Rolle rückwärts in alte Muster? Vor 100 Jahren erklärt eine deutsche Parlamentarierin die „Frauenfrage“ für gelöst und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau für erreicht. Heute sagen Studien: Mit den alten Rollenmustern ist Schluss – aber wohl erst in 200 Jahren.
Rolle rückwärts in alte Muster? Vor 100 Jahren erklärt eine deutsche Parlamentarierin die „Frauenfrage“ für gelöst und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau für erreicht. Heute sagen Studien: Mit den alten Rollenmustern ist Schluss – aber wohl erst in 200 Jahren.
In diesem Jahr gibt es viele wichtige Jubiläen zu feiern. Das Bauhaus wird 100 Jahre alt, der deutsche Rundfunk besteht seit 70 Jahren ebenso trat unser Grundgesetz vor 70 Jahren in Kraft. Die SOS-Kinderdörfer feiern 2019 genauso 70 Jahre ihres Bestehens, außerdem wird PETA Deutschland inzwischen auch schon 25 Jahre alt. Wichtige Jubiläen, ohne Frage.
Ein besonderes Jubiläum gab es schon im Februar zu feiern, obwohl bezweifelt werden darf, dass viele Menschen es auf dem Schirm hatten. Vielleicht auch, weil es zusammenfällt mit dem Jubiläumsjahr der ersten demokratischen Verfassung, die von der Weimarer Nationalversammlung verabschiedet wurde. Gegen einen derart gewichtigen Meilenstein der (deutschen) Geschichte ist es natürlich schwer anzukommen.
Marie und die gelöste Frauenfrage
Trotzdem wäre es wünschenswert, dass der erste Auftritt von Marie Juchacz in diesem Zusammenhang mehr als eine Randnotiz ist. Nicht nur, weil sie die erste Frau war, die vor einem deutschen Parlament sprach . Oder weil sie sich als Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, als Redakteurin der Zeitschrift „Gleichheit“ und als Frauenrechtlerin einen prominenten Platz in der Geschichte verdient hätte.
„… und ich möchte hier feststellen, ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.“
Sondern unter anderem auch wegen ihrer Vorstellung einer Revolution, „die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.“ Die „Frauenfrage“, so verkündete Juchacz damals voller Hoffnung und Überzeugung, sei in Deutschland endlich gelöst, weil die Frauen nun und ganz selbstverständlich dieselben Rechte hätten wie die Männer. Womit sie nicht nur das Wahlrecht meinte oder das Recht auf politisches Mitwirken. Es ging ihr auch um die Arbeit im öffentlichen Dienst, als gleichberechtigte und freie Staatsbürgerinnen.
Offensichtlich wurden die Hoffnungen von Marie Juchacz vor 100 Jahren nicht vollständig erfüllt. Schließlich dauerte es noch bis 1957, um im Deutschen Bundestag das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu verabschieden. Spätestens jetzt sollte die Frauenfrage dann doch endgültig und ohne jeden Zweifel geklärt sein. Aber diese Frage hängt eben nur bedingt an gesetzlichen Regelungen. Sie hängt nach wie vor an „alten Vorurteilen“, an alten Rollenmustern.
Gleichberechtigung im Praxistest
Spätestens im Alltagsgeschehen wird in vielen Situationen nach wie vor recht schnell deutlich, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine gewisse Ähnlichkeit mit Franz Schuberts Sinfonie in h-Moll aufweist: Beide unvollendet, beide trotzdem eine Art „Dauerbrenner“ – was für Schuberts Werk sicherlich ein Kompliment, für die Gleichberechtigung hingegen ein Tiefschlag ist.
Denn die Rahmenbedingungen wären schließlich vorhanden, nur müssten sie entsprechend ausgefüllt werden. Auch 100 Jahre nach dem erklärten Ende der Frauenfrage werden sie das aber allzu häufig noch mit altem Rollendenken. Zugegeben, die Ausmaße sind unterschiedlich weitreichend, Ungleichheiten bestehen aber weiter, im Großen wie im Kleinen.
Symptome eines größeren Problems
„Im Kleinen“ sollte allerdings nicht falsch verstanden werden, denn so banal und mutmaßlich vernachlässigbar die Themen manchmal sind, in denen sich Ungleichheit zwischen den Geschlechtern – meist ganz unbewusst, aber das macht es ja auch nicht besser – zeigt, sie sind trotzdem Symptome eines sehr viel größeren Problems.
Das Problem heißt gar nicht so sehr unzureichende Gleichberechtigung, auch wenn es darauf am Ende hinausläuft. Problematisch ist zunächst das ausbleibende Hinterfragen von Alltagssituationen, in denen sich der Mangel an Gleichberechtigung auf vermeintlich harmlose Art und Weise als Normalität manifestiert.
Beispiele gibt hierfür gibt es genug. Sie mögen banal wirken, aber eben nur an der Oberfläche. Das gilt etwa für die weiterhin gültige Arbeitsteilung während der Grillsaison. Gemeinsames Einkaufen – ja. Frauen am Grill – eher nein. Zwar ist laut einer Score Media Group-Studie Grillen keineswegs Männersache, wie beide Geschlechter beteuern. Am Grill stehen dann aber doch doppelt so häufig die Männer und behaupten das Grillen weiterhin als ihre Domäne. Das gilt auch für die Verwendung von E-Zigaretten, was für Frauen kaum in Frage kommt – nicht zuletzt deshalb, weil die Branche selbst sich vorwiegend an Männer richtet.
„Würde man sich heterosexuelle Paarbeziehungen nur innerhalb eines Autos ansehen, käme man schließlich zwangsläufig zu dem Schluss, dass Männer wortwörtlich am Steuer sitzen.“
Anders sieht es hingegen bei einem Thema aus, an dem die Geschlechterklischees nur so haften: dem Autofahren . Hier ist die Rollenverteilung von aktivem, männlichem Fahrer und passiver, weiblicher Beifahrerin ein selten hinterfragter Automatismus, obwohl – wie in den anderen Beispielen vorher – die Voraussetzungen für Mann und Frau gleich sind.
Womit in der Hauptsache deutlich wird, dass Gleichberechtigung, so sehr Marie Juchacz vor 100 Jahren das Gegenteil behauptet hat, eben keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine ständige, bewusste Auseinandersetzung erfordert, um Rollenmuster – im Großen wie im Kleinen – doch irgendwann aufzubrechen.
Aus Tradition gut – oder?
Im Großen bedeutet in diesem Zusammenhang wiederum, dass in der Arbeitswelt immer noch überkommene Vorstellungen von Geschlechterrollen an der Tagesordnung sind. Sie bestimmen die alltägliche Zusammenarbeit mit den männlichen Kollegen genauso wie die Einkommensungleichheit. Während ersteres der offenkundigen Schwierigkeit geschuldet ist, den Berufsalltag frei von sexistischen Denkmustern zu gestalten , ist zweiteres nicht etwa eine Frage mangelnder Möglichkeiten zur beruflichen Verwirklichung, unabhängig des Geschlechts. Es zeigt sich daran vielmehr, wie traditionsgeprägte soziale Normen noch immer wirken.
Zumindest sieht die Ökonomin Johanna Posch keinen Grund, die in Deutschland und im Nachbarland Österreich so eklatant höheren Einkommenseinbußen, mit denen Frauen nach der Geburt eines Kindes rechnen müssen, vornehmlich einer fehlerhaften Familienpolitik zu Lasten zu legen. Sie sieht den ausschlaggebenden Faktor in erster Linie in den vorherrschenden sozialen Normen : Vor allem die Skandinavier sind nach Poschs Einschätzung in ihrer Vorstellung von Geschlechterrollen ein ganzes Stück vor den Deutschen, für die es weitgehend selbstverständlich zu sein scheint, dass die Frau nach der Geburt zu Hause beim Kind bleibt.
Dabei sind mit den Entwicklungen bei der Kita-Betreuung und der Elternzeit-Regelung die Voraussetzungen durchaus vorhanden, die traditionelle Aufgabenverteilung aufzubrechen. Solche Maßnahmen gleichen aber eben nicht die berufliche Realität aus, in der weiterhin ein Gender Pay Gap besteht, der es häufig schon aus finanziellen Erwägungen heraus sinnvoller macht, das klassische Modell vom Mann als Versorger und der Frau als Hüterin von Haushalt und Kindern fortzuführen.
Weil die alten Rollenmuster eben weiterhin funktionieren
In der Praxis bedeutet das dann folgerichtig, dass Familienväter mehr arbeiten als kinderlose Männer. Sogar dann, wenn sie ihrer Erwerbstätigkeit aus dem Home-Office nachgehen, um auf diesem Weg näher an der Familie dran und gleichzeitig berufstätig zu sein. Das hat eine Untersuchung des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung ergeben, die der Frage nachging, wie Mütter und Väter flexible Arbeitsarrangements nutzen .
Für Väter scheinen solche Arbeitsbedingungen in erster Linie eine Möglichkeit zu sein, um noch mehr Zeit in die Arbeit zu investieren. Die Kinderbetreuung profitiert in ihrem Zeitumfang jedenfalls nicht davon. Mütter hingegen verwenden rund drei zusätzliche Stunden für die Sorge um die Kinder, arbeiten aber gleichzeitig auch mehr. Kein Plädoyer für klassische, geschlechterspezifische Rollenverteilungen in Familien, gleichzeitig aber auch kein besonders differenzierter Blick auf die Hintergründe.
Der Subtext deutet vielmehr an, dass Väter lieber ihrer Arbeit nachgehen und die Mütter mit der offenkundigen Doppelbelastung allein lassen. Ohne Zweifel müssen sich Männer angesichts der vorgelegten Zahlen die Frage gefallen lassen, wieso sie ihrer Vaterrolle nicht in größerem (zeitlichen) Umfang gerecht werden. Umgekehrt können die weiterhin auf den Gender Pay Gap verweisen – und damit auf die Notwendigkeit, alte Rollenmuster nicht nur anzuprangern, sondern ihnen auf politischer und betrieblicher Ebene entgegenzuwirken.
Der Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums macht in dieser Hinsicht zudem nicht allzu viel Mut (den Report gibt es hier in voller Länge in englischer Sprache): Die Gleichberechtigungsquote liegt nach der Studie weltweit bei 68 Prozent, Deutschland mit 77,6 Prozent über dem Durchschnitt, was immerhin für Rang 14 unter 149 untersuchten Ländern reicht. Dass es bei der ökonomischen Teilhabe allerdings nur einen 36. Platz gibt, zeugt dann doch wieder von einem gewissen Verbesserungspotenzial.
Richtiggehend erschreckend ist allerdings das Ergebnis, zu dem der Report bei den Zukunftsaussichten kommt. Über 200 Jahre wird es demnach noch brauchen, bis die weltweite Gleichberechtigung erreicht ist. Vorzugsweise nicht erst in 200 Jahren.