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Bye-bye Britain?

Wie die Parlamentswahlen in Großbritannien und ein möglicher „Brexit” den Kurs Europas verändern könnten.

 

Welche Auswirkungen hätte der „Brexit”?

Am 7. Mai wählen die Briten ein neues Parlament, letzte Umfragen prognostizierten ein knappes Rennen zwischen den regierenden Konservativen von Premierminister David Cameron und der oppositionellen Labour-Partei von Ed Miliband. Eng verknüpft mit dieser Wahl ist die Frage nach einem Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union (EU). Was bis vor zehn Jahren noch undenkbar war, ist passiert: Der mögliche Austritt ohne zwingende Gründe eines der führenden EU-Mitgliedstaaten war zentrales nationales Wahlkampfthema geworden.

Das hätten selbst Euro-Skeptiker nicht gewagt vorherzusagen. Auch wenn die Geburt von Baby Charlotte im britischen Königshaus landesweit großen Anlass zum Jubel bot, liegt gegenwärtig deutliche Unsicherheit in der britischen Bevölkerung sowie innerhalb der politischen Klasse in der Luft. Denn wenn es zu einem Referendum, angestrebt durch die Konservativen unter dem derzeitigen Premierminister David Cameron, kommen sollte, ist der Ausgang genauso ungewiss wie es auch die eigene Zukunft des Vereinigten Königreiches in Bezug auf Schottland ist. Auch Schottland strebt nach mehr nationaler Souveränität und möchte das durch Abspaltung von Großbritannien erreichen. Dass hier gravierende Veränderungen für das Vereinigte Königreich bevorstehen, ist kaum von der Hand zu weisen, egal welche Mehrheitsverhältnisse und Bündnisse sich nun nach den Wahlen ergeben werden. Dennoch ist derzeit kaum beleuchtet, welche Auswirkungen der sogenannte „Brexit” auf die institutionelle und politische Realität im Europäischen Parlament (EP) hätte. 

Die Große Koalition bleibt voraussichtlich stabil. Im weiteren Verlauf könnte es eine Rückkehr zu klassischen Links-Rechts-Bündnissen geben.

Nach dem „Brexit” würden sich die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament vermutlich wenig ändern, obwohl 73 Parlamentarier das EP verlassen würden. Die Große Koalition aus Europäischer Volkspartei (EVP) und Sozialisten & Demokraten (S&D) würden weiterhin die Stimmenmehrheit behalten, allerdings mit einer instabileren Basis (aufgrund des Abzugs der Labour-Abgeordneten). Eine mögliche alternative Koalition der „Centre-Centre-Right“- oder „Centre-Centre-Left“-Kräfte hätten jeweils keine Mehrheit bei einem „Brexit“ der britischen Parlamentarier.

Veränderung der politischen Schwerpunkte in Industriepolitik, Verbraucherschutz, Urheberrecht und Handel

Betrachtet man nur die politischen Mehrheitsverhältnisse, so zeichnen sich kaum Veränderungen ab. Allerdings spielen die britischen Abgeordneten bei der Meinungsbildung im EP eine entscheidende Rolle. Die Parlamentarier der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) verfolgen eine sehr wirtschaftsfreundliche Politik insbesondere in Hinsicht auf die Finanzindustrie. Diese politische Einwirkung würde bei der Meinungsbildung fehlen und somit das Gesamtergebnis beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist zudem zu erwarten, dass die Regulierung von Finanzdienstleistungen ohne britische Stimme deutlich weniger liberalen Einflüssen unterliegen würde. Die Abwesenheit von 20 britischen Labour-MEPs wäre nicht nur in den Ausschüssen für Finanzdienstleistungen, sondern auch zum Verbraucherschutz spürbar. Gleiches würde auch für die Urheberrechts-, Migrations- und Handelspolitik gelten, da diese Debatten bisher stark von Abgeordneten des Vereinigten Königreichs dominiert wurden.

Schockstarre – Frühe Lähmung der Ausschussarbeit und des Meinungsfindungsprozesses

Ein möglicher „Brexit” würde sich auch auf politische Grundsatzentscheidungen im EP auswirken. Britische Ausschussvorsitzende nehmen bei der politischen Ausrichtung und Kompromissfindung in den Ausschüssen zu Verbraucherschutz und Justizangelegenheiten eine übergeordnete Rolle ein. Doch nicht nur ein tatsächliches Ausscheiden von Großbritannien würde gravierende Umwälzungen nach sich ziehen. Je wahrscheinlicher ein Referendum wird, desto eingeschränkter wären das politische Gewicht und die Autorität der britischen MEPs, da deren Leistungsbereitschaft und Objektivität stark in Frage stehen würde. Bis die Ausschussvorsitze umverteilt und konsolidiert wären, würden dem Europäischen Parlament unruhige politische Zeiten bevorstehen.

Schwächung der Konservativen und der Euroskeptiker

Bisher hat sich die Große Koalition im Europäischen Parlament von EVP und S&D als politisch stabil erwiesen. Jedoch könnte das Ausscheiden der britischen MEPs die britisch-geführte ECR-Fraktion destabilisieren. Außerdem stünde die euroskeptische Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD) ohne britische Abgeordnete vor dem Verlust des Fraktionsstatus. Denn jede Fraktion muss aus mindestens 25 Abgeordneten aus mindestens sieben Mitgliedsländern bestehen. Ohne die UKIP aus Großbritannien wären nur noch insgesamt 24 Abgeordnete aus sechs Ländern in der Fraktion EFDD vereint. Generell wird die Neuorientierung der Fraktionen jedoch keinen starken Einfluss auf die politischen Gewichte im Europäischen Parlament haben.

Vorschau über die Wahlen 2019 hinaus – benachteiligende Sitzverteilung für große Mitgliedsländer

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Grafik: FleishmanHillard

Es besteht keine (unmittelbare) Notwendigkeit für das Auffüllen von 73 leeren Parlamentssitzen. Das Europäische Parlament ist auf maximal 750 Abgeordnete beschränkt und daher mit nur 686 Abgeordneten beschlussfähig. Jedoch wird der Umverteilungsprozess bei den nächsten Europawahlen im Jahr 2019 in Gang gesetzt werden. Dabei wird der Europäische Rat, bestehend aus den Regierungschefs der Mitgliedsländer, zusammen mit dem Europäischen Parlament einstimmig über die Umverteilung entscheiden müssen. 

Die politische Realität und die vertraglichen Rahmenbedingungen lassen folgendes Szenario am wahrscheinlichsten erscheinen: MEPs der bevölkerungsreichsten Mitgliedsländer aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen repräsentieren im Verhältnis mehr Bürger als Parlamentarier aus kleineren Mitgliedsstaaten. Daher wird erwartet, dass sich die Vertreter der großen Mitgliedsländer gegen eine gleichmäßige Umverteilung der 73 Parlamentssitze aussprechen werden, um eine noch größere Ungleichheit zu vermeiden. Somit wird voraussichtlich das Europäische Parlament so lange mit weniger Parlamentariern arbeiten, bis neue Mitglieder in die Europäische Union aufgenommen werden.

 

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