Als ich auf dem Hügel stehe, die weiße Stadt vor meinen Füßen und Angesicht zu Angesicht mit der Akropolis, ist es mal wieder soweit: Ich erlebe ganz bewusst, wie sich ein Ort, den ich nur aus Büchern, von Bildern oder Erzählungen her kenne, in Realität verwandelt.
Diese Momente funktionieren nur an Orten, die bereits in mir vorhanden sind. Ein Ort, der bisher nur eine Hülle in meinem Kopf war, füllt sich mit Gerüchen, mit Erlebnissen, mit Erinnerungen.
Es sind keine weißen Flecken, die ich auf meiner inneren Weltkarte fülle, eher graue, denn verzeichnet waren sie dort schon lange.
Ich stelle es mir irgendwie wie ein Ausmalbuch vor. Die Umrisse sind vorhanden, ich fülle sie mit Farben und Erinnerungen.
Ich konnte bereits Amsterdam mit dem Geschmack von altem Gauda und dem Anblick von grünen Wiesen im Umland ausmalen. Kopenhagen mit dem Grasduft in Christinia, Bangkok mit dem Gefühl von rauchigen Abgasen in der Lunge und Goa mit dem Sound der Trommeln im Ohr. Jetzt also Athen.
Nach ein paar Tagen Herbstflucht in die Sonne nach Rhodos kann ich jetzt noch zwei Tage Athen erkunden.
Auch wenn ich nicht Archäologie, sondern Kunstgeschichte studiert habe, ist die Akropolis das Fundament meiner Ausbildung. Keine römischen Villen, keine Renaissance, kein Klassizismus wäre ohne diese Wiege der Kultur denkbar. Ich kann es gar nicht richtig begreifen, dass diese pittoresk platzierten Tempelreste wirklich die Originale sind. Zur Sicherheit tue ich es den zahlreichen Touristen nach und machte unzählige Fotos, vielleicht verstehe ich es ja später beim Betrachten der Bilder.
Wir entscheiden uns, das Geld lieber in Essen, statt in den Eintritt zu investieren und beschränken uns auf den Anblick von außen, der trotzdem atemberaubend ist. Wir verschlendern den Tag rund um die Ruinen, in kleinen Gässchen am Fuß der Akropolis mit Katzenbetrachten und im Gewimmel des Trödelmarktes am Syndagma Platz. Ein Touristentag wie er im Buche steht.
Nach all der Hochkultur ist es für uns an der Zeit für das Gegenprogramm. Exarchia klingt nicht ohne Grund nach Anarchie. Hier sind die Wände bunt, die Häuser besetzt und die Polizei macht einen weiten Bogen um das Viertel. 2008 wurde hier der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos von der Polizei erschossen. Die Folge waren schwere Unruhen in Athen und anderen Städten Griechenlands. Exarchia entwickelte sich seitdem zu einem fast schon autonomen Gebiet.
Hier im wohl linkesten Viertel Athens denke ich ihn mal wieder, den überstrapazierten Berlinvergleich „wie das Kreuzberg der 90er Jahre“ aber es passt. Nicht, dass ich in den 90ern in Kreuzberg gewesen wäre aber ihr wisst, was ich meine.
Wir schlendern durch die Straßen, machen Fotos von den schönsten Graffitis und saugen die Atmosphäre von Exarchia auf. Ich versuche eine Gefühl für diesen Ort zu bekommen.
Ich betrachte das Gesicht des schwarzangezogenen Mädchens mit dem Side-Cut, des Kellners mit den Dreads und lausche den Gesprächen vor dem Café. Nicht, dass ich etwas verstehen würde aber ich achte auf die Stimmung und merke, dass die Leute entspannt sind und fröhlich. Ich habe im Vorhinein gelesen, dass Exarchia gefährlich sei, dass man sich hüten solle, wenn man im Dunkeln durch die engen Gassen läuft, doch ich vertraue auf meine Intuition und die sagt mir, dass hier gar nichts gefährlich ist.
Wir haben ein veganes Restaurant im Internet gefunden und machen uns auf den Weg, denn unser Magen knurrt. Wir sitzen mit Blick auf die Straße und beobachten, die vorbeiziehenden Leute, während wir auf unsere Spezialnudeln aus Hanfmehl mit Spirulina warten. Ein Obdachloser kommt vorbei und wartet an der Tür. Der Kellner winkt ihm zu und bringt ihm zwei Minuten später eine dampfende Schüssel mit Nudeln. Spätestens da weiß ich: Zwei Tage sind für Athen viel zu wenig, hierher komm’ ich wieder.
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