Kann ein Film zur Magersucht führen? Wie sieht es in einem essgestörten Menschen aus? Es sind Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Der Film „To the Bone“ wurde gehypt und verteufelt. Er versucht, das Thema Essstörung ins Blickfeld zu rücken, ohne ein Urteil zu fällen. Ist es gelungen?
Aufklärung oder Gefahr?
Der Netflix-Film „To the Bone“, der den Kampf einer jungen Frau mit ihrer Magersucht thematisiert, hat schon lange vor Erscheinen für große Diskussionen im Netz gesorgt. Er sei gefährlich, stifte zum Nachahmen an. Es gab sogar den Versuch, ihn verbieten zu lassen. Unsere Autorin hat den Film gesehen und war beeindruckt von dem Umgang mit diesem schwierigen Thema. Wir wollten eine zweite Meinung hören und haben mit Nora Burgard-Arp, Journalistin und Expertin für Magersucht, über den Film gesprochen.
Triggerwarnung: Im Text wird detailliert über Symptomatik und Auswirkungen von Essstörungen gesprochen.
Nora, was läuft falsch in der Darstellung und Kommunikation von Essstörungen in den Medien?
„Magersucht ist eine hochkomplexe Krankheit, die viel zu häufig auf einen Kampf mit Schönheitsidealen reduziert wird. Dann werde schnell Formate wie Germany’s Next Top Model (GNTM) als Schuldige herangezogen. Aber so einfach ist das nicht. Ich will das Format nicht verteidigen: im Gegenteil, es ist ein Albtraum. Aber man darf die Krankheit Magersucht nicht so vereinfachen. Darum setze ich mich seit vielen Jahren für eine differenziertere Darstellung von Essstörungen in den Medien ein.“
Jetzt läuft „To The Bone“ auf Netflix. Wie hast du die Darstellung im Film empfunden?
„Ich fand den Film sehr gut, vor allem, weil er gar nicht versucht, konkrete Gründe und Ursachen zu benennen, die für Essstörungen verantwortlich sind. Ja, Ellen hat eine schwierige Familie, einen absenten Vater, eine Mutter die sich geoutet hat. Aber sie kämpft vielmehr mit sich selbst, mit der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Der Film wirft mehr Fragen auf als er beantwortet und damit bildet er sehr deutlich ab, wie es in der Magersuchtforschung aussieht.“
Ich fand, der Film zeichnet ein beeindruckend umfassendes Bild vom Leben mit Essstörung. Er zeigt Magersucht, Bulimie, Adipositas, macht klar, dass auch Männer erkranken. Er zählt Begleiterscheinungen auf, wie heimliches Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln, Ritzen, exzessive Sit-ups und Bewegung nach jedem Essen.Gibt es etwas, was der Film in deinen Augen vernachlässigt hat?
„Ich glaube, man muss sich darüber im Klaren sein, dass ein 90-minütiger Film nicht alle Aspekte dieser Krankheit abbilden kann. Aber wenn ich etwas benennen müsste, dann die Darstellung der Therapie. Die war doch sehr einseitig. Das finde ich schwierig, weil die Botschaft des Arztes doch vor allem darin lag, die kleinen Dinge im Leben wieder genießen zu können, sich selbst wieder lieben zu lernen. Das ist unglaublich wichtig, aber es reicht natürlich nicht annähernd, um so eine Krankheit zu besiegen.“
Ich seh das auch so – die Rolle ist dünn geschrieben und noch dünner gespielt. Die Therapie scheint sich auf Abgrenzung zu reduzieren: „Fuck You, Stimmen im Kopf”, „Fuck you, Eltern”.
„Ja, ich hätte mir da an einigen Stellen mehr Tiefe gewünscht. Aber ich glaube, der Film will eben etwas anderes erreichen: Nämlich zeigen, wie viel in so einer Erkrankung zusammen spielt. Und das haben sie in der Darstellung der Ellen sehr gut gemacht.“
Was wiederum sehr klar wird, ist die Vielseitigkeit und Komplexität der Genesung. Stationäre Behandlung, Einzeltherapie und Gruppensitzungen. Gemeinsame, geregelte Essenzeiten, die kontinuierliche Konfrontation mit dem Essen … Es wird betont, dass Megan und Ellen beide zum wiederholten Mal stationär sind, dass Therapien scheitern, abgebrochen werden, dass es eine langer Weg ist.
„Viele Betroffene erzählen mir, dass sie in der Zeit nach der stationären Therapie ganz starre Essenpläne brauchen, an die sie sich halten können. Sie müssen sich über ihre Angst hinweg langsam herantasten. Für Außenstehende ist es oft schwierig zu begreifen, wie sich die Magersucht manifestiert. Alle Erkrankten haben schon diese Sätze gehört, die auch im Film fallen: ,Iss doch! Warum isst du nicht?’ Aber so einfach ist es eben nicht.“
Ich finde, das zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Szene, in der Ellen Luke fragt: „Wie machst du das – essen?“ Denn sie hat es einfach schon lange verlernt.
„Und genau das ist die Frage, die sich Forscher seit Jahrzehnten stellen – Neurologen, Psychologen: Woher kommt diese Angst vor dem Essen? Wie umgehen Magersüchtige einen evolutionären Mechanismus wie die Nahrungsaufnahme? Bislang hat die Wissenschaft darauf noch keine Antworten. Wenn man sich das bewusst macht, kann man das Argument ,Schönheitswahn‘ eigentlich direkt vergessen.“
Zum Klinikalltag gehören viele Regeln, natürlich auch das Wiegen. In einer Szene warten Ellen und die Anderen vor dem Schwesternzimmer darauf, gewogen zu werden und man kann den Kampf in ihren Gesichtern sehen: Der Wunsch, Gewicht gewonnen zu haben, einen Schritt nach vorn gemacht zu haben. Und die stete Angst: Was, wenn ich wirklich zugenommen habe? Welche Gegensätze erlebst du noch bei Essgestörten?
„Alleine die Krankheit Bulimie ist ein Paradoxon: Ess-Brech-Sucht. Das Essen wird zum Suchtstoff – etwas, das man unbedingt braucht. Und dann kommt der Wunsch nach dem Erbrechen. Man muss also dringend den Suchtstoff wieder loswerden. Die Euphorie liegt sowohl in der Befriedigung durch das Essen, als auch in der Leere nach dem Erbrechen.
Aber auch in der Magersucht spaltet sich die Seele: es gibt diesen Wunsch, nicht gesehen zu werden. Auch Ellen im Film: Sie will nicht als Frau wahrgenommen werden, will nicht sexualisiert werden. So wenig Raum einnehmen wie möglich – mit dem Ergebnis, dass man alle Aufmerksamkeit bekommt.“
Wie ihre Stiefschwester es im Film erzählt. Alles drehte sich immer nur um Ellen…
„Genau. Dabei will Ellen das gar nicht. Sie sagt es auch: ,Ich bin gar kein Mensch mehr, nur noch ein Problem.‘ Die Magersucht ist auch der Versuch, sich zu lösen, völlig autonom zu sein, allen zu zeigen, dass man nichts und niemanden braucht – nicht einmal Essen. Aber das hat zur Folge, dass man völlig abhängig wird. Vom Kalorienzählen, vom Erbrechen, von der Pflege durch die Eltern. Magersüchtige werden nicht autonom, sie entwickeln sich zurück zu bedürftigen Kindern und ihre Eltern müssen in die Rolle der Ernährer, der Versorger zurückkehren.“
Lange ging man ja fälschlicherweise davon aus, dass Essstörungen ihre Ursache vorrangig in einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung finden. Und auch wenn Ellen im Film in ihrer leiblichen und ihrer Stiefmutter zwei sehr exzentrische, sehr unterschiedlich belastete Charaktere hat, fällt eigentlich vor allem auf, dass der Vater nicht ein einziges Mal auftaucht. Ist der Film auch ein Appell an die Angehörigen?
„Ja, ich denke schon. Aber nicht, indem er sich mit einer Schuldfrage beschäftigt. Es gibt ja diese Szene, in der Ellens Stiefmutter alle möglichen Gründe für Ellens Zustand vorbringt. Man hat das Gefühl, sie braucht unbedingt eine Erklärung und will irgendwie auch Absolution für ihren Mann, Ellens Vater, erhalten. Aber es gibt keine Familie, die kein emotionales Gepäck mit sich herumschleppt. Wären problematische Familienverhältnisse der Grund für Essstörungen, wären alle Jugendlichen mit absenten oder kontrollsüchtigen Eltern magersüchtig. Wir wissen, dass es viel komplexer ist.
Dass der Vater als abwesend dargestellt wird, finde ich übrigens sehr gelungen. Väter weigern sich häufig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Während Frauen, Mütter, sehr schnell die Schuld bei sich selbst such. Ich persönlich halte das in erster Linie für ein kulturelles Phänomen, weniger für ein psychologisches.“
Dem Film wurde schon vor seinem Erscheinen vorgeworfen, er sei ein potenzieller Trigger, stifte Jugendliche zu Magersucht an.
„Natürlich werden Menschen, die bereits gefährdet sind oder sich in einer Essstörung befinden, durch solche Inhalte angesprochen. Aber diese Menschen werden auch von GNTM, von Modemagazinen oder einem Pro-Ana-Blog getriggert. Das ist natürlich auch mein Problem mit GNTM. Aber “To the Bone” richtet sich an die breite Masse und er will für Aufmerksamkeit sorgen. Und das macht er gut, denn er zeigt deutlich, dass Ellen schwer depressiv ist und ihre Essstörung eine Auswirkung dieser Depression ist.“
Ellens Anstoß zur Verschlechterung hat dagegen überhaupt nichts mit Anstiftung oder Gruppendynamik zu tun. Sie stürzt wieder ab, als Megan ihr Baby verliert und Luke ihr seine Gefühle gesteht. Nichts läuft so, wie es soll. Das macht sie hoffnungslos, erfüllt sie mit Angst und Wut.
„Magersucht ist eine multifaktorelle Krankheit. Schlanksein, Schönheitsideale, Gruppenzwang – das sind nur wenige von vielen Aspekten, die da mit reinspielen.“
Nora Burgard-Arp, Journalistin und Expertin für Essstörungen
Der Film hat auch autobiografische Elemente, denn die Autorin und Regisseurin Marty Noxon litt an Magersucht und Bulimie. Auch Lily Collins, die Ellen spielt, hat öffentlich gemacht, dass sie selbst früher unter einer Essstörung gelitten hat. Man könnte den Vorwurf äußern, es sei verantwortungslos gewesen, dass Lily sich noch einmal so runterhungert. Gleichzeitig hat die Erfahrung der beiden offensichtlich dazu beigetragen, dass der Film so umfassend, ehrlich, aber doch verantwortungsvoll mit dem Thema umgeht. Wie siehst du das?
„Ich möchte hier niemanden aus der Ferne diagnostizieren. Das ist genau mein Vorwurf an die Leute, dass sie viel zu vorschnell über dieses Krankheit urteilen. Deshalb habe ich meine Website ,Heute sind doch alle magersüchtig‘ genannt. Ich kenne Lily Collins nicht. Ich denke – ich hoffe – sie wusste genau, was sie tut.“
Ich habe ein Interview mit ihr gelesen, in dem sie beschreibt, wie sie auf eine Bekannte traf, die rief „Oh, look at you“. Und als sie erklären wollte, dass sie für eine Rolle so aussähe, sagte die Frau: „Nein, nein, du siehst großartig aus, wie hast du das gemacht?“ Lily war schockiert.
„Und da liegt doch ein Riesenproblem: Frauenkörper werden ständig bewertet! Man hat keine Ahnung, was man mit solchen Aussagen vielleicht bewirken kann, wieviel Schaden man damit anrichten kann.“
Ich bin eine starke Verfechterin von Transparenz. Ich glaube nicht, dass man Gefahren vorbeugen kann, indem man sie tabuisiert. Das gilt für Sex, Suizid und Essstörungen. Information ist wichtig, auch in Form eines Films wie „To The Bone“.
„Das ist auch meine Überzeugung. Durch Verbote kann man nichts erreichen. Es würde mich überraschen, wenn sich die Zahlen wirklicher, klinischer Essstörungen maßgeblich verändern würden, wenn man GNTM oder andere Formate verbieten würde. Aber man muss natürlich sehen, dass es verschiedene Ausprägungen dieser Krankheit gibt. Ich glaube, es könnte etwas bei jungen Menschen bewirken, die ein auffälliges Essverhalten haben, ja – die es mit ihrem Schlankheitswahn übertreiben und anorektische Phasen haben, sicher. Und auch die sind ernst zu nehmen, auf jeden Fall. Aber die Zahlen klinisch diagnostizierter Anorexien und Bulimien sind in den letzten Jahren nicht genug angestiegen, um eine direkte Korrelation mit den TV-Programmen herzustellen.“
Weil Magersucht, wie du sagst, eben eine multifaktorelle Krankheit ist.
„Genau. es ist einfach komplexer. Und deshalb brauchen wir mehr Aufmerksamkeit, mehr Wissen in der Gesellschaft. Auch, damit wir den Betroffenen mit einer anderen Haltung begegnen können. Damit Sätze wie ,Iss doch einfach’ oder ,Wow, siehst du schlank aus’ eben nicht mehr fallen. Das wäre mein großes Ziel.“
Erste Anlaufstellen bei Essstörungen, die auch Onlineberatung anbieten, sind Anad oder auch die BZgA.
Wenn ihr gerade in einer Krise seid oder ihr sogar Suizidgedanken habt, wendet euch sofort an eine professionelle Anlaufstelle. Hier findet ihr eine Übersicht der Krisendienste in Deutschland. Die Telefonseelsorge ist außerdem rund um die Uhr für euch erreichbar.
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