Foto: Lena Bushart

Was ich von der einst ältesten Frau der Welt gelernt habe

117 Jahre alt ist Emma Morano geworden. Die Fotografin Lena Bushart hat Emma kurz vor ihrem Tod in ihrem kleinen Heimatort in Italien besucht und porträtiert. Was sie bei diesem Zusammentreffen erlebte, hat Jana Petersen protokolliert.

 

Wie blickt jemand auf die Welt, der in drei Jahrhunderten gelebt hat?

Emma Morano war die älteste Frau der Welt. Ich hatte ihr Foto in der Zeitung gesehen und sofort gewusst: Ich will sie kennenlernen, ich will in dieses Zimmer, diese Luft atmen. Ich will Emma die Hand geben. Dann bin ich losgefahren, nach Italien.

Verbania ist ein kleiner Ort am Lago Maggiore. Emma wohnte hier, seit sie ein junges Mädchen war. Gleich links neben der Kirche. Als ich ankomme, weiß ich nicht genau, wo ich hin muss. Ich habe keine Adresse, keinen Kontakt, nichts. Ich fühle mich wie ein Detektiv, frage Menschen, ob sie mir den Weg sagen können. Die Leute im Ort helfen mir. Doch Emma ist krank, als ich in ihrer Wohnung ankomme. Sie sitzt in ihrem Sessel, die Beine nackt, eine Decke darüber, in sich versunken. Ich komme mir vor wie ein Eindringling.

Emma ist die letzte Person auf der Welt, die im 19. Jahrhundert geboren ist. Sie hat in drei Jahrhunderten gelebt. Man muss sich das mal vorstellen: Sie ist 1899 geboren, in dem Jahr schreibt Siegmund Freud seine „Traumdeutung“, Tschechows „Onkel Wanja“ wird uraufgeführt, Ernest Hemingway wird geboren und Guiseppe Verdi ist noch am Leben. Kaiser Wilhelm II. hat noch 20 Jahre Regierungszeit vor sich. Emma wird in einem Dorf im Piemont geboren, ganz in der Nähe des Lago Maggiore. Sie ist die älteste der acht Geschwister, fünf Schwestern hat sie und drei Brüder. Eine ihrer Schwestern ist 100 geworden, eine 102. Ich stelle mir vor, wie sie tanzen gegangen sind, früher, in den warmen italienischen Sommernächten.

Eine Verbindung ohne große Worte

Ein paar Tage später komme ich wieder. Emma geht es besser. „Sie war immer eine starke Frau“, erzählt mir ihre Pflegerin Annalies, „sie ist immer noch sehr stark. Ihr Körper ist stark und ihr Willen.“ Emma sitzt auf ihrer Bettkante und hat gerade ihre Suppe gegessen. Sie ist bereit, mich zu empfangen. Als ich eintrete, fühle ich mich, als würde ich in eine Kirche kommen. Einen heiligen Ort. Darf ich hier jetzt ein Foto machen? Es ist dunkel im Raum. Es riecht noch ein bisschen nach Mittagessen. Vor Emma liegt ein Kissen, darauf ist die Welt gedruckt. Seit 100 Jahren lebt sie in diesem Ort, vor 15 Jahren war sie das letzte Mal draußen. Aber sie schläft auf der Welt. Es ist ein einfacher Raum, Emma besitzt nicht viel. An der Wald neben ihrem Bett hat sie Fotos aufgehängt, sie zeigen ihre Geschwister und ihre Eltern. Da hängt ein Rosenkranz, neben dem Foto ihres einzigen Kindes. Hinter Emma liegt ein Geldbeutel auf ihrem Kissen. Emma braucht ihn immer bei sich, erzählt ihre Pflegerin. Vielleicht lässt sie das fühlen, dass sie noch da ist. Dass sie selbst versorgen kann. 

Ich ziehe die Vorhänge zur Seite, Licht fällt auf ihren schmalen, zähen Körper. Emma sitzt auf ihrem Bett. Ich gehe zu ihr und stelle mich vor. Ich spreche Deutsch mit ihr, denn ich kann kein Italienisch. Sie versteht mich auch so. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter. Sie reicht mir ihre Hand. „Tanti Auguri“, sagt sie, das heißt „Herzlichen Glückwunsch“, aber auch: „Alles Gute für dich.“ Ich halte ihre Hand. Jetzt ist es ganz still. Für diesen Moment verbinden wir uns.

Gut für die Gesundheit: Den prügelnden Mann verlassen und rohe Eier essen

Sie singt gern, noch immer. Meist für sich. Als sie 116 geworden ist, singt sie ihren Gästen ein Ständchen. „Ich habe eine schöne Stimme“, sagt Emma. An ihrem 116. Geburtstag kommt auch die Karte vom Papst, der ihr gute Gesundheit und Gelassenheit wünscht. „Wie ich immer sage: Ich bin so alt wie die Berge“, sagt Emma, als sie hört, dass sie der älteste Mensch der Welt ist. Sie ist davon überzeugt, dass sie so alt geworden ist, weil sie jeden Tag zwei rohe Eier isst, seit sie 20 ist. Und weil sie ihren prügelnden Ehemann verlassen hat.

Bis sie 112 war, hat sie selbst für sich gekocht, meistens Pasta mit Hack. Sie hat gearbeitet, bis sie 75 war, die meiste Zeit als Köchin, eine Weile hat sie Jutesäcke genäht in einer Fabrik. In der Küche steht ein Einmachglas mit Grappa, Emma hat Weintrauben und Salbei darin eingelegt. Bis vor ein paar Jahren hat sie Besuchern erst mal einen Schnaps angeboten, manchmal Wein. 

Wenn ich hier neben ihr sitze, spüre ich ihre Sehnsucht und ihre Kraft. Auch wenn sie kaum noch sprechen kann. Jetzt weiß ich, warum ich zu ihr fahren wollte. Wir teilen den gleichen Schmerz. Wir wissen, wie es ist, sich allein zu fühlen. Wenn man anders ist, als die anderen. Emma hatte sich von ihrem Mann getrennt. Das war ganz untypisch gewesen, damals in Italien, sich scheiden zu lassen. Sie hatte keine Vorbilder. Sie hat sich gegen die gesellschaftliche Ordnung gestellt. Sie war noch eine junge Frau damals. Ihr Mann hat sie geschlagen. Die beiden hatten ein Kind, einen Sohn. Emma hat ihn Angelo genannt. Er ist gestorben, als er sechs Monate alt war. Es gab für Emma keinen Grund, bei dem Mann zu bleiben. „Ich wollte nicht beherrscht werden, von niemandem“, hat sie mal gesagt. Einmal, vor dem Ersten Weltkrieg und vor dem Mann, war sie verliebt gewesen. Ihr Geliebter starb im Krieg, dann kam der Mann und danach war Emma allein geblieben. Ich halte ihre Hand, und ich fühle, wie schwer es für sie gewesen sein muss, diese Entscheidung zu treffen. Ich spüre ihre fröhliche Seele. Ich fühle die Stärke der Außenseiter. Es war so etwas wie ein Schwesterngruß. Sie zeigt ein kleines Lächeln, ohne Zähne.

Was bedeutet Zeit?

Ich fotografiere Emma. Dann stelle ich ihr eine Frage. Ich möchte wissen, was Zeit für sie bedeutet. Emma kann fast nichts mehr hören. Die Pflegerin ruft in Emmas rechtes Ohr: „Emma, was bedeutet Zeit für dich?“ Emmas Antwort ist klar. „Zeit bedeutet, mich meiner Einsamkeit zu stellen.“ Für sie war das keine komische Frage. Sie hat nicht lange darüber nachgedacht. Sie hat nur diesen einen Satz gesagt. Danach fallen ihr langsam die Augen zu. Ihr Körper sackt in sich zusammen. Ist sie eingeschlafen? 


So hat Emma Morano die letzten Jahre gelebt. Im April 2017 ist sie verstorben.  (Foto: Lena Bushart)

Vielleicht, denke ich, wenn sie heute in unserer Zeit, als Frau um die Dreißig in Berlin wohnen würde, dann wäre Emma meine Freundin geworden. Sie würde sich für Feminismus und Politik einsetzten. Sie würde mit uns gärtnern. Mit uns tanzen und einen trinken gehen. 

Ich mache die Tür zu, laufe die Treppen runter und stehe in der engen Gasse. Ich fühle mich ganz leicht. Ich habe es geschafft. Ich habe mich auf den Weg gemacht, um sie zu treffen, dabei wusste ich nicht, ob es auch ihr Plan war, mich zu treffen. Die Möglichkeit des Scheiterns ist ein Teil der Geschichte, doch ich habe immer das tiefe Gefühl gehabt, ich werde es schaffen, ich werde sie fotografieren. Und als ich dann bei ihr war, fühlte es sich an, als hätte sie mich erwartet.  

Eine positive Haltung und etwas Sturheit

Ich habe von Emma gelernt, dass das Leben irgendwie in Ordnung ist. Wie auch immer es ist. Ich habe erfahren, dass zwei Menschen den gleichen Schmerz teilen können, auch wenn sie sich nie zuvor begegnet sind. Und dass es leichter wird, sich diesem Schmerz zu stellen, wenn man voreinander sitzt und sich die Hand reicht. Ich habe gelernt, wie es sich anfühlt, sehr alt zu werden. Manche Ärzte sagen, Emma sei so alt geworden, weil sie so eine positive Haltung zum Leben hatte – und weil sie so stur war. Das kann ich mir ziemlich gut vorstellen.

Sie hat mich gelehrt, dass es sich lohnt, meiner Intuition zu vertrauen, loszufahren, wenn mich ein Foto oder eine Begegnung ruft. Und wenn ich für dieses Bild tagelang unterwegs sein muss, ohne die Sicherheit zu haben, dass es was wird. Emma hat mir eine tiefe Ruhe geschenkt. Ich weiß nicht wie sie es geschafft hat. Aber Emma hat mir geholfen, meine Ketten zu sprengen.

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