Unsere Community-Autorin VJ_ane war zum ersten Mal in einer Flüchtlingsunterkunft, um Kindern Sprachunterricht zu geben – hier erzählt sie, wie diese Erfahrung ihren Blick auf die Flüchtlingsdebatte verändert hat.
Bisher eher ein nüchterner Blick auf die Debatte
Ich habe bis jetzt das
Flüchtlingsthema relativ nüchtern betrachtet. Auch in meinem Umfeld war klar,
dass Flüchtlinge in jedem Fall aufgenommen werden müssen, aber das natürlich
gut abgestimmt werden muss, dass die Kapazitäten ausreichen müssen und auch, dass nicht alle werden bleiben können. Ganz in der deutschen Bürokratie-Marnier eben. In den Gesprächen fielen dann auch immer Worte wie „die Flüchtlinge“ oder „die Asylbewerber in dem Flüchtlingsheim“, wie auch in den meisten
Zeitungsberichten und anderen Medienbeiträgen so Bezug genommen wird.
Doch wer sind „die Flüchtlinge“, „die Asylsuchenden“? Denn von uns, die so darüber reden, hatte doch, wenn wir mal ehrlich sind, kaum einer wirklich mit einem Flüchtling gesprochen, geschweige denn schon mal ein Flüchtlingsheim besucht. Man las nur die vielen Artikel und sah die
Berichte darüber und hatte schon die Idee, man wüsste, worüber man sprach. Das
jedoch ist etwas zu einfach.
In einer Freiwilligenbörse hatte
es einen Aufruf gegeben, dass für zwei Flüchtlingskinder Sprachlehrer gesucht werden.
Zwei Kommilitonen und ich hatten sich bereit erklärt, zu helfen. So
machte ich mich also an einem Dienstagmorgen auf den Weg zu „den Flüchtlingen“ in
einer Unterkunft nahe meines Wohnorts. Das Heim war etwas versteckt in einer Seitengasse
zwischen Wohnhäusern, nichts außer die Hausnummer wies darauf hin,
dass ich hier richtig war. Das Gebäude sah aus wie jedes andere Haus, Wäsche hing aus den
Fenstern und Spielzeug lag vor der Tür.
Nach einer kurzen Überlegung
stellte ich mein Auto in einer anderen Seitenstraße ab und ließ meinen Laptop
nicht wie sonst im Kofferraum, warum? Offenbar hatte auch ich mich schon von Vorurteilen anstecken lassen. Ich machte mich langsam auf den Weg zur Flüchtlingsunterkunft und wurde gleich von einer älteren Dame am Fenster des
Heims entdeckt. Daraufhin steckten immer mehr Leute die Köpfe heraus. Und ich
tat das, was mir am natürlichsten schien, lächelte und fing an, scheu zu
winken. Und mir winkte ein ganzes Wohnheim mit Strahlen zurück. Warum genau
hatte ich nochmal meinen Laptop nicht im Auto lassen wollen?
Da ich etwas zu früh war, wartete
ich noch ein paar Minuten vor dem Eingang des Heims und blieb nicht lange allein,
zu mir gesellten sich Mütter, Kinder, junge Männer und ältere Damen. Woher ich kam?
Was ich hier machte? Ob ich nicht reinkommen wollte? Ich wurde allerherzlichst
begrüßt. Die meisten konnten sehr gut Englisch und mit allen anderen reichten
auch Gesten und ein Lächeln im Gesicht, irgendwie verstand man sich. In den zehn Minuten meines Wartens erzählten sie mir so viel, aus welchen verschiedenen
Ländern sie kamen, welche Probleme es dort gab, warum sie gerade nach Deutschland
gekommen sind, welche Wege sie hierhin geführt hatten und darüber, dass sie noch auf
andere Familienmitglieder warteten, dass Oma, Vater, Sohn, Mutter teilweise
noch in einem anderen Land saßen oder man gar nichts wusste darüber, wo sich die Angehörigen befanden.
Wir wurden mit großen Augen angeschaut
Nachdem auch meine Kommilitonen angekommen waren, gingen wir mit der Betreuerin in das Heim, um uns den
beiden Kindern vorzustellen, die wir in den nächsten Monat begleiten würden. Das
Heim war sehr sauber, alles ordentlich, nur alles andere als heimelig; Möbel
waren zusammengewürfelt und die Wände waren kahl,
die Küche noch nicht ausgestattet und überall noch Dinge, die zusammengebaut
werden mussten.
Im Gemeinschaftsraum trafen wir dann die beiden Kinder. Zunächst waren sie recht schüchtern und saßen
zusammen an einem Tisch uns gegenüber. Als wir nach einiger Zeit anfingen, den
Stundenplan aufzustellen und über die Schule sprachen, kam auf einmal eine leise
Frage: „Schule?“. Wir wurden von beiden mit großen Augen angeschaut und als wir
dann bejahten, breitete sich ein Lächeln aus. „Für uns?“ und wieder nickten wir.
Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der sich scheinbar so darauf freute,
endlich lernen zu dürfen. Und dabei schlugen sich die beiden schon ganz gut,
dafür, dass sie erst so kurz hier in Deutschland waren und es nicht sicher war,
ob sie in ihrem Heimatland überhaupt regelmäßig zur Schule gegangen waren.
Gegen
Ende der Besprechung fragte ich dann nur kurz, wie es mit dem nächsten Monat aussehen würde,
die Betreuerin erwiderte, dass man es noch nicht sagen könne, denn es sei nicht geklärt, ob die beiden überhaupt hier in Deutschland bleiben dürften. Warum
bewegte mich das auf einmal so? War es nicht genau das, was ich zuvor im Umkreis oft
als Argument gehört hatte, schließlich konnte nicht jeder in Deutschland bleiben,
oder?
Ich stieg wieder ins Auto und schon
jetzt war klar: Das nächste Mal würde ich direkt vor dem Flüchtlingsheim parken
mit Sack und Pack hinten drin. Abends saß ich bei mir in der Wohnung und
scrollte durch mein Tablet, las die Artikel zu Ungarn, sah die Bilder zu den
Zügen und über erneute Nazi-Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Doch schon jetzt, nach dem
ersten Kennenlernen, war es geschehen um meine vermeintliche Nüchternheit. „Die Flüchtlinge“ hatten auf einmal ein Gesicht, ich dachte an all die Bewohner, die ich kennengelernt hatte heute, „die Flüchtlingskinder“, welche vielleicht
abgeschoben werden, könnten in einem Monat genau die beiden sein, die sich so
sehr freuten, hier in Deutschland zu sein und zu lernen und auch „das Heim“, vor
dem Nazis ihre widerwärtigen Parolen riefen, hatte nun nicht mehr einen
abstrakten Charakter, sondern eine klare Gestalt. Bis heute hatte das alles
noch so einfach gewirkt, Regeln, Verfahren und so weiter, und ich hatte ja auch mit alldem nicht wirklich etwas zu tun gehabt.
Nun saß ich hier mit einem flauen
Gefühl im Magen und blickte mich in meiner Wohnung um, mit dekorierten Wänden,
mein Kühlschrank gefüllt, fließendes Wasser, Schule eine
Selbstverständlichkeit. Und viel wichtiger vielleicht, ich hatte einen
deutschen Pass, ich wusste: nächsten Monat, nächstes Jahr, die nächsten
Jahrzehnte, mein Leben lang durfte ich hier bleiben und ich wusste auch, wo
meine Eltern waren, in Sicherheit, gleich ein Städtchen weiter. Und ich
fragte mich: Solange es mir so gut ging und andere Menschen sich nicht sicher fühlen können, nicht wissen, wo ihre Familien sind – wie kann man dann überhaupt von „Kapazitäten“ sprechen? Denn allein bei mir hier waren doch noch genügend Platz und Ressourcen, um zu helfen.
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