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Warum manche Männer den Müll vielleicht wirklich nicht sehen

Unsere Kolumnistin Natalie hatte diese Woche eine Erleuchtung: Vielleicht sieht der Ehemann den Müll ja wirklich nicht!

 

Er steht im Türrahmen, direkt vor dem blauen Müllsack

„Wo ist der Müll?“ fragt mein Mann. Es ist Montag früh und ich habe ihn eben erneut gebeten, den blauen Müllsack, der seit Samstagabend schon vor der Haustür steht und eigentlich nicht zu übersehen ist, in die Tonne zu schmeißen. „Wo ist der Müll?“ sagt er also, während er im Türrahmen steht, direkt vor dem blauen Müllsack. Ich sehe Henry an. Henry sieht mich an. Direkt ins Gesicht. Mein ursprünglicher Impuls, ihn zu fragen, ob das ein Witz sei, immerhin läge der Müll ja genau vor seiner Nase, man könne ja quasi nicht umhin, ihn zu sehen, außer man sei blind oder anderweitig wahrnehmungsgestört, wird im Keim erstickt. Kann es sein, dass er ihn wirklich nicht sieht? In diesem Moment, diesem einen kurzen Moment, der mir jedoch wie eine Ewigkeit vorkommt, weil sich die Zeit ins Unendliche zu dehnen scheint, überkommt mich plötzlich eine Erkenntnis. Die japanischen Buddhisten nennen diese Momente “Satori“. Meister Eckart nannte sie „Erleuchtung“. Ja, denke ich, mein Mann sieht den Müllsack wirklich nicht.

Paralleluniverum, Trauma oder Genetik?

Die Frage ist nur, wieso? Kann die Physik hier weiterhelfen? Quantenphysiker haben die These aufgestellt, es gäbe Paralleluniversen. Könnte es also sein, dass mein Mann eine Technik entwickelt hat, sich in den Momenten des Müllrausbringens aus diesem Universum heraus und in ein anderes hinein zu beamen? Weiß ich, was er in Wahrheit tut, wenn er sagt, er sei über mittags in seinem Lieblingsitaliener zum Mittagessen gewesen? Vielleicht gibt in diesem Paralleluniversum auch eine Frau, die so heißt wie ich und mir in allem gleicht – nur mit dem kleinen feinen Unterscheid, dass die andere Ehefrau in dem anderen Universum ihn noch nie gebeten hat, den Müll rauszubringen.

Gewiss, die Psychologie würde für das Nicht-Sehen des Mülls eine andere Erklärung parat haben. Sie würde diesen Akt als „Verdrängung“ bezeichnen, deren Ursachen in einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit zu suchen wären. In der Kindheit passieren schließlich viele traumatische Dinge. Hat Henry sich als Kind einmal in einer Mülltonne versteckt und ekelerregende Speisereste auf den Kopf geschüttet bekommen? Hat ein böser Nachbar ihm einmal gedroht, ihn in einen Müllsack zu stecken, wenn er noch einmal den Fußball zu ihm in den Garten wirft? Hat er sein Lieblingskuscheltier einmal aus Versehen in den Müll fallen lassen?

Biologen behaupten andererseits, dass bestimmte Verhaltensweisen einfach eine Frage der Genetik seien. In diesem Fall wäre das „Nicht-Sehen-des Mülls“ einfach nur ein biologisch weitervererbter Defekt. Die Schuld läge nicht etwa bei meinem Mann, sondern bei irgendeinem Ur-ur-ur-ur-urgroßvater meines Mannes, der vor vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten damit angefangen hatte, sich ganz grundsätzlich zu weigern, den Müll sowohl zu sehen wie auch ihn rauszubringen. Dies wäre dann einfach weitervererbt worden und zwar in Form einer fehlenden DNA Sequenz für „den Müllsack sehen“ bzw. „den Müllsack wegbringen“. Etwa so, wie wir auch keine DNA für das Sehen ultraroter Farben haben oder das Riechen von Nektar. Was natürlich bedeuten würde, dass unser Sohn mit Sicherheit auch diesen genetisch vererbten Defekt in sich trägt.
Die Frage ist also: Was tue ich dagegen? Biologen schätzen unterdessen, dass die Genetik uns weitaus mehr beeinflusst als unsere soziale Umwelt. Will ich also wirklich einen Kampf gegen die menschliche Genetik aufnehmen?

Es könnte alles weitaus schlimmer sein…

„Wo ist der Müll?“ fragt also mein Mann. Ich lächle ihn an, tätschle seinen Arm. Es könnte alles weitaus schlimmer sein. Der Ur-ururur-urgroßvater hätte eine Blindheit für das Nageleinschlagen, Glühbirnenwechslen oder auch Geldverdienen weitergegeben haben können, mein Mann könnte beim Anblick eines Müllsacks einen Schreikrampf bekommen und tagelang in die Psychiatrie eingewiesen werden müssen oder er könnte in der Früh ins Büro gehen und von seinem nachmittäglichen Spaziergang ins Paralleluniversum überhaupt nicht mehr zurückkommen. Was ist im Vergleich dazu schon ein kleiner Müllsack, den ich nachher einfach selbst rausbringen werde? Richtig. Nämlich gar nichts. Er ist in der Tat praktisch unsichtbar. Die Zen-Buddhisten haben Recht.

„Es gibt keinen Müllsack“, antworte ich also. Die Zeit hat aufgehört sich zu dehnen und der Moment der Erleuchtung ist vorbei.
„Kommst du heute Abend nach Hause?“ frage ich.
„Natürlich.“ sagt er. „Wahrscheinlich so um acht.“.
„Wunderbar“ sage ich und seufze erleichtert.

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