Unsere Community-Autorin Anne Sophie lebt mit Mann und Tochter in Kalifornien – und schreibt über ihren schweren Start in Orange County, wo sich die Familie allein und isoliert fühlte – trotz jeder Menge Menschen um sie herum.
Das Gefühl, unter Menschen zu leben
Ich sitze an der Eckbank unserer neuen Wohnung. Draußen ist es bereits dunkel, meine Tochter schläft und mein Ehemann kommt erst in einer halben Stunde nach Hause.
Von draußen nehme ich durch die offenen Türen aller Wohnungen die Geräusche des Fernsehers unserer Nachbarn war, die intensiven Gespräche aus einer anderen Wohnung und zeitgleich das Knallen des gigantischen Feuerwerks von Sea World, das jeden Abend die Erde erbeben lässt. Doch am dominantesten hallen noch die Stimmen in meinen Ohren nach von den Gesprächen des heutigen Tages.
Von dem Gespräch mit dem Nachbarn, der mir von dem Erwerb seines neuen Hauses am Meer erzählte. Oder von der Unterhaltung über die Herausforderungen des Jobs eines anderen Nachbarn, der in derselben Branche wie mein Mann arbeitet. Ich höre noch immer das Gekicher meiner Tochter und unseres gleichaltrigen Nachbarjungen, die sich köstlich darüber amüsierten, einen kleinen Schoßhund zu streicheln. Auch das Gespräch mit einem weiteren Nachbarn, der uns für den nächsten Tag zur Bay einlud, klingt noch nach.
Ich lasse diese Stimmen und Gespräche in mir nachklingen. Sie klingen nach und verbreiten in mir ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme. Ein Gefühl, nicht alleine zu sein. Nicht haltlos in dieser Welt herumzuschwirren. Das Gefühl, dass wir unter Menschen leben.
Wie sehr habe ich mich danach gesehnt.
Mag sein, dass sich das gerade danach anhört, als hätten wir die letzten neun Monate mitten in der Antarktis gewohnt. Mag sein, dass ich ein wenig übertreibe. Doch leider übertreibe ich nicht damit, dass ich einsam war.
Einsam zwischen Millionen von Menschen.
Die letzten Monate in Orange County lebten wir unter Millionen anderer Menschen. Unter Menschen, die in ihren Wohnungen und Häusern lebten, sich in ihr Auto auf den Weg in die Bürokomplexe machten und die wir nie zu Gesicht bekamen. Es war immer still. Die Spielplätze waren leer und einsam. Manchmal sah man die Nachbarn in ihre Wohnungen eilen. So schnell, dass die Gelegenheit für ein bisschen Small Talk direkt im Keim erstickt wurde. Am Tag unseres Umzugs haben wir uns von niemandem verabschiedet.
Diese Ruhe hat mich manchmal in den Wahnsinn getrieben.
Ich kam als jüngste von drei Mädchen auf diese Welt. Bereits im Bauch meiner Mutter haben ich meine Schwester spielen und streiten gehört. Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, in der Kinder laut und lebendig sein durften. Ich fühle mich wohl und geborgen, wenn ich Leben und Trubel um mich herum spüre und hören kann.
Doch bewusst war mir das nie.
Das erste Mal, als ich spürte, wie sehr ich den Trubel schätze, war, als ich nach meinem dreimonatigen Praktikum in New York zurück im Allgäu war. Ich saß auf meinem Bett und alle Geräusche waren eingedämmt, damit ich mich auf den Lernstoff im Studium konzentrieren konnte. Doch anstatt mich zu konzentrieren, machte sich eine große Leere in mir breit. Diese Leere lernte ich wieder zu füllen. Mit Freunden, Familie und einem Leben unter anderen.
All das war in Orange County verschwunden. Von jetzt auf gleich.
Diese Einsamkeit führte dazu, dass wir uns entschieden, nach San Diego zu ziehen. Und dort in einen Ortsteil, in dem ich wir mittendrin sind. Mittendrin zwischen Surfern, die mit ihren Fahrrädern und dem Brett unterm Arm zum Meer düsen. Mittendrin zwischen Familien und Kindern, die sich an der Bay mit Schlamm beschmeißen.
Mittendrin zwischen Millionen von Menschen.
Mittendrin und nicht mehr einsam.
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