Warum Essen nicht ersetzen kann, was wir alle suchen.
Ich weiß nicht, wie oft ich darüber schon gelesen habe, aber jetzt ist es zum ersten Mal auch wirklich in meinem Kopf angekommen: ich stopfe mich mit Essen zu, weil sich satt sein wie geliebt werden anfühlt. Das glaubt zumindest mein Bauchgehirn. Je schlechter es mir mental geht, desto mehr esse ich – natürlich. Frustfressen – schon klar.
Wenn man verliebt ist, kann man vor lauter Übelkeit (ach nein, das waren ja die romantischen Schmetterlinge…) nicht essen; vor einer Prüfung fühlt es sich ähnlich an. Manchmal essen wir zu viel, weil es „gerade so lecker ist“ oder wir vielleicht „den ganzen Tag noch nichts gegessen“ haben.
Ebenso kann es einem vor dem Fernseher ergehen: da ist die Packung Chips auf
einmal leer, dabei haben wir sie gerade erst aufgemacht. Das Popcorn ist oft
schon aufgegessen, bevor der Film überhaupt angefangen hat – was soll auch
immer die halbe Stunde Werbung vorneweg. Abends eben noch einen kleinen
Nachtisch oder ein Betthupferl – was soll‘s, das zählt nicht.
All das kenne ich gut. Seit ich von zuhause ausgezogen bin, wohne ich allein – bis auf insgesamt ein Jahr etwa, das ich in zwei verschiedenen WGs verbracht habe. So als Single kocht man aber dann doch schon mal und jedes Mal natürlich zu viel. Wenn man dann nur ein kleines Gefrierfach zur Verfügung hat und das Essen andererseits auch nicht wegwerfen möchte, isst man es halt auf – schließlich muss man ja „den Teller aufessen“.
Dann gibt es aber noch die sehr fatalen Fressattacken, dafür muss ich noch nicht mal gekifft haben. Bei mir hat sich da schon so etwas wie ein festes Ritual entwickelt: ich mach mir am Wochenende zum Essen eine Folge meiner aktuellen Lieblingsserie an. Das Essen stopfe ich dann ohne große Beachtung in mich hinein – obwohl ich sonst mittlerweile darauf achte, was ich esse und dass ich ausgewogen esse und vor allem auch wie viel ich esse.
Früher hätte es das bei uns zuhause nicht gegeben: meine Mutter bat meinen Vater schon immer darum am Wochenende am Frühstückstisch nicht die Zeitung zu lesen; einerseits weil es unhöflich uns anderen gegenüber war, andererseits weil man nicht mehr mitbekam, was man überhaupt aß – wie recht sie damit doch hatte.
Aber wir waren ja bei „allein essen macht dick“. Ich hole also als Nachtisch die Schokolade aus der Schublade, lege sie auf den Wohnzimmertisch und fläze mich daneben wieder auf die Couch. Ich mache eine zweite Folge meiner Lieblingsserie an. Dann kommt der Kuchen, danach Kekse, Pudding oder was ich sonst noch so gekauft habe – denn das tue ich natürlich trotzdem – jedes Mal.
Ich esse die Sachen nicht immer auf: eine angefangene Tafel Schokolade kann ich auch ohne weiteres wieder in den Kühlschrank zurück legen, ebenso die Packung Kekse oder die Tüte mit dem Weingummi oder oder oder.
Das geht den ganzen Tag so. Am Ende habe ich so viel in mich reingestopft, dass ich nicht mehr weiß, was Magen oder Bauch oder Körper überhaupt noch ist. Alles fühlt sich einfach nur voll- und zugestopft an, manchmal habe ich sogar richtig Bauchschmerzen. Das macht aber eigentlich auch nichts, denn in einer Stunde kann ich dann schon wieder einen Muffin essen.
Wenn ich abends vor dem Schlafengehen meine Lose-belly-fat-App starte (ich muss gerade selber lachen), bereue ich meine Fressattacke natürlich schon, weil ich vor lauter Sodbrennen die 1 Minute Unterarmstütz nicht mehr schaffe. Morgen, denke ich, ab morgen ernähre ich mich wieder gesund: ohne Zucker, zumindest weniger, also kein Süßzeug unter der Woche – außer jetzt vor Weihnachten, da bringt irgendein Kollege ja immer was mit, da kann ich nicht
immer so tun, als wär ich auf Diät und außerdem bei meiner Figur glaubt mir das eh keiner.
Schon beachtlich, was man sich so zurecht denkt, nicht
nur in seinem Bauchgehirn.
Langsam fragt man sich natürlich, was das alles mit Liebe zu tun haben soll. Da kommt der psychologische Teil ins Spiel. Geht denn Liebe wirklich durch den Magen oder war es der Dreck, der den Magen schürt?
Mit 17 holte ich mir eine Essstörung. Ich wollte einfach nicht mehr die Dicke sein, also kaufte ich in der Apotheke das Wundermittel mit den Grapefruitkapseln, die man vor dem Essen nehmen sollte. Soweit ich mich
erinnere, sollte sich das Präparat im Magen ausdehnen und den Hunger dämpfen. Irgendwann aß ich nur noch diese Kapseln anstelle von irgendetwas anderem.
Mein Wunschgewicht habe ich nie erreicht, ich wog 62 kg bei einer Körpergröße von 162 cm. Ist das ideal? Ich hatte gar kein Wunschgewicht. Mir passten Hosen, die sonst nur die beliebten und tollen Mädels tragen konnten. Bei dem kleinsten Gedanken an Essen hatte ich das Gefühl zuzunehmen. Ich begann also mir den Finger in den Hals zu stecken, andere machten das auch. Einige Menschen waren besorgt, andere lobten mich für meine Disziplin und ich hatte mich ja schließlich „zum Positiven verändert“.
Wie es mir damals ging, kann ich nur soweit beschreiben: beschissen. Jungs beachteten mich nach wie vor nicht und wenn, dann wollten die eh nur Sex; ich wurde immer noch gemobbt, war nicht cool, gehörte nicht dazu.
Mich schmerzte es einerseits, dass ich nur als schlanker Mensch gemocht werden sollte, andererseits machte es mich so wütend! Man schätzte mich eben nicht als den Menschen, der ich war – zumal ich in dieser Zeit zu allen grantig war und nette Menschen nicht ernst nehmen konnte; wer kann jemanden wie mich schon mögen?
Irgendwann begann ich wieder zu essen und nahm natürlich auch alles wieder zu. Mittlerweile hatte sich mein Gewicht bei 74 kg eingependelt. Ich war weit entfernt von schlank, aber ich wurde langsam sportlich (Bewegungsmuffel war ich nie, aber die Scham war einfach größer). Mein Körper veränderte sich und ab und zu fand ich mich selber sogar attraktiv. Irgendwann, dachte ich, irgendwann werde ich wieder so dünn sein, aber dann gesund. So war mein Plan jedenfalls.
Diäten wollte ich nicht machen, denn der Jojo-effekt ließ einen danach noch dicker werden. Die Ernährung umstellen konnte ich nicht, weil ich nicht genau wusste, wie – auf Schokolade konnte und wollte ich nicht verzichten. Andere aßen schließlich auch das fette Zeug von Mc Donald’s.
Später versuchte ich Heilfasten: bis zu 10 Tagen lang nichts zu essen, schaffte ich. Das gewünschte Ergebnis blieb jedoch auch hier aus. Auf Dauer funktionierte einfach nichts.
So verbrachte ich meine Zeit mit dem Glauben an eine bessere (schlankere) Zukunft, an ein besseres (schlankeres) Leben, in der Hoffnung dann auch den richtigen Mann zu treffen – ich war 20.
Einige Jahre später zog ich in meine erste WG mit meiner besten Freundin. Plötzlich nahm ich ab, einfach so. Ich änderte weder meine Ernährung noch meine Einstellung zum Leben (wenigstens nicht wissentlich); aber ich war nicht mehr allein, ich hatte jemanden, der zu mir stand und mich als den Menschen mochte, der ich war. Zusammen gaben wir uns ein Gefühl von Sicherheit und Familie.
In dieser Zeit lernte ich auch etwas über meine Vorliebe für Männer: meine beiden Exfreunde waren sehr dünn gewesen, aber mir waren große und annähernd mopsige Männer lieber, wie ich bald feststellte.
Das ganze Unternehmen der WG war nun leider nicht von Dauer, denn nachdem besagter Mops mit mir fertig war, kam meine Freundin und Mitbewohnerin dran. Das wollte ich mir aber partout ersparen: aus den Augen aus dem Sinn war seit jeher mein Motto; wenn ich weiter kommen wollte, wieder nach vorn schauen wollte, musste ich ausziehen. Natürlich nahm ich wieder an Gewicht zu.
Dieses einmalige Gefühl der Leichtigkeit (des Körpers, des Geistes, des Lebens) habe ich in dieser Zeit sehr genossen. Ich fragte mich oft, wie ich wieder hatte zunehmen können nach dem ersten Mal, wo es doch so einfach schien: einfach glücklich, einfach zufrieden, einfach nicht so viel essen – sich gut fühlen und anderen Gutes tun…
Bis heute weigere ich mich, nochmal eine Essstörung zu bekommen oder eine Diät zu machen. Zwischendurch habe ich es wieder mit Fasten probiert. Im Zeitalter der Apps auch wirklich einfach – und auch effektiv – wenn da nicht die anschließenden Fressattacken wären. Das bekomme ich einfach nicht in den Griff.
Die Verlieren-Sie-Bauchfett-App kann genau dieses auch nicht, aber ich habe gefühlsmäßig das Fett in sowas wie Muskulatur verwandelt und immerhin habe ich keine Rückenschmerzen.
Dick bin ich nicht, wenn ich anderen glaube. Kräftig höre ich mittlerweile eher oder „etwas mehr, aber gut verteilt“ – etwas weniger, wenn ich verliebt bin – viel mehr, wenn ich mal wieder unglücklich verliebt bin.
Und hier fängt endlich die Sache mit der Liebe an.
Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen. Ich verbrachte die Zeit tatsächlich mit dem Glauben an eine bessere Zukunft und der Hoffnung in einem schlankeren Leben dem richtigen Mann zu begegnen.
Manchmal schäme ich mich so sehr für meinen Körper, dass ich mich kaum bewegen möchte; manchmal kleide ich mich schick und weiblich und freue mich dann über Komplimente der „Jungs“. Der Gedanke aber, dass die Jungs eh nur Sex wollen ist geblieben, (obwohl ich mittlerweile festgestellt habe, dass es auch Ausnahmen gibt und Sex kann bestimmt schön sein) und manchmal frage ich mich auch immer noch, wie man jemanden wie mich mögen könnte. Dann
fallen mir tausend Dinge ein, die man dazu sagen könnte und die ich auch dazu
schon gehört und gelesen habe – trösten tut mich das alles nicht.
Das mache ich anders.
All die Liebe, die ich mir in meiner perfekten Zukunft ausgemalt habe, stopfe ich in mich hinein. Der Kuchen ist eine liebevolle Umarmung, der Keks ein flüchtiger Kuss – im Vorbeigehen gestohlen, der erste Pudding ist ein zärtlicher Blick, der zweite eine freundliche Geste…
Das alles sättigt mich (kurzfristig), verstopft mein Herz, betäubt mein Bauchgefühl, mein Bauchgehirn – gaukelt mir das Gefühl vor zufrieden zu sein, für einen Moment vielleicht sogar glücklich. Ich fresse einfach all die Liebe, die mir so fehlt – dann bin ich vollgestopft mit Liebe – bis zum Erbrechen und bis dann das Erwachen und die Erkenntnis folgen: jetzt hab ich doch wieder eine Essstörung.
Und alles nur, weil ich Angst habe.