Foto: Susanne Ullerich

„Vielleicht muss etwas Altes sterben, damit etwas Neues kommt“

Die Publizistin Ulrike Guérot erklärt, warum die Gefahr eines Bruchs der Europäischen Union real ist und warum eine Europäische Republik so wichtig ist.

 

Deutschland als Insel der Seligen?

Seit praktisch mehr als 20 Jahren herrscht in Europa Stillstand auf dem Weg zu einer politischen Union, kritisiert die Politikwissenschaftlern und Publizistin Ulrike Guérot. Sie ist Gründungsdirektorin des European Democracy Lab an der European School of Governance und war 2014 Senior Fellow bei der Open Society Initiative for Europe und Gastforscherin für Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaft. Guérots Kernanliegen ist das Entstehen einer Europäischen Republik, zu dem Thema wird sie auch auf der diesjährigen re:publica, die ja das Motto „Finding Europe“ hat, sprechen. Im April 2013 hatte sie mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ein Manifest zur „Gründung einer Europäischen Republik” veröffentlicht. Auf EDITION F fasst sie für uns zusammen, was wir über Europa heute wirklich wissen müssen:

1. Warum wir heute ständig von der „Euro-Krise“ reden:

„Ich glaube, das Wichtigste, wenn man heute auf Europa blickt, ist: sich noch mal in Erinnerung zu rufen, in welcher historischen Bewegung wir stehen. Wir verhandeln ja gerade in der öffentlichen Meinung die Eurokrise, und die Eurokrise ist: Griechenland,  ist der Populismus, ist der ,Brexit’, also der mögliche Austritt des Vereinigten Königreichs, ist vielleicht sogar der Regionalismus von Katalonien, Schottland – jedenfalls gibt es vielfältige Eurokrisen und Legitimitätskrisen, und die eigentliche Frage ist: Woher kommt das? Was sind eigentlich die Ursachen für diese Krisen? Und da ist ganz wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Krisenursachen sich lange aufgebaut haben und viel vielschichtiger sind als die griechische Zahlungsunfähigkeit oder die Reformunfähigkeit des europäischen Südens, oder gar, was ja in der deutschen Presse gerne mal behauptet wird, ein gewisser Schlendrian der südlichen europäischen Länder.  Sondern man muss ansetzen bei dem historischen Datum 1992, dem Datum des Maastrichter Vertrages, drei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Dort wurde im Grunde eine so genannte  ,ever closer union’ verhandelt, also eine immer engere Union.”

„Es ging damals um zwei Dinge: einmal um die Währungsunion und einmal um die so genannten politische Union. Und die politische Union hat ja viel damit zu tun, dass wir in der Europäischen Union mit Mehrheit abstimmen, dass wir eine Fiskalunion haben, auch eine gemeinsame Sozialpolitik haben und eigentlich eine gemeinsame Regierung. Was dann über die letzten etwas mehr als 20 Jahre passiert ist, ist, dass wir die Währungsunion gemacht haben, deswegen haben wir jetzt alle den Euro in der Tasche,  aber die politische Union haben wir 20 Jahre lang nicht vorangebracht. Wir sind immer von einer nur halb vollendeten Vertragsreform in die nächste geschlittert. Und deswegen ist das Grundproblem der heutigen Krise, dass wir ein verwaiste Währung haben, also eine Währung ohne Demokratie, oder eine Währung ohne politische Union. Wir haben den Euro in der Tasche von Finnland bis Griechenland bis Portugal,  aber drumherum haben wir kein politisches Gebilde, das dieser Währung ein vernünftiges Haus geben würde im Sinne einer klassischen Demokratie mit klassischer Gewaltenteilung. Währung ohne Politik, das heißt  auch Währung ohne gemeinsame Sozialpolitik, heißt auch Währung ohne gemeinsame Fiskalpolitik oder genauer eine Währung mit 18 Steuerpolitiken und 18 Sozialpolitiken, und aus diesem Spannungsverhältnis haben sich seit 2002, seit Einführung des Euros, vielfältigste Spannungen ergeben und diese Spannungen sind irgendwann mal ganz eruptiv ausgebrochen.”

„Das ist das, was wir heute unter dem Stichwort ,Eurokrise’  verhandeln, und das wird dann heute in der Presse meistens sehr monodimensional geführt: Die Griechen können nicht bezahlen, die Franzosen können nicht reformieren, die Italiener haben über ihre Verhältnisse gelebt – aber dahinter stehen ganz vielfältige symbiotische Strukturen, auch der wirtschaftlichen Verflechtungen, aber in der Essenz muss man wissen, und das ist entscheidend: Wir haben mit dem Maastrichter Vertrag im Grunde das Verhältnis von Staat und Wirtschaft entkoppelt, haben Wirtschaft und Währung auf europäischer Ebene organisiert, aber die Staatlichkeit auf nationaler Ebene gelassen – und unter diesem Spannungsfeld leiden wir heute.“

2. Besteht in Europa überhaupt die realistische Möglichkeit einer politischen Union in näherer Zukunft, und wie steht es um die Zukunftsvision einer „Europäischen Republik“?

„Das scheint heute tatsächlich ziemlich illusorisch inmitten einer politischen Situation, die in allen europäischen Ländern angespannt ist – angespannt in Griechenland mit Syriza, angespannt in Deutschland mit der AfD, angespannt in Frankreich mit dem Front National, mit UKIP in Großbritannien und so weiter, die nächsten Wahlen sind in Spanien, Podemos ist sehr stark. Insofern ist die Frage, ob wir heute in einer angespannten und auch in einer von Populismus geprägten politischen Situation überhaupt eine politische Kraft haben, eine Art politische Union zu machen, an der wir ja de facto schon seit 20 Jahren herumbasteln. Die eigentliche Frage ist: Warum sollten wir heute etwas schaffen,  was wir schon unter günstigeren Bedingungen in der Geschichte nicht geschafft haben? Wir sind, ich sag es mal etwas hegelianisch – These, Antithese, Synthese – in einer politischen Synthese, die sich irgendwie erschöpft hat, wir sind in einem politischen System, das einerseits nicht mehr reformfähig ist um, sich irgendwie zum Besseren zu entwickeln, das aber offensichtlich so auch nicht mehr nachhaltig, nicht mehr haltbar ist. Das System produziert zu viel Stress auf zu viele soziale Gruppen, das merkt man in Deutschland noch nicht überall, aber in den anderen Ländern merkt man es bereits.”

„Und  jetzt ist die Frage: Was passiert dann? Das weiß ich nicht, das weiß niemand, niemand hat eine Kristallkugel, aber man darf schon davon ausgehen, dass Systeme, die überspannt sind oder erschöpft sind, dass die auch irgendwann Mal brechen. Ich will das überhaupt nicht herbeireden, aber ich will noch mal darauf hinweisen, in welcher historischen Situation wir uns befinden. Und jetzt ist die Frage: Wie kommen wir in diese politische Union,  oder wer kommt da mit? Würden die Briten zum Beispiel mitkommen? Die Franzosen? Wie kann man diesen Verfassungssprung, um den es jetzt eigentlich seit 20 Jahren geht, bewerkstelligen, kann man den immer stückchenweise flicken,  so dass wir eine Flickschusterei haben,  das machen wir schon seit längerem,  oder kriegen wir tatsächlich mal einen qualitativen Einigungsschwung hin? Ich bin sehr skeptisch, dass uns das gelingt. Es kann tatsächlich sein im Hegel’schen Sinne, dass etwas sterben muss, damit etwas Neues kommt.“

3. Was könnte passieren, könnte sich die Europäische Union auflösen, kaputtgehen?

„Es gibt ja inzwischen schon wissenschaftliche Studien über die Disintegration der Europäischen Union, das heißt, man kann über den Zeitraum der letzten Jahre schon beobachten, dass de facto große Renationalisierungstendenzen da sind. Wir haben die Griechen, die jetzt sehr auf ihre Souveränität pochen und bestimmte Aspekte der Euro-Politik nicht mehr mitmachen wollen. Wir haben die Deutschen, die sich im Wesentlichen in einer überdehnten Solidaritätsrolle fühlen und behaupten, sie müssten für alle zahlen,  was im Grunde ökonomisch so im Übrigen gar nicht stimmt. Wir haben Frankreich, das in einer problematischen politischen Situation ist und massiv unter dem Druck des Front National steht, das heißt, wir haben in allen Ländern im Grunde Fliehkräfte, wir haben Länder, die weniger Europa wollen, das scheint der Trend der Zeit zu sein, und dieser Trend steht konträr zur politischen Notwendigkeit: Wenn  wir uns sagen, wir wollen den Euro, denn er ist letzten Endes das Reservoir an Frieden, Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität auf diesem Kontinent, wenn man das international betrachtet – wo kämen wir denn dann hin, wenn wir wieder die D-Mark, den Gulden, die Lira hätten? Keiner wird ernsthaft behaupten können, dass das für den europäischen Kontinent in toto profitabel wäre.”

„Wenn wir den Euro behalten wollen, dann müssen wir darüber nachdenken,  wie wir das politische System vollenden, das um den Euro herumgehört, oder eben wie wir der verwaisten Währung ein politisches Zuhause geben, das heißt: Wie bauen wir eine europäische Demokratie? Und diese europäische Demokratie müsste tatsächlich zumindest über Zeit – wie reden hier nicht von drei Monate und auch nicht von drei Jahren – strukturell doch sehr anderes aussehen als das, was wir jetzt haben, ein Beispiel: Das Wichtigste wäre, dass wir dahin kommen, zu verstehen, und zwar intellektuell und gefühlt, dass wir längst in einem Land leben, und dieses Land heißt Euroland. Unsere Außengrenze ist die Währungsgrenze.  Wir tun aber immer noch so, als hätten wir eine Währung,  und als würden in diesem einen Land, Euroland, 18 verschiedene Volkswirtschaften gegeneinander antreten, die französische gegen die deutsche gegen die finnische gegen die griechische und immer geht es darum: Wer ist besser, wer hat die besseren Steuersysteme, wer hat den besten Export? Und am Ende kommt dabei meistens raus, dass Deutschland das beste Land ist, das Häschen mit der dicksten Batterie, wie früher in der Duracell-Werbung, und dann sind wir auch noch stolz darauf, und vergessen dabei, dass das dickste Häschen ohne die anderen Häschen nicht kann und dass es besser wäre, die anderen Häschen mitzunehmen und dass die anderen Häschen de facto unser Rückgrat sind und dass wir auch nicht so ein dickes Häschen wären, wenn die anderen Häschen drumherum nicht in einer symbiotischen Beziehung zu uns stehen würden.“

4. Ein Beispiel, bitte.

„Nehmen wir als Beispiel ein Land wie Slowenien, von dem wir auch behaupten, es hätte eine unabhängige, eigene Volkswirtschaft: Slowenien lebt im Wesentlichen von vier großen deutschen Betrieben, die dort sind, weil die Lohnkosten günstiger sind und so weiter, das heißt, Slowenien hängt voll in der so genannten Wertschöpfungskette der süddeutschen Automobilindustrie – würde man die vier Betriebe aus Slowenien abziehen,  dann hätte Slowenien keine Volkswirtschaft mehr. Was ich damit sagen will, ist: Wir müssen weg von dem Denken, dass wir innerhalb eines Landes, nämlich Euroland, noch unabhängige Nationalökonomien haben, die gegeneinander antreten. De facto ist es beispielsweise auch relativ unsinnig, innerhalb der Eurozone Exportstatistiken zu führen. Wir führen auch keine Exportstatistiken zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Hessen.”

„Wenn wir welche führen würden, wäre Mecklenburg-Vorpommern sicher nicht Exportweltmeister, die Leute dort nennen sich aber eben auch Export-Weltmeister, weil es zu Deutschland gehört; aber auch das Saarland ist kein Exportweltmeister. Das heißt, die eigentlichen ökonomischen Unterschiede in Euroland sind vielmehr Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie  – Nordfinnland, Süditalien, im Vergleich zu Hessen – oder eben Stadt/Land, das heißt, die ganzen städtischen Regionen sind die eher reichen, prosperierenden Regionen und die ländlichen Regionen sind überall die schwachen, auch in Deutschland. Deswegen ist es eine Fiktion, innerhalb von Euroland mit nationalen Grenzen zu operieren, das wird der Sache nicht gerecht.“

5. Wie soll es weitergehen?

„Und das bringt mich zu der Forderung: Euroland braucht eine Demokratie, ein politisches System, das auf dem Grundsatz der politischen Gleichheit beruht, weil jedes politische System auf dem Grundsatz der politischen Gleichheit seiner Bürger beruhen muss, das ist in Deutschland auch so. Und dieses System der Gleichheit könnte man an drei Dingen festmachen: Das erste ist: Wir wählen unser Parlament , in diesem Fall das Europäische Parlament, nach den gleichen Bedingungen, das tun wir derzeit nicht. Zweitens: Wir zahlen die gleichen bürgerschaftlichen Steuern, das heißt Einkommensteuer, Vermögens- und Erbschaftssteuer, die Bürger werden also gleich behandelt. Damit sage ich nicht, dass alle Steuern gleich sein sollen, wie Gewerbe- oder Körperschaftssteuer, es kann schon regionale Unterschiede geben, aber als Beispiel: In München und Rügen haben wir die gleiche Einkommenssteuer, obwohl die Lebensverhältnisse sehr ungleich sind, das Prinzip der politischen Gleichheit ist aber deutschlandweit anerkannt. Drittens: Und wir brauchen den gleichen Zugang zu sozialen Rechten, also etwa gleicher Mutterschutz, gleiche Rechte mit Blick auf Krankheit und Rente. Dieses Prinzip der politischen Gleichheit müsste man runterbrechen auf das Land, in dem wir wohnen, nämlich Euroland, und daraus eine gemeinsame Zukunft vorbereiten, in der wir eben nicht mehr diese Spielchen spielen: ‚Ach, ich geh jetzt als deutsches Unternehmen nach Slowenien, da sind die Arbeiter billiger.’”

6. Deutschland, könnte man entgegnen, würde dann womöglich schlechter dastehen als jetzt, warum sollen wir trotzdem dafür sein?

„Warum sollte man für Klimaschutz sein, es kostet ja so viel? Vielleicht, weil man auch in hundert Jahren noch Essen will und sauberes Wasser haben will? Das ist die „short term costs, long term benefits“-Geschichte. Natürlich kann man sich kurzfristig sagen, wenn man ein deutsches, vermeintlich nationales Interesse  geltend machen möchte: Haben wir denn überhaupt ein Interesse daran, dass es ganz Europa gut geht? Mittel- und langfristig kann man sich ja mal anschauen, wo Deutschland auf der Karte liegt,  um  sich vorzustellen, wie es wäre, in dieser zentralen geografischen Mittellage eine Art Insel der Seligen und der Schönen zu sein, während um uns herum morbide, kranke, populistisch infizierte Staaten sind, die politisch und wirtschaftlich abschmieren. Zu glauben, dass das für uns eine Umgebung ist, in der wir als ,island of the beautiful and wealthy’ lange durchhalten, taugt glaube ich nichts. Wenn man sich also mit einem Blick auf die Karte vergegenwärtigt, in welcher zentralen Mittellage und damit auch in welcher zentralen politischen und geostrategischen Verantwortung Deutschland für diesen Kontinent Europa steht, gibt es gar keine andere Lösung, als dass wir uns mental und intellektuell öffnen für diese Dimension Euroland. Ich glaube, dass diese Sicht; Deutschland kann es auch alleine, und wir haben Lena, und BMW, und Export, und jetzt bauen wir noch ein Schloss in der Mitte von Berlin’ dass das im 21. Jahrhundert nicht die Lösung für den europäischen Kontinent sein kann.“

7. Und was spricht noch für die Europäische Republik?

„Vielleicht laufen die EDITION-F-Leserinnen ja auch mal einem flotten Spanier über den Weg oder heiraten einen smarten Finnen, für das gesamte Thema der so genannten Portabilität sozialer Rechte ist die politische Union wichtig. Will ich vielleicht mal in Barcelona leben, aber dann komm ich zurück und hab ein Kind von einem Dänen, und von wo krieg ich eigentlich mein Kindergeld und was ist eigentlich mit meiner Rente? Diese Erasmus-Jugend ist toll, die Möglichkeit, ein paar Jahre einfach so im Ausland zu verbringen, das ist schick und schön. Aber wenn wir nachher zurückkommen und merken, dass es mit Blick auf die gesamten sozialen Gesetzgebungsstrukturen ,pretty messy ist’, wenn wir mühsam schauen müssen, von wem man eigentlich was bekommt, dann kann ich nur jeder jungen Deutschen und Europäerin sagen, sie sollte eigentlich auch für die Europäische Republik sein. Und da sind  wir ja noch gar nicht beim Thema Scheidung, wenn Sie nachher den flotten Spanier doch stehen lassen wollen und es geht um transnationale Rentenansprüche, das ist pures Chaos, da kann man sich nur wünschen, dass wir uns als europäische Bürger verstehen, dass wir dieser Lebensrealität, die es ja schon gibt – mal eben in London, dann in Paris – politisch und sozial gleiche Rechte folgen lassen.“

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