Wir lernen, dass wir Fremden nicht trauen dürfen. Nicht mit ihnen sprechen. Doch gleichzeitig bereichern sie unseren Alltag, wenn wir sie lassen.
Nicht alle Fremde sind Bösewichte
Ich bin oft alleine in Städten. Nicht als Reisende, eher als Nomadin. Als Gestrandete für eine gewisse Zeit. So zum Beispiel jetzt zum zweiten Mal in Berlin, davor in New York. Ich liebe dieses Gefühl: um mich herum neue Straßen, Abenteuer, Plätze und vor allem neue Menschen. Fremde. Gerade in Berlin profitiere ich ganz stark von all diesen Unbekannten. Sie inspirieren mich, ihre Geschichten, ihre Erlebnisse, ihre Meinungen ziehen mich an. Es vergeht kein Wochenende, an dem ich nicht wenigstens kurz mit Fremden spreche. In Cafes zum Beispiel, oder in der Bahn. Und Yogastudios und Spätis. In Clubs witzigerweise weniger, aber auch Partys gehören auf diese Liste. Deswegen wurde ich aufmerksam, als ich einer Playlist von TED-Talks den Titel „The Beauty of Strangers” entdeckte. Ich bin wohl nicht die Einzige, die die Schönheit im Unbekannten entdeckt hat. Denn hinterfragt hatte ich meine Faszination mit den Berührungspunkten mit Fremden bisher noch nicht.
Eigentlich sollte ich mich vor Fremden fürchten. Seit Jahrzehnten bläuen Eltern und Lehrer, Freunde und Medien uns ein: „Sprich nicht mit Fremden!” Und natürlich ist es auch nicht unberechtigt, Kindern Respekt vor Unbekannten zu lehren. Doch Angst? Die meisten von uns fühlen sich in der Anwesenheit von Fremden unwohl. Wir wissen nichts über die Personen, sie stehen in keinem direkten Kontext zu uns und wir kennen ihre Absichten nicht. Und statt uns auf unsere Wahrnehmung und unser Bauchgefühl zu verlassen, verlassen wir uns auf die Kategorisierung als „Fremder”. Genau diese Kategorisierung prangert Kio Stark in ihrem TED-Talk „Why you should talk to strangers“ an. Die Autorin hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, warum die Begegnungen und die Interaktion mit Fremden uns gut tut. Denn die wenigsten Fremden sind gefährlich. Es ist zwar gut und wichtig, vorsichtig zu sein, doch genauso wichtig sollte es sein, freundlich und offen zu sein. Wir sollten keine Angst haben, sondern unseren Verstand benutzen statt uns auf die einfache Kategorisierung in „Fremd“ und „Bekannt“ zu verlassen. Warum?
Zum einen befreit es uns von Vorurteilen. Unser Hirn kategorisiert automatisch, es ist eine Abkürzung, um Menschen einzuschätzen. Also sehen wir auf den ersten Blick nur männlich oder weiblich, jung oder alt, schwarz oder weiß, Fremder oder Freund. Das ist schnell, einfach und der direkte Weg zu Vorurteilen. Denn auf diese Art nehmen wir Menschen nicht als Individuen wahr. Aus persönlicher Erfahrung kann ich bestätigen, wie wichtig das ist. Ob als 18-Jährige in New York oder drei Jahre älter und weiser in Berlin: In einer Großstadt geht man schnell unter und fühlt sich auch so. ,Leben und leben lassen’ ist ein Motto, das zwar gut ist, wenn es um Meinungsfreiheit, Lebensstile oder Style geht, nicht aber, wenn man mit Einsamkeit zu kämpfen hat.
Flüchtige Intimität – ein Widerspruch der Wunder wirkt
Ein noch wichtigerer Grund, Fremden offen zu begegnen ist das emotionale Echo, das das erzeugt. Wissenschaftler nennen das Gefühl, das die Begegnung mit Fremden auflöst „flüchtige Vertrautheit“. Vertrautheit und Fremde scheinen einen Widerspruch zu bilden, aber nur auf den ersten Blick. Denn die Interaktion mit Fremden – und sei es nur ein Lächeln – vermittelt das Gefühl, gesehen zu werden. Wahrgenommen. Eine Rolle zu spielen. Ein Gefühl der Zugehörigkeit, wenn man sich in der Bahn mit jemandem unterhält. Und manchmal geht es noch weiter. Denn Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich Menschen häufig wohler fühlen, sich Fremden anzuvertrauen als ihren Freunden oder ihrer Familie. Dass sie sich von Fremden besser verstanden fühlen. Das soll nicht heißen, dass wir grundsätzlich mit Fremden besser kommunizieren als mit Bekannten. Es zeigt lediglich, wie bedeutsam Interaktion mit Fremden es sein kann. Diese besondere Art des Vertrauens in das Unbekannte gibt uns etwas, das wir genauso brauchen, wie die Beziehung zu Freunden.
Ich habe mich selbst schon das ein oder andere Mal damit überrascht, dass ich Fremden schneller mein Herz ausschütte als ich darüber nachdenken konnte. Und zwar nicht, weil ich mich ihnen aufzwinge, sondern weil aufrichtiges Interesse besteht. Und auch andersherum werden mir oft schon früh im Gespräch ganze Lebensgeschichten erzählt. Von Kio Stark habe ich jetzt gelernt, dass das ganz normal ist. Denn es ist eine schnelle Interaktion, die keine Konsequenzen zu tragen scheint. Es ist einfach, sich jemandem anzuvertrauen, den man nie wieder sieht!
Außerdem haben wir nicht nur Vorurteile gegenüber Fremden, sondern auch gegenüber unseren Freunden. Wir gehen davon aus, dass sie uns verstehen. Wir erwarten von ihnen, unsere Gedanken lesen zu können. Mit Fremden hingegen müssen wir neu anfangen, alles erklären, unsere Gefühle genau darlegen. Dadurch machen wir es ihnen viel leichter, uns zu verstehen.
You’re never fully dressed without a smile!
Aber was sind denn Berührungspunkte mit Fremden? Es gibt ungeschriebene Regeln, denen zu oft folgen. Sie sind von dem Land und der Region und von der Kultur in der man sich befindet abhängig. In den USA und auch in Deutschland habe ich beobachtet, dass man sich zwar aus der Ferne anschaut, wenn man aufeinander zu läuft, aber den Blick abwendet, sobald man sich näher kommt, um einander Freiraum zu geben. Kio Stark erzählt auch, dass die Menschen in Dänemark zum Beispiel eher ihre Bushaltestelle verpassen würden, als Fremde anzusprechen, um aus dem Bus zu kommen. Und in Ägypten sei es wohl unhöflich, wenn man Fremde ignoriert. Häufig werden uns diese ungeschriebenen Regeln erst bewusst, wenn wir sich brechen. Ich versuche etwa, die Menschen die das „Aus-der-Ferne-hin-und-dann-wegschauen”-Spiel spielen, anzulächeln, wenn unsere Blicke uns treffen. Mit dem Ergebnis, dass ich meistens ein erleichtertes, fast dankbares Lächeln zurück bekomme. Und auch wenn kein Lächeln zurückkommt, haben alle Reaktionen einen überraschten Unterton gemeinsam. Es ist fast kitschig, weil wir es alle schon einmal gehört haben, aber es ist wahr: Ein Lächeln erhellt allen den Tag. Und auch ich merke, wie meine Lachmuskeln etwas antippen, das ein leises Gefühl von Glück ausschüttet.
Häufig ist ein Lächeln auch der erste Schritt zum Gespräch: Gerade in der Bahn, an einer Haltestelle oder in Cafés lächelt man sich vielleicht gar nicht an, sondern weil etwas Amüsantes in der Nähe stattfindet: ein turteldes Pärchen, eine witzige Werbung, ein süßes Kind, ein verrückter Hund – you get the picture. Dinge, die einen Grund geben, Kontakt mit einem Fremden aufzunehmen. Hier ist es einfach, einen Kommentar abzugeben und zu sehen, was passiert. Ich bin häufig von der Erleichterung überrascht, die mein Gegenüber ausstrahlt oder die auch ich verspüre, wenn eine Grenze des Schweigens überschritten wird. Auch wenn es nirgendwo hinführt und die Person zunächst verwirrt ist, so löst es doch ein positives Gefühl aus. Und meistens reagieren Menschen gern. Denn es geht hier nicht ums Flirten. Aus all meinen Begegnungen, kurzen Unterhaltungen ist nur einmal eine Handynummer herausgesprungen: die von einer Yogalehrerin! Denn es tut schlicht und ergreifend gut, bemerkt zu werden. Ein Lächeln, ein Kompliment oder ein Kommentar sind häufig nichts weiter als eine Bestätigung, dass man gesehen wird. Das man nicht alleine ist. Teil einer Stadt. Dass man nicht egal ist.
Wunderschöne Unterbrechung im erwarteten Alltag
Wenn wir mit Fremden reden, bringen wir wunderschöne Unterbrechungen in das Narrativ unseres vorhersehbaren Alltags. Und in deren Alltag. Wir erschaffen unerwartete Verbindungen. Wir verbringen viel Zeit damit, unseren Kindern beizubringen, wie sie mit Fremden umgehen. Dem möchte ich, wie gesagt, auch keine Bedeutung absprechen. Doch vielleicht sollten wir auch unseren eigenen Umgang mit Fremden hinterfragen. Denn wenn wir uns so verhalten würden, wie unsere Eltern es uns beigebracht haben, dann würden wir durch die Welt laufen und alles und jeden um uns verängstigt ignorieren. Die kurzen Begegnungen, die kleinen Lächeln und Unterbrechungen und schönen Unterbrechungen unseres Alltags würden an uns abprallen. Wir würden uns zu ignoranten und misstrauischen Menschen entwickeln. Also sollten wir vielleicht nicht grundsätzlich jeden Fremden in eine Schublade stecken und unsere Lächeln freier verschenken. Unsere Vorurteile abschütteln und unsere Muster hinterfragen. Auf unser Bauchgefühl hören, statt auf unsere Gewohnheiten, wenn wir Fremden begegnen und einfach mal schauen, was passiert.
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