wenn ich nicht bei der kleinsten geäußerten Kritik als „angry black woman“ diskreditiert werde. „Meine Wut als Schwarze Frau wird ganz anders bewertet als die einer weißen Frau. Die einer dicken Frau, behinderten Frau, queeren, non-binären ebenso”, erklärt Ciani-Sophia Hoeder, Journalistin und Autorin des Buches „Wut und Böse“ in einem Artikel im Stern das Problem. 

Obwohl ihnen in der Regel größere Konsequenzen als anderen drohen, gehen diese Frauen auf die Straße, sind laut und wütend. Weil sie müssen. Weil sie die Ungerechtigkeit nicht mehr aushalten. Und weil sie wissen, dass nett fragen keinen Wandel bringt. Man denke nur an die Frauen im Iran, deren Wut ein komplettes Regime ins Wanken gebracht hat. Die körperliche Angriffe, Inhaftierung und Tod fürchten müssen und trotzdem jeden Tag Widerstand leisten. Oder an die Schwarzen Frauen, die die Speerspitze der Black Lives Matter Bewegung bilden.

„Wie wäre es, wenn unser Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten zur Norm würde?“

Katharina Rein

Deshalb möchte ich (insbesondere privilegierte weiße) Frauen, die scheinbar nie wütend sind, am liebsten an den Schultern packen und schütteln. Ich möchte schreien: Lässt dich diese ungerechte Scheiße etwa kalt? Warum stehst du verdammt nochmal nicht für dich und für andere ein? Wo bleibt deine Solidarität? Laut Gender Gap Report 2023 des World Economic Forums (WEF) soll es noch 131 Jahre dauern, bis Frauen und Männer weltweit gleichgestellt sind. Ob Gender Pay Gap, Gender Health Gap und Care Gap: diese verdammten Lücken werden sich in unserer Lebenszeit nicht schließen, wenn wir so weitermachen. Außerdem ist der Faschismus zurück in Europa und der Welt. Die AfD liegt laut aktuellen Wahlprognosen bei 22 Prozent (Quelle: Statista) und plant millionenfache, grundgesetzwidrige Abschiebungen. Diesen Entwicklungen können wir nur entgegenwirken, wenn wir gemeinsam wütend sind. Wenn wir breite Bande der Solidarität bilden. Wenn unser Feminismus intersektional ist. 

Ja, es hat Nachteile, wenn man als Frau wütend ist. Aber wie wäre es, wenn unser Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten zur Norm würde? Wenn wir Mädchen beibringen, dass Wut ein berechtigtes Gefühl ist? Wenn wir unsere Wut annehmen lernen und sie zu unserem Schutz nutzen? Wenn wir sie wie einen Muskel trainieren und sie immer dann rausholen, wenn eine Situation ein klares „Nein, ich will das nicht“ erfordert? Je mehr wir sind, desto weniger kann man uns ignorieren. Je lauter unser Diskurs, je weniger wir uns einlassen auf ewiges „Tone policing“ und je mehr unsere Wut das Gegenüber zwingt, beim Punkt zu bleiben, desto weniger kann man uns ignorieren. Frauen, die wütend sind, sind weniger leicht zu kontrollieren. Und Frauen, die sich nicht kontrollieren lassen wollen, können den Wandel erreichen – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich. 

Dieser Text erschien er tmals in unserem Voices Newsletter, für den ihr euch hier anmelden könnt. Jede Woche teilt darin eine Stimme aus dem EDITION F-Team ihre ganz persönlichen Gedanken zu den Themen Sex, Vereinbarkeit, Popkultur, Mental Health und Arbeit.

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