Das Leben in einer Patchwork-Konstellation stellt alle Familienmitglieder immer wieder vor Herausforderungen. Melanie Makoe veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema und schildert einen konkreten Fall.
„Da
muss man sich mal zusammenreißen können!“
„Wie,
Hanna und Jochen kommen auch?“
Sandra
schaut ihre Tochter mit einer Mischung aus blankem Entsetzen und
Unverständnis an.
„Ja, sie
wollen nur eine halbe Stunde vorbeischauen. Ich dachte, das ist nicht
so schlimm, Mama.“
„Warum
hast du mir das nicht gesagt?“, stottert Sandra.
Alle Blicke
am Tisch gelten jetzt ihr.
„Mama, sie
haben gefragt, ob sie kurz kommen können. Reg dich bitte nicht auf!“
Sandras
Blick geht tief nach innen, sie scheint etwas zu „sehen“, was den
anderen verborgen bleibt. Dann fasst sie sich, erhebt sich ruhig, den Blick weiterhin nach innen gekehrt. In ruhigem Tonfall sagt sie:
„Tut mir
leid, Lore. Ich muss gehen.“
Lore
versteht die Welt nicht mehr. Sie bettelt ihre Mutter an, doch
wenigstens noch bis zum ersten Tanz zu bleiben, es sei ihr Abiball
und ein besonderer Tag, den sie ihr doch nicht vermasseln dürfe.
Aber Sandra bleibt hart. Während sie fortgeht, hört sie noch, wie
eine Mutter ihrer Tochter zuraunt: „Da muss man sich doch mal
zusammenreißen können!.“ Sie ignoriert die Bemerkung und verlässt
den Ballsaal. Lore begleitet sie zum Auto, Tränen stehen ihr in den
Augen, aber sie kennt ihre Mutter und weiß, wann deren Grenzen
erreicht sind.
Als sie ihre
Tochter verabschiedet hat und im Auto sitzt, kommen auch Sandra die
Tränen. Sie legt den Kopf ans Lenkrad und da kommen sie, die über
viele Jahre verdrängten Bilder. Wie Hanna und Jochen vor 16 Jahren
die Wohnung ausgeräumt haben und sie zufällig diesem Ereignis
beiwohnte, als sie zu früh nach Hause kam. Hanna schleppte gerade
Jochens Computer aus dem Haus und er stapelte seine Möbel in einen
kleinen Transporter. Sie sah, wie beide sich küssten und umarmten.
Für sie war es für viele Jahre der Anfang vom Ende des Traums nach
einer heilen, kleinen Familie.
Das Kind der „Next“ überlassen?
Dass Jochen
Hanna hatte, erfuhr Sandra über eine dritte Person. Nicht etwa von
den beiden persönlich. Und dass er so früh seine Sachen holen
würde, war für Sandra ein Schock. Im Zuge einer Mediation erfuhr
sie dann auch noch, dass Jochen innerhalb der vierjährigen Beziehung zu
ihr insgesamt mit sechs Frauen fremdging. Für Sandra war unklar,
wie sie es schaffen sollte, ihr Kind guten Gewissens regelmäßig
einem solchen Menschen zu übergeben, zumal sie der „Next“ das
heile Familienglück nicht gönnte, welches ihr genommen wurde.
Dazu
kam, dass sie Hanna schon eine Weile kannte und sie nie mochte, da sie ihrer Ansicht nach schon immer etwas sehr Narzisstisches an sich hatte. Diese
Wesensart zeigte Hanna in all den Jahren wieder und wieder, in dem
sie ihrer Tochter große Geschenke machte, sie stets „mädchenhaft“
einkleidete und frisiere und ihr, Sandra, gegenüber, keine
wirklichen Grenzen kannte.
Nie war er gut genug für sie – sagt er
Aus
Hannas Sicht war Sandras Verhalten all die Jahre über vollkommen
unverständlich. Sandra schien damals auch nicht sonderlich an Jochen
zu hängen, wie er ihr berichtete. Hatte an ihm immer etwas
zu kritisieren. Nie war er gut genug für sie. Sie, Hanna, war immer
bereit, ihr eine gute Stiefmutter zu sein. Sie sorgte dafür, dass
Lore schöne Kleider hatte, gut frisiert war und kaufte immer mal
wieder eine Haarspange oder Zopfgummis für sie. Sie war immer darauf
bedacht, alle Kinder gleich zu behandeln. Im Haus hingen Fotos von
ihren Söhnen und von Lore und jedes Kind hatte seinen Raum in ihrem
Haus. Sie war glücklich mit dieser großen neuen Familie, zumal ihr
Ex-Mann auch bald schon wieder heiratete und zwei weitere Kinder
bekam, mit denen ihre Söhne guten Kontakt pflegten. Bei ihr lief
doch auch alles bestens mit Patchwork, warum also stellte Sandra sich
eigentlich so an?
Insgeheim fand sie, dass sie die „bessere“
Mutter gewesen wäre, da Sandra es nicht so hatte mit Hausarbeit,
Kleidungskauf und Geldverdienen. Auch Jochen sagte manchmal, dass es
schöner wäre, sie wäre die Mutter und nicht Sandra. Sie könnten
dann so richtig eine Familie sein. Wie gern würde sie ihm diesen
Wunsch erfüllen, aber man konnte Sandra das Kind ja schlecht
wegnehmen, zumal konsultierte Anwälte Jochen vor Jahren auch sagten,
dass das schwer werden würde. Sie hatten es Sandra damals ja
angedroht, ihr das Kind zu nehmen, wenn sie sich weiter „so
anstellen“ würde, aber da hätte sie Alkoholikerin sein müssen
oder etwas in der Art.
Gefühle und Bedürfnisse aller berücksichtigen
Der
Abiball symbolisiert einen besonderen Moment: Es ist der Moment, in
dem ein jugendlicher Mensch seine Schullaufbahn beendet und ins
Erwachsenenleben entlassen wird. Er ist vergleichbar mit einer
Einschulung, welche von Eltern ebenso als emotionales gemeinsames
Erlebnis geschildert wird. Im Falle einer Trennungssituation kann es
kompliziert werden, dieses Ereignis so zu feiern, dass die Gefühle
und Bedürfnisse aller Beteiligter berücksichtigt werden.
Sind
die Verletzungen wie in Sandras Fall immer noch nicht abgeklungen
oder werden erneut durch diesen besonderen Anlass aufgerissen, kann
es zu einem Kurzschluss kommen. Hätte sie sich „zusammenreißen“
müssen? Hätte sie es können? Sandra sagte mir auf diese Frage hin: „Ich
hätte es in dem Moment nicht gekonnt. Ich wusste nicht, dass Jochen
und Hanna auch kommen würden. Lore hat das selbst erst spontan
verabredet. Ich hätte die Stimmung gedrückt. Mir tat das auch
wahnsinnig leid, aber manchmal ist es besser, wenn man seinen
Gefühlen folgt und sie ernst nimmt“.
Als
Außenstehende ist es immer leicht, über andere zu urteilen. Vor
allem, wenn man selbst seit Jahren in einer festen Beziehung steckt
und ein Kind gemeinsam großgezogen hat, welches nun sein Abitur
feiert. Wie nach außen demonstrierte Gefühle zustande kommen,
bleibt Außenstehenden aber meistens verborgen. Mit Sicherheit gibt
es „reifere“ Verhaltensweisen als die, die Sandra gezeigt hat.
Andererseits kann ihre Ehrlichkeit sich und ihrer Tochter gegenüber
als eine „starke“ Reaktion gewertet werden. Sie war konsequent
mit sich und ihren Empfindungen und verließ eine Situation, die sie
augenscheinlich überforderte.
Sich nicht der Kinder zuliebe quälen
In
einer Patchworksituation müssen Erwachsene auf sich und ihre Grenzen
achten. Es ist sehr wichtig, das Kindeswohl im Blick zu haben, aber
wichtig sind auch die Bedürfnisse der anderen Beteiligten, denn
diese gestalten die Patchworkfamilie aktiv mit. Ein Erwachsener ist
allerdings in der Lage, sich seine Gefühle und Befindlichkeiten
bewusst zu machen und gezielt nach einer Lösung zu suchen. Ein Kind
ist dazu noch nicht fähig. Daher sollten Erwachsene das Kind
schützen. Ob das allerdings bedeutet, sich Situationen auszusetzen,
die auch für eine erwachsene Person unerträglich sein können, sei
dahingestellt. Die meisten Kinder sind nicht glücklich damit, wenn
Erwachsene sich ihnen zuliebe „quälen“.
Damit
ein Erwachsener sich im entscheidenden Moment „zusammenreißen“
kann, benötigt er möglicherweise Therapieangebote für sich selbst
und die aktive Hilfe der anderen Patchworkmitglieder, und zwar von
Anfang an. Wie wäre es gewesen, wenn Hanna und Sandra sich
zusammengesetzt und über ihre jeweiligen Ängste gesprochen hätten?
Wenn sie zum Beispiel verabredet hätten, dass Hanna nicht versucht,
eine Mutterrolle zu übernehmen und sich hinsichtlich Kleidung und
Frisur etwas zurückhält und Sandra im Gegenzug dafür ihre
Ablehnung Hanna gegenüber nicht vor dem Kind austrägt? Wenn sie
darüber geredet hätten, dass Sandra Angst hatte, ihre Tochter an
die „heile Familie“ zu verlieren, die sie selbst nicht mehr haben
konnte?
Kompromisse statt Rivaliät
Ein
Gespräch hätte nicht alle Wunden beseitigt, aber es wäre
vielleicht möglich gewesen, beim Abiball an einem Tisch zu sitzen.
Wenn aber vor allem „Ex“ und „Next“ in einem Zustand von
Rivalität verharren, kann kein wirklich friedliches Miteinander
gelingen. Die Mutter ist und bleibt die Mutter und eine Stiefmutter
kann diesen Platz nicht einnehmen beziehungsweise wegnehmen, es sei
denn, die Mutter lässt es zu (oder existiert gar nicht mehr). Die
„Neue“ wird nicht die „alte“ Familie in neuem Gewand für den
geliebten Partner herstellen können, da das Kind an seiner
leiblichen Mutter hängt und eine komplette Ausklammerung ihrer
Person nicht dauerhaft akzeptieren wird.
Eine
„Stiefmutter“ kann aber eine „mütterliche Freundin“ werden,
eine Ansprechpartnerin, eine Bezugsperson, die in der Tat einen Bonus
darstellen kann.
Die
leibliche Mutter sollte irgendwann akzeptieren, dass diese weitere
Bezugsperson im Leben des Kindes eine Rolle spielt, wenn auch in
einer anderen Form als sie selbst. Die Zuneigung des Kindes zu der
Frau zu akzeptieren, die vielleicht den Vater „weggenommen“ oder
„ausgespannt“ hat, kann eine große Herausforderung
darstellen. Allerdings sollten Mütter auch bedenken, dass selbst in
so einem Fall auch der Vater daran beteiligt war, die neue Beziehung
vorzuziehen und nicht nur die neue Frau „schuld“ ist. Falls sich
Mütter sogar selbst getrennt haben, geht damit in der Regel
zwangsläufig einher, dass auch der Vater eine neue Partnerschaft
eingeht.
Diese
Konsequenzen sind einem nicht immer im Vorfeld bewusst, aber wenn
eine Trennung irreversibel ist, bleibt den Betroffenen wirklich
nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen.
Wenn
sich Eltern trennen, und das ist in der Regel keine leichtfertige
Entscheidung, dann müssen sie sich der Folgen bewusst sein, sie
müssen sich bewusst sein, dass möglicherwese lang anhaltende
Arbeit auf sie zukommt, um die Bedürfnisse aller Beteiligten auf
Dauer zu berücksichtigen.
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