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„Der Tod kommt wann er will – Er gibt nicht Bescheid und die Welt, die er zurücklässt, ist eine andere“

Saskia Jungnikl verlor erst ihren Bruder und dann vier Jahre später ihren Vater. Über ihre Erlebnisse hat sie 2014 ein Buch geschrieben. Jetzt erscheint ihr zweites Buch. „Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden.”

 

Der Tod als ständiger Begleiter

2014 brachte Saskia Jungnikl ihr erstes Buch „Papa hat sich erschossen” heraus. Darin verarbeitete sie den Suizid ihres Vaters. Nach der Veröffentlichung wuchs in ihr immer mehr die Angst vor dem eigenen Ende. In ihrem neuen Buch, „Eine ​Reise ins Leben oder wie ich lernte​,​ die Angst vor dem Tod zu überwinden,” stellt sie sich nun dieser Angst vor der eigenen Sterblichkeit. Ehrlich und ungeschminkt erzählt uns die Autorin, wie sie nach dem Tod ihres Vaters verstehen wollte, wie unsere Gesellschaft mit dem Tod umgeht. Dafür hat Saskia Jungnikl zwei Jahre lang überall vorbeigeschaut, wo Sterben und Tod Station machen. Sie war in Hamburger Leichenschauhäusern und auf Friedhöfen unterwegs, hat sich mit Freunden und dem evangelischen Bischof Österreichs, Michael Bünker, über Sterblichkeit unterhalten. Sie selbst sagt über diese Zeit: „während ich mich aufgemacht habe den Tod zu verstehen, habe ich immer mehr über das Leben gelernt.“

Saskia Jungnikl hat exklusiv für Edition F eine Zusammenfassung ihres Buches geschrieben, damit ihr euch einen ersten Eindruck ihres spannenden Werkes machen könnt.

Eine panische Angst vor dem Tod

Die Angst vor dem Tod wurde mir angelernt. Vier Jahre vor meinem Vater starb mein Bruder, plötzlich, im Schlaf, an einem geplatzten Blutgerinnsel im Kopf. Dann starb mein Vater, und nach jedem Todesfall hat Adrenalin meinen Körper wochenlang überschwemmt. War das Adrenalin weg, war die Angst wieder größer. Doch diesmal war das anders. Mir ging es eigentlich gut. Der Schmerz meiner Vergangenheit war verblasst und ich wollte genießen und weitermachen. Und dann kam die Angst mit Wucht zurück. Angst um mich. Panische Angst vor dem Tod. Davor, dass ich nicht mehr aufwachen werde, wenn ich abends einschlafe. Davor, dass ich auf der Autobahn fahre und mich jemand rammt und ich bin tot. Dass so etwas überhaupt möglich sein soll, dass ich überhaupt sterben muss, scheint mir wie ein schlechter Scherz. Ich will nicht tot sein. Es gibt mir ein entsetzliches Gefühl, dass ich auf einmal nicht mehr da sein könnte. Mein Da-Sein, mein Bewusstsein zu verlieren und nicht mehr zu existieren. Ich weiß schon, kaum ein anderes Thema ist so beladen und so aufgeladen wie die Angst vor dem Tod. Die Menschen fürchten ihn aus unterschiedlichen Gründen. Manche haben Angst, dass die Menschen sterben, die sie lieben. Manche haben Angst vor Alter und Krankheit. Manche haben Angst vor dem Sterben, einem möglichen Dahinsiechen. Manche  finden die Vorstellung verstörend, in alle Ewigkeit zu verwesen. Das alles ist mir egal. Nein, mir ist nicht egal, ob jemand stirbt, den ich liebe. Das macht mir auch Angst. Mehr Angst macht mir aber, dass ich diejenige sein könnte, die stirbt. Vermutlich ist das ein Zeichen von Narzissmus. Vielleicht eines von übersteigertem Egoismus. Auch das ist mir egal. Ich nehme mich im Leben nicht übermäßig wichtig, ich glaube nicht, dass ich irgendetwas herausragend gut kann oder dass die Welt mir etwas schuldet. Ich will nur eines, und zwar nicht sterben. Ich will übrig bleiben.

Es gibt noch so vieles zu Entdecken

Die Welt verändert sich stetig, und ich will das alles wissen! So oft kann man Ereignisse erst rückblickend einordnen und deuten, und ich will unbedingt dabei sein, wenn das passiert. Ich will eine Welt sehen, wie sie in hundert Jahren ist, wie sie im Jahr 3000 ist, ich will erleben, wie die Technik unser Leben revolutioniert, ich will wissen, wie lange es noch Zeitungen gibt, ich will sehen, wie die Kontinente sich verändern und wann es endlich eine Zugverbindung in meinen Heimatort gibt. Ich will wissen, wann die erste Frau Präsidentin der USA wird, wann überhaupt in jedem Land der Erde endlich einmal eine Frau Präsidentin wird. Diese stete Angst vor dem Tod bringt mich also in ein ziemliches Dilemma. Sosehr ich es liebe zu leben, so sehr verfluche ich es, am Leben zu sein. Einmal hineingeboren, gibt es nur einen Weg wieder hinaus. Ich kann nicht nie sterben. Also ist vielleicht das Einzige, was ich tun kann, um die Furcht, die in mir lauert, zu besiegen: mich so ausführlich wie nur möglich mit dem Tod zu beschäftigen und mich meiner Angst zu stellen. Reden wir über den Tod! Ich glaube, dass ich die Dinge erst verstehe, wenn ich sie mir erklären kann. Und wenn ich sie verstehe, machen sie mir keine Angst mehr. Wenn ich also lerne, den Tod zu verstehen, dann kann ich vielleicht gut mit der Gewissheit leben, dass ich sterben muss. Vielleicht schafft das Bewusstsein um mein Ende ein größeres Bewusstsein meines Lebens und mir dadurch ein lebenswerteres und erfüllteres Leben.

Je intensiver du lebst, desto länger fühlt es sich an

Ich beginne meine Suche im Leichenschauhaus, denn auch wenn ich nicht weiß, was mit dem Menschen nach seinem Tod passiert, was mit seinem Körper geschieht ist gut erforscht. Darüber komme ich zu der Frage, warum der Mensch überhaupt sterben muss. Ich reise nach Köln ans Max-Planck-Institut und rede mit einem Forscher darüber, warum der Mensch alt wird und ob es wohl irgendwann eine Zauberpille gibt, die das Leben entscheidend verlängern kann.

Eine der Erkenntnisse, die am prägendsten für mich waren, handeln von der Zeit. Wenn ich meine Zeitspanne nicht verlängern kann, dann vielleicht die Dauer, in der sie mir erscheint? Kann ich gefühlt länger leben? Ich rufe den Zeitpsychologen Marc Wittmann an. Wenn ich die Dauer subjektiv empfinden und beeinflussen kann, ist es dann möglich, mir selbst durch objektives Zeitgefühl ein längeres Leben vorzugaukeln? Routine beschleunigt das Leben, emotionales Erleben verlangsamt, sagt Wittmann, und den schönen Satz: „Emotionen sind Klebstoff im Gedächtnis.“ Ein abwechslungsreiches Leben voll Intensität wirke im Nachhinein verlängernd, ein intensiver Umgang mit Menschen könne das Leben strecken. Ich bin meine Zeit. Ich fülle sie mit Dingen, und welchen Sinn haben diese Dinge, wenn ich währenddessen nicht bei der Sache bin? Dann ist mein Tag, mein Leben, ein Hasten von einer Sache zur anderen. Es ist paradox: Noch nie hatte der Mensch so viele Dinge, die ihm Zeit ersparen, und noch nie hatte er dennoch so sehr das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Der Mensch ist gehetzt. Er isst im Gehen, er checkt seine E-Mails, während er in der U-Bahn sitzt, telefoniert im Fitness-Center. Noch nie hatten wir so viel Lebenszeit zur Verfügung wie heute. Die Lebenserwartung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verlängert, die Arbeitszeit hat sich verringert, die Wegzeiten sind kürzer und sogar die Schrittgeschwindigkeit von Menschen in Industrieländern hat innerhalb eines Jahrzehntes um zehn Prozent zugenommen. Gleichzeitig nutzen wir diese Zeit nicht für Pausen oder fürs Nichtstun, sondern wir stopfen sie zu. Je mehr Zeit wir haben, desto mehr Zeit verplanen wir. Wer sitzt schon einmal eine Stunde herum und tut absolut nichts? Es käme einem vor wie verschwendete Zeit, und doch: Was ist schlecht an verschwendeter Zeit? Je älter wir werden, desto schneller verfliegt unsere Lebenszeit. Leben wird zur Routine, und je routinierter wir werden, desto weniger Neues muss unser Geist verarbeiten und abspeichern. Die Zeit scheint wie nichts zu vergehen, und das ist nicht verwunderlich, schließlich fehlen Höhepunkte.

Lasst uns offen über den Tod sprechen

Wie kann ich aus diesem Leben also das für mich Beste machen? Diese Frage wird auf meiner Reise immer präsenter. Ich treffe in Wien den evangelischen Bischof und rede mit ihm über Glaube und Religion, ich verbringe viel Zeit mit einer Trauerberaterin in Gelsenkirchen und erstelle mit ihr Listen darüber, wie man mit Trauer umgehen kann und wie man Freunden helfen kann, die trauern. Ich besuche Hospize und erfahre über den Umgang mit Sterbenden und wie Menschen sterben wollen. Und während all der Monate, in denen ich mich scheinbar mit dem Tod beschäftige, lerne ich immer mehr über das Leben. Ich sehe mir an, wo die ältesten Menschen wohnen und was sie gemeinsam haben. Ich beginne zu verstehen, wie wichtig Freunde und Familie für eine möglichst lange Lebenszeit sind und lade Freunde ein, um mit mir einen Abend lang über den Tod zu reden. Was mich am meisten überrascht ist, dass fast jeder Mensch sich mit dem Tod beschäftigt, Gedanken und Fragen dazu hat – und dennoch nur die wenigsten darüber reden. Dabei ist es so wichtig. Meine Angst ist heute weg. In vieler Hinsicht. Ich traue mich heute mehr. Ich habe weniger Angst vor Fehlschlägen. Davor, was andere über mich denken. Davor, ein Risiko einzugehen. Wenn ich sowieso sterben muss, kann ich das Leben viel mehr als meinen Spielplatz betrachten.

Ich schlafe jetzt besser. Ich habe mich mit dem Tod versöhnt. Ich werde einmal sterben, schon klar, aber bis dahin lebe ich. Sich zuviel mit dem Tod zu beschäftigen kann kontraproduktiv sein, er scheint plötzlich in allem sichtbar und ständig um einen herum. Sich gar nicht damit zu beschäftigen und damit einer Sache auszuweichen, die ihren Platz in unserem Leben hat, kann uns Bewusstsein nehmen, das schlussendlich ein besseres Leben ermöglicht. Man sollte sich des Todes gewahr sein, er lässt Dinge einzigartig sein, er hält uns wachsam, wenn es darum geht, uns umeinander zu kümmern. Mutig zu leben heißt nicht, vor dem Tod keine Angst mehr zu haben. Es heißt, sich das Leben bewusster zu machen. Das schafft der Tod ganz schön.

Aus: Saskia Jungnikl: „Eine ​Reise ins Leben oder wie ich lernte​,​ die Angst vor dem Tod zu überwinden“, Fischer Verlag, 250 Seiten, 14,99 Euro.

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