Sie verurteilte Polizeigewalt gegen Favela-Bewohner_innen in Rio und setzte sich für Frauenrechte ein. Nun wurde Marielle Franco erschossen. Ihr Tod steht symbolisch für die Situation im Land.
Hoffnungsträgerin
„Das ist ein Angriff auf die Demokratie“, sagt Maria. „Jemanden zu ermorden, der vom Volk gewählt wurde, eine Verteidigerin der Favela-Bewohner, der Schwarzen, der LGBT-Bewegung.“ Die 73-Jährige ist schockiert, traurig, wütend. So wie die tausend anderen mit denen sie durch die Straßen von São Paulo zieht. Die meisten sind schwarze Frauen – so wie Marielle Franco eine war.
Aber sie war noch viel mehr: Vorbild, Symbol, Hoffnung. Eine, die es geschafft hatte aus einem Armenviertel von Rio bis in die Politik – und die trotzdem ihre Mitmenschen nicht vergessen hatte. Eine Rarität in der brasilianischen Politik. Bei den Kommunalwahlen 2016 in Rio erzielte sie das fünftbeste Ergebnis aller Abgeordneten.
Auch die 73-jährige Maria demonstriert. (Alle Bilder in diesem Text von Nádia Pontes)
„Wer hat Marielle Franco ermordet? “
„Hört auf, uns zu töten.“
Der Mord an ihr ist nur einer von vielen, die in Brasilien jeden Tag passieren. Favela-Bewohner_innen, Umwelt- und Menschenrechtsaktivist_innen, Polizist_innen, Politiker_innen, Transsexuelle, Indigene… die Liste ist lang, die Morde werden nicht aufgeklärt. Warum bewegt Marielle Francos Tod die Menschen so? Weil sie arm war, schwarz, lesbisch und erfolgreich. Weil sie sich mutig für eine offene Gesellschaft einsetzte und anderen damit Hoffnung machte. Das was vielen Brasilianer_innen in der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Krise fehlt. „Die Gewalt, die Überfälle, die Anschläge, die wir in den letzten Jahren erlebten, gipfeln in Marielles Ermordung“, sagt Patrícia, die an der Demo in São Paulo teilnimmt. „Wir, die Frauen der Arbeiterklasse, werden am meisten benachteiligt. Wir bekommen weniger Gehalt, keine Anerkennung und erleben häusliche Gewalt.“ Marielle Franco setzte sich für diese Frauen ein.
Kämpferin
Und sie war die wohl größte Kritikerin der Sicherheitspolitik in Rio. Da die Gewalt in der Stadt immer schlimmer wurde, übernahm im Februar das Militär das Kommando. Seit Ende Februar leitete Marielle Franco eine Menschenrechtskommission, die die Intervention des Militärs überwachte. Täglich werden in den Armenvierteln Menschen erschossen – nicht selten von Polizisten. Immer wieder verurteilte die 38-Jährige dies. Ob bei politischen Reden oder auf Social Media. Wie im Fall von Matheu Melo, der starb als er aus der Kirche kam. Marielle Franco schrieb: „Ein weiterer Mord, der auf das Konto der Polizei gehen könnte. Matheu Melo verließ die Kirche. Wie viele müssen noch sterben, damit dieser Krieg aufhört?“ Zwei Tage später ist sie tot.
Erschossen in ihrem Wagen mit vier Kugeln im Kopf, auch ihr Fahrer erlag seinen Schusswunden. Die Polizei geht von einer Hinrichtung aus, in Verbindung mit ihrer politischen Arbeit. Marielle Franco war am Mittwochabend auf dem Heimweg nach einer Veranstaltung für die Rechte schwarzer Frauen.
„Dieses Verbrechen zeigt, wie überzeugt die Kriminellen von ihrer Straflosigkeit sind. Sogar wenn sie so eine Person wie Marielle ermorden gehen sie davon aus, nicht dafür belangt zu werden“, sagt Ignácio Cano, Experte für Gewaltanalyse der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro der Deutschen Welle.
Mitstreiterinnen
Hand in Hand stehen sie im Zentrum von Rio und warten auf Marielle Francos Sarg. Die Männer und die vielen, vielen Frauen unterschiedlicher Hautfarbe und sozialer Herkunft. Die meisten sind aus den Favelas, vor allem aus der Maré, einem der gewalttätigsten Viertel Rios und der Heimat von Marielle Franco. Immer wieder rufen sie im Chor „Marielle ist hier“, Tränen laufen über ihre Gesichter. Als der Sarg vorbeigetragen wird, applaudieren sie als Zeichen ihres Respekts.
Doch es gibt auch Gegenstimmen. Sie zeigen sich nicht öffentlich bei den Demonstrationen und Veranstaltungen, die von Organisationen und der freiheitlich-sozialistische Bewegungspartei Partei PSOL, der Marielle Franco angehörte, organisiert werden. Aber im Internet sind sie nicht wenige. „Sie hat die falsche Seite des Krieges gewählt und ist nicht mehr als ein Kollateralschaden“ steht da oder „sie hätte nicht hingerichtet werden müssen, aber sie war eine fanatische Vertreterin von Banditen“.
„Wir sind alle hier, bis auf die Toten.“
Patrícia und ihre kleine Tochter bei der Demo.
Trotz Angst vor diesen Gegnern und vor Polizeigewalt kommen viele zu den Demos im ganzen Land. „Nur wir kennen diesen Schmerz. Wir, die aus dem Haus gehen und nicht wissen, ob wir zurückkommen werden“, sagt Naiary. „Als schwarze Frau darf ich nicht schweigen. Marielle hat auch nicht geschwiegen – sie hat für mich, für uns geschrien.“ Sie wischt sich über die geröteten Augen und streckt ihr Plakat nach oben „Wir sind alle hier, bis auf die Toten“ steht darauf. Patrícia hat sogar ihre zweijährige Tochter zur Demo in São Paulo mitgebracht. „Mir ist es wichtig, ihr jetzt schon Werte und Motivation für den späteren Kampf mitzugeben“, erklärt sie. „Ich möchte sie nicht ausschließen. Sie soll verstehen, dass sie die Macht hat, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden. Auch sie ist Teil dieses Kampfes.“
Mitarbeit: Nádia Pontes
Titelbild: Flickr | Jeso Carneiro | CC BY 2.0
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