Wie verändert es meine Persönlichkeit und meine Wahrnehmung, wenn ich diese OP mache – oder ändert sich gar nichts? Das fragt sich unsere Community-Autorin, die kürzlich eine Augen-OP wagte.
„Ich hätte gern weniger eigensinnige Augen!“
Feenfrage: „Wenn du eine Sache an dir ändern könntest, nur eine einzige, was würdest du ändern?“ Ein bisschen Oberschenkelfett weg? Die Nase kleiner? Die Lippen voller? Größer sein? Kleiner sein? Vollerer Busen, weniger Busen, gar keinen Busen? Es könnte alles sein, was du willst. Was wäre es?
Hätte mir je irgendeine so verdammt ersehnte Fee diese Frage gestellt, ich hätte, seit ich denken kann, sehr genau gewusst, was ich sage. Ohne zu überlegen. Ich hätte gesagt: „Ich hätte gern weniger eigensinnige Augen!“ Das war der Euphemismus meiner Wahl: eigensinnige Augen. Albern, aber alles andere klingt schlimmer und ist mit mehr Stigmata besetzt.
Also: „eigensinnige Augen“. Absolut keine Teamplayer. Das jeweils eine schaut an, was ich sehen möchte, das andere geht derweil spazieren. Sie sehen beide ausgesprochen gut – nur halt nie gemeinsam. Das bisschen Gemeinsame, das sie mal hatten – nämlich die Gleichzeitigkeit – wurde ihnen durch stetes Pflasterkleben, als ich ein Kind war, ausgetrieben. Mein Gehirn hat sich angewöhnt, immer nur das Bild des einen Auges auszuwerten. Das andere darf gern schauen, wenn es will, bringt aber nichts. Meine ganze Welt ist zweidimensional.
Kinderjahre mit unangepassten Augen: Viele gebrochene Glieder und Herablassung
Das kommt mit einer größeren Anzahl an Unannehmlichkeiten, als man es sich als Mensch mit angepassten Augen vorstellen kann. Und mit weitaus mehr Schmerzen. Im Kindesalter verschätzt man sich bei jedem zweiten spontan-begeisterten Losrennen mit Bordsteinen, Ästen, Laub, Pfützen, Stufen und so weiter, und die Freude wird sehr schnell zu einer blutenden Wunde an Kinn, Knien, Ellbogen und in meinem Fall vor allem den Lippen. Wenn ich Kinderfotos anschaue, dann sind da ebenso viele mit aufgeplatzter Lippe wie ohne. Etwas später ist da die ewige Demütigung des Pausenhofs und des Sportunterrichts. Denn leider spielt man nicht immer mit demselben Ball, sondern ständig mit anderen. Mit demselben Ball kommt mein Gehirn nämlich zurecht. Es kann irgendwann, ohne Dreidimensionalität, die Größe des Balles im Raum berechnen.
Aber nur dann, wenn es ständig mit dieser Aufgabe und vor allem mit diesem Ball konfrontiert wird. Verschiedene Bälle bekommt es nicht hin. Und so habe ich mir im Sportunterricht abwechselnd Finger gebrochen, Finger verstaucht, Gliedmaßen geprellt, Blaue Flecke geholt – und eine Menge Herablassung auf meine Seele herunterrieseln lassen. Denn man kann alles in der Schule sein und können, wenn du im Sport nicht gut bist, dann bist du keines von den coolen Kids. Ich weiß nicht genau, was schlimmer ist: wirklich nicht gut im Sport zu sein – oder Sport an sich zu lieben und dennoch keine Chance darin zu haben. Ist mir auch schnuppe. Als ich mir in der 12. Klasse die Nase beim Hürdenlaufen gebrochen habe, weil ich die Entfernungen zwischen der ersten und der zweiten Hürde nicht abschätzen konnte, kam mein Sportlehrer genervt auf mich zu und sagte: „Können Sie sich jetzt bitte mal endlich ein Attest besorgen? Ich kann das wirklich nicht weiter verantworten!“ Als hätte ich irgendetwas lieber gemacht als das. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte mir nur nie jemand gesagt, dass ich mir eines ausstellen lassen kann. Weder Lehrer, noch Ärzte, noch meine Eltern. Ich hätte sofort. Hab ich dann auch. Und war schrecklich wütend darüber, wie einfach es war.
… und dann kam die Pubertät
Dann gibt es natürlich eine Menge Peinlichkeit auf allen Seiten, die während Pubertät und Post-Pubertät besonders wirkt. Man schüttet ständig etwas daneben. Oder man greift ins Leere. Solche Sachen. Vor allem aber verschuldet man schuldlos Peinlichkeit bei anderen, wenn man sie anspricht und sie wissen nicht, ob sie oder der nicht vorhandene Mensch rechts hinter ihnen gemeint ist. Immer rechts. Egal welches Auge gerade führt. Nichts ist mir so vertraut und verhasst wie diese kleine verstohlene Drehung meines Gegenübers nach rechts hinten um zu schauen, ob da noch jemand steht. Nicht verhasst, weil das Gegenüber sie ausführt, sondern weil ich eine solche Situation verschulde und das nicht möchte.
Oder diese natürliche Annahme, ich sei geistig behindert. Denn das wird nun einmal gern miteinander in Verbindung gebracht. Das hat natürlich auch Vorteile, ich gebe es zu: wenn ich mich an eine Behindertengruppe geheftet und den jeweiligen Verkäufer oder die Verkäuferin irgendwelcher Eintrittskarten freundlich mit direktem Blickkontakt angeschaut habe, bin ich nicht nur einmal umsonst irgendwo reingekommen. Noch vor wenigen Tagen stand ich in einer Schlange um mir ein Buch signieren zu lassen. Viele derjenigen, die dort anstanden, waren taubstumm. Der Autor des Buches schaute jeweils freundlich auf, um sich einen Eindruck zu machen, ob er fragen sollte, was er schreiben solle, oder besser mal nicht und bei mir kam er sofort und eindeutig auf den Schluss besser mal nicht. Als ich dann sehr deutlich, während er seinen Namen schrieb „Vielen Dank“ sagte, rutschte er vor Schreck aus.
Auch wenn man Humor hat, ist man verletzlich
Damit lernt man natürlich zu leben und es mit Humor zu nehmen. Doch was viele nicht einschätzen: damit leben zu lernen heißt nicht, dass die Implikationen aufhören weh zu tun. Dass man nicht ständig schreien möchte: „Das bin nicht ich, das sind nur meine Augen!“ Es ist wie mit der Trauer, der Stich wird harmloser, aber nur, wenn man darauf vorbereitet ist. Immer wieder geht er tief unter die Haut. Weg ist es nie.
Was mich dazu veranlasst dort zu sitzen, wo ich gerade sitze: auf einem Krankenhausbett kurz vor einer Augen-OP, bei der der Außenmuskel des rechten Auges in Falten gelegt und der Innenmuskel aufgetrennt und neu angenäht wird. Oder anders herum. Ob es wirklich das rechte Auge sein wird, ist auch noch nicht wirklich klar. Ich habe dafür vier Din A-4-Seiten möglicher Komplikationen mit meiner Unterschrift zur Kenntnis genommen. Völlig selbstverständlich, denn so eine Operation hatte ich mir doch all die Jahre so furchtbar gewünscht. Mein Traum war es gewesen Schauspielerin zu werden.
Nein nein, nicht so, wie viele Mädchen und Jungs davon träumen. Ich meinte wirklich, dafür geboren zu sein und ich glaube es bis heute. Ich hatte Schauspielunterricht, Tanzunterricht jeder Art, ich habe mich fit gehalten, kannte alle Klassiker, habe klassischen Gesang gelernt, lebte eine Weile als Au-Pair in England bei einem Regisseur der Royal-Shakespeare Company, der mich unterrichtete, mir Clowning-Workshops spendierte, mich mit Tickets für all diese wunderbaren Theater Londons versorgte und fest an mich glaubte. Seine Frau, eine Opernsängerin, gab mir alle paar Tage Gesangsunterricht und brachte mich später mit einer Freundin zusammen, die mich besser unterrichten konnte, weil sich unsere Stimmlagen ähnelten und sie daher vertrauter mit dem Repertoire war, das zu mir passte. Es war der Himmel! Dann zog ich nach Berlin und arbeitete nebenbei am Berliner Ensemble in der Kantine, wo ich eine Menge meines Idealismus verlor, vor allem aber – durch ein einziges Gespräch – den Glauben, jemand mit meinen Augen könnte von diesem Beruf jemals leben. Denn das hatte ich nun wirklich zu glauben gelernt: es ist ein Makel – einer von der Sorte, die dich weniger Wert sein lässt.
Wer werde ich ohne diesen Makel sein?
Aber was werde ich morgen ohne diesen Makel sein? Wer werde ich sein?
Der morgige Tag steht vor mir wie eine schwarze Wand. Plötzlich fühlt es sich so wenig erstrebenswert an, eine von den Normalen zu sein. Klar, das liegt unter anderem daran, dass ich ganz und gar keine Lust auf die Operation an sich habe, aber eben auch daran, dass mich etwas ausgemacht hat. Anders hat sein lassen. Und ich konnte nie den Wert erkennen, den das hat. Es gab immer nur das riesenhafte „Weg damit!“ Das war so groß, das ließ keinen Raum. Und jetzt sind plötzlich Umrisse von guten Seiten zu erkennen.
Mal ganz abgesehen davon, dass ich meinem Mann, als dem ersten Menschen auf diesem Planeten abnehme, dass er meine Augen liebt, so wie sie sind. Denn er hat es mir nie selbst gesagt. Es fiel keiner dieser wohlbekannten Sätze wie „Ach, das ist doch nur ein Silberblick“ (Silberblick ist das von mir meistgehasste Wort im gesamten deutschen Vokabelschatz – da brauche ich nicht noch einmal zu checken.) oder „Früher war das sogar sexy!“ Ernsthaft, ich wäre reich, hätte ich für Sätze dieser Art auch nur sehr geringen Schadenersatz verlangt. Nein, mein Mann hat davon nicht mir, sondern einer seiner besten Freundinnen vorgeschwärmt, noch in der Nacht, in der wir uns kennen gelernt haben, und die hat es mir dann Jahre später erzählt. Ich hätte ihn wohl auch sonst geheiratet, aber es ist schon ein Pluspunkt.
Ich weiß, wie es ist, keine von „den Normalen“ zu sein
Aber was mich wirklich davon abhält, das deutsche Versicherungswesen zu verfluchen, das mir bisher eine solche Operation als „nicht durchführbar“ verkauft hat, bis ich Privatpatientin wurde und es plötzlich ein angeblicher „Routine-Eingriff“ ist, ist die Tatsache, dass ich wirklich weiß, wie es sich anfühlt, keine von den Normalen zu sein. Ohne Scheiß, das ist groß. Ich habe keine Ahnung davon, wie es ist, ein schwarzes Mädchen in einem weißen Freundeskreis zu sein – und irgendwie doch. Ich habe keine Ahnung davon, wie es ist ein krankes Mädchen zwischen Gesunden zu sein – und irgendwie doch. Ich habe keine Ahnung davon, ein trauriges Mädchen, zwischen Glücklichen zu sein – und irgendwie doch. Die Liste geht ins Unendliche. Und für all diese Mädchen bin ich glaubhaft. Das schafft niemand „Normales“. Oder zumindest nicht viele.
Vor einiger Zeit bin ich in der Schule, an der ich arbeite, mit ein paar Schülerinnen und Schülern im Aufzug gefahren. In der zweiten Etage stieg unter anderem ein Junge aus, nennen wir ihn Max. Als sich die Fahrstuhltür schloss, war ich allein mit einer Schülerin, die ebenso wie Max einen meiner Philosophie-Kurse besuchte und sie sagte: „Frau Helbich, ich weiß nicht ob sie das interessiert. Aber der Max redet eigentlich nur bei Ihnen im Unterricht!“ Das hat mich furchtbar gefreut, denn Max war damals ein Stotterer. Da ich das zu Anfang nicht wusste, habe ich, ausgerechnet nach umgekehrtem Alphabet, Referatsthemen verteilt. Er hat, obwohl er das Recht dazu hätte, nicht darum gebeten, das Ganze schriftlich einzureichen. Stattdessen hat er sich da vorne hingestellt, eine ganz ordentliche Präsentation gezeigt und mit jedem einzelnen Wort, plus all der Blicke, plus der Hitze, die vom Hals in den Kopf stieg, gekämpft. Am Ende der Stunde habe ich ihn natürlich dafür gelobt, wie es jeder anständige Lehrer tun würde – und dann kam der Satz, der mich heute nicht loslässt: „Wieso? Sie halten das doch auch aus!“
Es gab keinen Grund, sich schlecht zu fühlen
Im ersten Moment schien er sich schrecklich dafür zu schämen und dann passierte etwas mit der Energie des Raumes. Oder irgend so etwas. Das, was eben passiert, wenn man sich in einer anderen Sphäre von Wahrheit begegnet. Wenn man all diese Rollen, die man zu spielen hat, und die ja auch ihren Sinn haben, kurz ablegt. Dort in dieser Sphäre gab es nun wirklich keinen Grund sich schlecht zu fühlen für eine dermaßen gute Beobachtung. Ich antwortete daher auch irgendetwas absolut nicht Angebrachtes wie: „Es ist zum Kotzen, oder?“ Und dann lachten wir – und ich gab ihm eine Zensur, die keinerlei „Behinderten-Bonus“ vermuten ließ, was er zu schätzen wusste.
Als Max sein Abitur ablegte, war von seinem Stottern nicht mehr viel übrig. Er hatte eine sehr gute Therapeutin gefunden, von der er mir gelegentlich erzählte. Keine Ahnung, ob er sich auch je Gedanken darüber gemacht hat, ob ihm etwas verloren ging. Ich traue es ihm zu.
Wie wird sich mein Umgang mit Menschen ändern, wenn ich „normal“ bin?
Eine andere Frage, die ich mir stelle, ist die, wie ich ohne meinen eingebauten Kompass zurecht kommen werde. Bevor mein Verstand mir eine klare Aussage darüber geben kann, ob ich jemandem vertraue, haben es nämlich meine Augen längst getan. Wenn ich jemanden kennen lerne, sorgt mein Unterbewusstsein erst einmal dafür, dass ich mich links von ihm aufhalte, denn wenn ich schräg nach rechts schaue, sieht man das Schielen am wenigsten. Ich muss dafür nichts tun, ich befinde mich einfach dort. Lange wusste ich nicht einmal etwas davon. Wann immer ich darauf achte, ist das alles schon so eingerichtet. Und wenn ich es einige Zeit später wieder beobachte, schaue ich mein Gegenüber entweder gerade an, dann hat sich Vertrauen eingestellt, oder ich bleibe in meiner Sicherheitszone.
Es mag sich seltsam anhören, aber den Menschen der letzteren Art bleibe ich seit einigen Jahren einfach gleich fern. Früher habe ich ihnen irgendetwas beweisen wollen. Aber das hat sich als vergebliche Liebesmüh erwiesen. Ein paar Dinge lernt man ja doch aus Erfahrung.
Wenn mir jemand komplett blöd kommt, schaue ich übrigens auch gerade in dessen Augen. Mit Vergnügen sogar. Gern bei Problemgesprächen, mündlichen Prüfungen (der unangenehmen Art) oder ähnlichem. Dann lächle ich freundlich und wechsle in unregelmäßigen Abständen das Führungsauge. Dann verliert das Gegenüber gern den Faden, hat aber keine Ahnung warum, und wenn doch, wird es sich hüten, mich darauf anzusprechen. Zugegeben: das macht sogar Spaß! Andere müssen sich dafür den Gesprächspartner auf dem Klo sitzend vorstellen, oder ähnlich Unappetitliches, ich kann ihn nur durch meine Augen in den Wahnsinn treiben.
Stelle ich mich meiner Lebensaufgabe nicht mehr?
Was mich aber am meisten stört ist, dass ich mich dem, was mir vielleicht als Aufgabe mitgegeben wurde, nicht mehr stellen können werde. Dieser Vorschlag wurde mir von so vielen schlauen Menschen im Laufe meines Lebens gemacht: „Werde doch einfach die Schauspielerin, die schielt! Die, die so gut ist, dass sie trotzdem genommen werden muss.“, „Sei doch einfach die, die mit ihrem Schielen gerade in die Augen der anderen schaut! Das erzeugt doch Achtung.“, „Nimm dich doch einfach so an!“
Ha! „Einfach“! Die haben gut Reden. Das war meine Reaktion. Aber diesem Reden zugehört, wirklich zugehört, habe ich nie. Es ist ja so viel einfacher, einen Makel für seine eigene Schwäche verantwortlich zu machen. Es ist so viel einfacher, sich dahinter zu verstecken. „Die Welt will mich halt nicht so, wie ich bin!“ – vielleicht hat die Welt ja viel mehr drauf, als ich ihr zutraue. Ich werde es nicht mehr erfahren, wenn morgen alles klappt.
Und wenn alles klappt, was dann? Da ist ja immer noch die Nase, die mal gebrochen war – und so sieht sie auch aus. Und die Lippen, die ständig aufgeplatzt waren – und so sehen sie auch aus. Wenn ich auch das alles wegmachen lasse, was ist dann? Sicherlich sind dann noch einige andere Dinge zu finden, die „nicht normal“ sind. Oder schaue ich vielleicht schlicht in die falsche Richtung?
Auf den vier Seiten über die Komplikationen fehlte offensichtlich einiges!
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