Im Vergleich zum Vorjahr gab es Ende des Jahres 2018 42.000 Sozialwohnungen weniger in Deutschland. Wohnungsnot und Verdrängung gehören zu den wichtigsten Themen unserer Zeit. Warum bleibt es trotzdem so ruhig, fragt sich unsere Autorin Helen Hahne in ihrer politischen Kolumne „Ist das euer Ernst?”.
Wer soll sich das noch leisten können?
Anfang August stellte die Abgeordnete der Linksfraktion, Caren Lay, eine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung, in der sie wissen wollte, wie viele gebundene Sozialwohnungen es in Deutschland Ende 2018 im Vergleich zum Vorjahr gab. Die Antwort: Knapp über 42.000 weniger. Das kommt vor allem, weil deutlich mehr Wohnungen aus der Bindung herausgefallen sind als neue gebaut wurden. 70.000 auslaufende gegenüber gerade einmal 27.040 neuen. Und das ist ein massives Problem.
Sozialer Wohnungsbau in Deutschland ist zeitlich begrenzt organisiert. Das heißt, nach einem vereinbarten Zeitraum, meist 15 Jahre, müssen Sozialwohnungen nicht mehr als Sozialwohnungen vermietet werden. Das System ist deshalb vor allem für die Baufirmen von Vorteil und hat mit langfristiger sozialer Sicherung für Mieter*innen wenig zu tun. In vielen Haushalten übersteigt die tatsächliche Mietbelastung 30 Prozent des Einkommens. Die ärmsten 20 Prozent der deutschen Haushalte, heißt es in einer aktuellen Studie der Universität Bonn , geben mittlerweile 40 Prozent ihres Einkommens für ihre Miete aus. Im Bestand der 77 deutschen Großstädte fehlen, laut der Hans Böckler Stiftung, 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen. Allein in Berlin sind es 310.000 Wohnungen.
Mach kaputt, was dich kaputt macht
Die Konsequenzen sind verheerend: Wohnungsnot, Armut und Verdrängung. Warum gibt es keinen Aufschrei? Keine Solidarisierungsbewegung? Warum diskutieren wir wie verrückt über individuellen Konsum und so wenig über politische Verantwortung? Warum dreht sich so viel um Mindfullness und Resilienz als Bewältigungsstrategien für die Auswirkungen des kapitalistischen Systems und so wenig um die Frage, wie wir das System verändern können? Warum trendet #Mondaymotivation und nicht #Machkaputtwasdichkaputtmacht?
Vielleicht, weil alle damit beschäftigt sind, im Hamsterrad mitzulaufen, das sie kaputt macht, weil der Versuch begangen wird, den Teufelskreis durch Fleiß und Selbstoptimierung zu brechen – und die meisten dann einfach zu müde für echte Forderungen oder ein Aufbegehren sind. Besonders treffend werden diese und ähnliche Fragen zum Beispiel in der aktuellen Podcastfolge der österreichischen Journalistin Nicole Schöndorfer, in diesem Text der deutschen Journalistin Seyda Kurt und dem Buch „Die neue ArbeiterInnenklasse” der österreichischen Gewerkschaftlerin Veronika Bohrn Mena analysiert.
20 Prozent der Arbeitnehmer*innen in Deutschland arbeiten in sogenannten atypischen Verhältnissen (Teilzeit, Leiharbeit oder befristete Jobs). Das betrifft vor allem Frauen in Westdeutschland, die oft in Teilzeit oder Minijobs arbeiten, jüngere Arbeitnehmer*innen, geringer Qualifizierte und Menschen ohne deutschen Pass. In Kombination mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen leben nicht wenige Menschen täglich mit der Angst, ihr Zuhause zu verlieren. Der Mangel an sozialem Wohnungsbau ist für sie existenzbedrohend.
Wohnungsnot betrifft Frauen besonders
Auch Frauenhäuser sind von der Wohnungsnot betroffen. Die sowieso schon zu wenigen Plätze können akut betroffenen Frauen nicht zur Verfügung gestellt werden, weil andere Frauen nicht ausziehen können, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können. „Die schockierende Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft bedeutet, dass das Zuhause statistisch gesehen einer der gefährlichsten Orte für eine Frau ist”, kritisiert es in einer aktuellen Untersuchung der Vereinten Nationen UN-Women-Geschäftsführerin Phumzile Mlambo-Ngcuka. Weniger Sozialwohnungen bedeuten deshalb auch, dass betroffene Frauen in solchen Verhältnissen bleiben müssen. Darüber hinaus sind die meisten sogenannten „Frauenberufe” wie Pflege oder Erziehung besonders schlecht bezahlt. Immer noch bekommen Frauen für gleiche Arbeit weniger Lohn (Ja, der Gender-Pay-Gap ist real).
Frauen werden durch Mutterschaft in klassische Erwerbsbiografien wie Teilzeitarbeit gedrängt. Vermeintliche Vereinbarkeit geht oft auf ihre Kosten. Alleinerziehende, mehrheitlich Frauen, werden im Berufsleben und auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt. Zudem sind Frauen besonders armutsgefährdet im Alter – und das alles verstärkt sich noch einmal, wenn es sich um nicht-weiße Frauen handelt.
Es geht auch um Beteiligungsverdrängung
Wohnraumverdrängung bedeutet auch Beteiligungsverdrängung. Denn zuerst werden diejenigen Menschen verdrängt, deren Stimmen sowieso schon zu wenig Gehör finden, die keine Interessensvertretung haben und gleichzeitig die Gesellschaft tragen. Weil sie pflegen, betreuen oder putzen, aber viel zu wenig dafür verdienen. Wer an die Stadtränder (oder darüber hinaus) verdrängt wird, wer jeden Tag mehrere Stunden für den Arbeitsweg einplanen muss, und wer so viel arbeitet wie es irgendwie geht, um die Miete zu bezahlen, der kann sich nicht beteiligen. Und damit verliert die gesamte Gesellschaft.
All das ist nicht neu. Es ist etwas, dass Feminist*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen und Betroffene seit Ewigkeiten problematisieren. Und manchmal haben sie glücklicherweise Erfolg. Zum Beispiel beim Berliner Mietendeckel, der 2020 in Kraft treten soll. Aber viel zu oft schaffen es ihre Positionen eben nicht in eine gesamtgesellschaftliche Diskussion. Für die Gesellschaft insgesamt ist das ein großer Verlust – für Marginalisierte ist es existenzbedrohend.