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Wie uns Unsicherheit formt und fördert: Vier Frauen teilen ihre Erfahrungen

Bin ich genug? Wie wird sich mein Leben in Zukunft verändern? Viele Menschen sind unsicher. Wir haben mit vier Frauen über ihre Unsicherheiten gesprochen und sie nach ihren Strategien und sicheren Orten gefragt.

Es ist das Gefühl unserer Zeit: Unsicherheit. Der Job, die eigene Gesundheit, der nächste Sommerurlaub – alles was zuvor als kontrollierbar und selbstverständlich erschien, ist plötzlich fragil. Es ist ein Kontrollverlust. Doch um Unsicherheit zu empfinden, braucht es nicht mal eine weltweite Pandemie, manchmal reicht sogar ein schiefer Blick der Nachbarin, ein Mensch, der sich in der U-Bahn wegsetzt oder Kritik von Kolleg*innen. Dazu kommt der ständige Vergleich mit anderen in den sozialen Medien: ihren Körpern, ihren Leben, Beziehungen und Erfolgen. 

Oft geht das diffuse Gefühl der Unsicherheit auf eine eindeutige Frage zurück: Bin ich genug? Aber müssen wir die Unsicherheit – wie viele Ratgeber uns verkaufen wollen – wirklich überwinden, oder aushalten? Oder können wir vielleicht sehr gut mit ihr leben, ist sie vielleicht sogar hilfreich?

Die Autorin Magda Albrecht, die Journalistin und Aktivistin Natalie Dedreux, die Redakteurin Lin Hierse und die Referentin und Aktivistin Jenny Wilken haben uns von ihren Unsicherheiten erzählt. Wir haben sie nach ihren Strategien im Umgang mit Unsicherheit gefragt und wozu Unsicherheit gut sein kann.

Lin Hierse

Foto: Privat

Lin Hierse ist Redakteurin der taz am Wochenende. In der Kolumne Poetical Correctness schreibt sie über Politik, Intersektionalität und Identität. Sie ist studierte Asien- und Afrikawissenschaftlerin und hat außerdem Stadtforschung studiert. 

In welchen Situationen bist du unsicher?

„Einerseits sind das die Klassiker – ich bin unsicher, wenn ich eine Situation nicht ganz überblicken oder einen Menschen nicht gut einschätzen kann. Das kann auch passieren, wenn ich eigentlich gut vorbereitet bin, aber dann etwas passiert, womit ich nicht gerechnet habe. Das kann unangenehm sein, besonders wenn es ein Publikum gibt, das mir dabei zusieht oder zuhört.

Viel schwieriger finde ich aber Unsicherheit mit mir selbst. Wenn ich plötzlich etwas fühle, sage oder tue, was ich so von mir nicht erwartet hätte, dann bringt mich das oft mehr aus dem Konzept als andere Menschen.“

Wie gehst du mit Unsicherheit um?

„Ich glaube, ich gehe eher mit der Haltung durchs Leben, dass die Dinge (fast) immer anders kommen als gedacht. Das mag daran liegen, dass ich diese Erfahrung schon früh und häufig gemacht habe. Und vielleicht auch damit, dass ich in den vergangenen Jahren viel mit Verlust und Trauer zu tun hatte. Für mich war das ein Perspektivengewinn: Was ist wirklich wichtig? Welche Dinge kann ich beeinflussen und welche nicht? Was und wen nehme ich womöglich zu ernst? Wann stresse ich mich mit Szenarien, die nur unter ganz spezifischen Umständen überhaupt eintreten?

Bei mir dreht sich einfach sehr schnell das Gedankenkarussell. Aber mittlerweile denke ich: Das gehört halt dazu. Ich mag mein Karussell. Ich muss nur manchmal ein bisschen aufpassen, dass es sich nicht zu schnell dreht.

Was mir oft ganz akut hilft: Atmen. Wenn möglich, etwas Zeit nehmen. Und: Wenn ich mich wohl genug fühle, unbedingt die Unsicherheit transparent machen. Das hilft einerseits mir selbst und trägt hoffentlich auch zu einem offenen, entspannteren, kollektiven Umgang mit Unsicherheit bei. Einfach zu sein, wie man in dem Moment eben ist – das finde ich in der Regel viel schöner, als sich noch zusätzlich aufzuerlegen, die Unsicherheit verstecken zu müssen.“

Wann hilft Unsicherheit und warum?

„Mir geht es viel besser mit meiner Unsicherheit, seit ich sie nicht als meine Feindin, oder einen Makel betrachte, den ich unbedingt loswerden muss. Wenn ich unsicher bin, dann hat das ja meistens gute Gründe. Es kann zum Beispiel bedeuten, dass ich eine Aussage, eine Situation oder eben mich selbst infrage stelle. Und infrage stellen finde ich gut.

Ich meine das ausdrücklich nicht im Sinne einer Selbstoptimierungslogik, nach der wir nun auch noch unsere Unsicherheiten im Griff haben und lieben müssen – im Job, im Leben, mit uns selbst. Ich glaube, das ist Bullshit. Niemand muss alles im Griff haben und alles an sich lieben. Aber Unsicherheit ist im Grunde Irritation. Ein Zeichen, dass wir uns und die Welt nie ganz verstanden haben. Das ist wichtig, um keine absurden Ansprüche an sich zu stellen und um sich Demut zu bewahren.“

Was macht dich sicher?

„Das hängt mit vielen Dingen zusammen: Ort, Kontext, ich selbst, die anderen. Aber im Grunde macht mich vor allem sicher, wenn ich um ein stabiles Netz weiß. Also um Menschen, die mir wichtig sind und für die sich mein Wert nicht an einzelnen Momenten oder Aussagen misst. Außerdem helfen Erfahrung, Routinen, Übung und wieder die Frage der Verhältnismäßigkeit. Der Gedanke, dass ich schon ganz andere Sachen geschafft habe im Leben.“

Magda Albrecht

Foto: Privat

Magda Albrecht ist Autorin, Musikerin und engagiert sich in der politischen Bildungsarbeit. Sie hält Vorträge und gibt Workshops zu Strategien der Selbstermächtigung, queer_feministischer Aktivismus, Körpernormen und Dickendiskriminierung. Wer dick ist, hat versagt, ist faul und ungebildet – das sind tief in unserer Gesellschaft verankerte Ressentiments. Warum eigentlich?, hat sich Magda Albrecht gefragt, nachdem sie schon als Sechsjährige abfällige Kommentare über ihren dicken Körper hörte. Doch sie hat gelernt, dem Schlankheitsideal etwas entgegenzusetzen: stolze Fatshionistas. Im Januar 2018 ist ihr Buch „Fa(t)shionista – Rund und glücklich durchs Leben“ erschienen. 

In welchen Situationen bist du unsicher?

„Ich bin unsicher in Situationen, die neu für mich sind und die ich nicht gut einschätzen kann. Oftmals auch, wenn ich das Gefühl bekomme, etwas nicht zu können oder von anderen abgewertet zu werden. Da geht meine Coolness häufig flöten.“ 

Wie gehst du mit Unsicherheit um?

„In beruflichen Kontexten werde ich entweder sehr aktionistisch und versuche mit viel Arbeit, meine Unsicherheiten zu überspielen, oder ich mache ständig Flüchtigkeitsfehler, weil mich Unsicherheiten in der Tat ganz schön blockieren. In privaten Kontexten spiele ich die Witzboldin, um meine Nervosität zu verdecken – ist einer meiner besten Skills geworden, weshalb ich wohl auch eher selbstbewusst oder tough auf andere wirke. Ich habe erst in den vergangenen Jahren gelernt, dass es mitunter auch heilsam sein kann, offen zu den eigenen Unsicherheiten zu stehen.“ 

Wann hilft Unsicherheit und warum?

„In Situationen, wo mensch mit anderen zusammen unsicher sein kann. Dann mag das eine gute Bonding-Erfahrung sein. Ansonsten bedeutet Unsicherheit beziehungsweise Unsicherheiten zugeben für mich oft einfach nur Kontrollverlust. Kein besonders gutes Gefühl, wenn ich ehrlich bin. “

Was macht dich sicher?

„Wenn Menschen beruflich und privat Fehlerfreundlichkeit und ein wertschätzendes Miteinander pflegen und ihren Humor behalten – auch wenn es mal stressig wird. Ansonsten: Meine Wohnung (aka meine Höhle), meine Freundin und meine Routinen. Eine Tagesstruktur, Pläne oder Listen helfen mir, mich im Wirrwarr der alltäglichen Unsicherheiten zurechtzufinden.“ 

Natalie Dedreux

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Natalie Dedreux ist Journalistin und Aktivistin. Unter anderem schreibt sie für das Magazin „Ohrenkuss“ oder auf ihrem eigenem Blog. Natalie Dedreux setzt sich für die Rechte von Menschen mit Down-Syndrom ein. Dafür hat sie eine Petition gestartet, gegen den Down-Syndrom-Bluttest als Kassenleistung, der während der Schwangerschaft vorgenommen werden kann. Für ihre Recherche zum Thema hat sie auch mit Angela Merkel gesprochen.

In welchen Situationen bist du unsicher?

„Also wenn ich mit der Bahn unterwegs bin, das ist eigentlich kein Problem – da komme ich klar, aber wenn mal ein Zug oder Bus ausfällt, dann bin ich unsicher, wie ich damit umgehen soll. Das ist schwierig und verunsichert mich.“

Wie gehst du mit Unsicherheit um?

„Ich rufe dann meine Mutter an. Sie macht dann quasi eine Assistenz und lotst mich. Sie hilft mir dann und sagt, wo ich lang muss und was ich machen kann.“

Wann hilft Unsicherheit und warum?

„Viele Dinge schaffe ich ganz gut alleine. Ansonsten ist Hilfe schon wichtig und auch, dass man sie annehmen kann.“

Was macht dich sicher?

„Ich bin ein sehr mutiger Mensch. Ich komme eigentlich ganz gut klar. In meiner WG fühle ich mich sehr wohl. Denn ich bin ausgezogen und das klappt ganz gut.“

Jenny Wilken

Foto: Privat

Jenny Wilken setzt sich für transinklusive Räume in der Hoschulpolitik ein, um die Studienbedingungen für Trans Personen zu verbessern. Dafür war sie Queer-Referentin im Studierendenrat der Universität Jena und Mitglied in der Bundeskoordination der schwulen, schwul-lesbischen und queeren Hochschulgruppen. Außerdem arbeitet Jenny als Diversity Coach und freie Referentin der queeren Bildung. Seit Oktober 2020 ist sie Fachbeirätin von Lesbisch.Sichtbar.Berlin. Sie hat Kulturgeschichte in Jena studiert und dabei einen Schwerpunkt im Bereich der Geschlechterforschung gesetzt. 

In welchen Situationen bist du unsicher?

„Unsicher bin ich beispielsweise in Bewerbungsgesprächen, weil ich nicht weiß, inwiefern meine Transidentität eine Rolle spielt oder die Leute gar verunsichert. Verunsichert bin ich auch bei Toilettengängen oder bei Veranstaltungen, bei denen ich nicht weiß, ob dieser Ort ein transinklusiver Raum ist. Auch das Aufeinandertreffen mit Rechtsradikalen oder größeren Gruppen von (meist männlichen) jungen Erwachsenen macht mir Angst und verunsichert mich.“

Wie gehst du mit Unsicherheit um?

„Bei Bewerbungsgesprächen versuche ich mich zu beherrschen und zu entspannen mithilfe von Entspannungstechniken. Bei Toilettengängen und den Begegnungen mit Rechtsradikalen oder größeren Gruppen versuche ich mich auf meine Kampfsporterfahrung zu verlassen und die Angst zu beherrschen.“

Wann hilft Unsicherheit und warum?

„Unsicherheiten helfen, mit Ängsten und Unbekanntem umzugehen, es zeigt Mut, diese Unsicherheiten anzugehen und zu überwinden.“

Was macht dich sicher?

„Meine Ehefrau bietet mir Sicherheit durch ihre Unterstützung oder Gespräche. Ebenso helfen mir Freund*innen, die mich beispielsweise bei Toilettengängen begleiten, oder die ich im Fall der Fälle anrufen könnte. Auch meine Kampfsporterfahrungen geben mir zu einem Teil Sicherheit. Oder aber das Wissen, dass es bei der Polizei LSBTI-Ansprechpersonen gibt, falls ich Opfer einer Straftat werde.“

Dieser Artikel erschien erstmals im April 2020 bei EDITION F PLUS.

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