Unter Burn-out können sich vermutlich alle etwas vorstellen. Aber Burn-on? Durch Zufall fällt unserer Autorin ein Artikel darüber in die Hände – und sie erkennt sich 1:1 wieder und weiß: Es muss sich etwas ändern.
Ich fahre nach der Arbeit zum RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain, um dort eine gute Freundin zu treffen. Ich war lange nicht mehr hier: Oberhalb des Biergartens Cassiopeia wandern dünne Kabel durch die Luft, daran hängen in unregelmäßigen Abständen Glühbirnen, die die Stühle und Tische und Gesichter in rotes Licht tauchen. In jedem Winkel glitzert irgendwas. Ab und zu huscht eine Maus über den Boden auf der Jagd nach Brezelresten.
Zu Beginn unseres Treffens ist noch Chaos im Kopf, akut bei mir anstehende Tasks beanspruchen alle 100 Milliarden Nervenzellen in meinem Gehirn: Wie strukturiere ich das Porträt über die Popikone, welche Telefonate für das anstehende Event stehen noch aus, welche Texte für die Voices-Anthologie fehlen noch, welche E-Mails in den fünf Accounts sind noch nicht beantwortet, drei Konzepte für unterschiedliche Projekte … Stop it! Du bist jetzt hier! Ich zwinge mich, damit aufzuhören. Und für wenige Stunden sind meine Gedanken an lange Aufgabenlisten und Pläne tatsächlich leiser.
Die Freundin, mit der ich an diesem Sommerabend über alles außer Arbeit spreche (sie kennt mich gut), sagt am Ende unseres Treffens einen Satz, den ich sehr liebe: „Trag Sorge zu dir.” Ich kenne keine andere Person, die diesen Satz am Ende von Verabredungen sagt. Und ich fahre mit ihren Worten im Ohr auf dem Rad durch die Nacht und denke darüber nach, warum es so schwierig ist, „Sorge zu mir zu tragen”.
„Burn on: Immer kurz vor dem Burnout“
Ein Freund, den ich länger nicht gesehen habe, schickt mir einen Artikel, in dem es um das sogenannte „Burn on Syndrom” geht. Den Begriff hatte ich vorher nie gehört. Nach den ersten Zeilen bin ich genervt, ja, ja, ich weiß, worauf das hinausläuft, denke ich und wende mich wieder der Arbeit zu. Irgendwann am späten Abend lese ich dann aber doch weiter. Burn-on-Typen, steht da, haben andere Symptome als Burnout-Typen. Sie brechen nicht zusammen, obwohl sie innerlich total erschöpft sind. Sie sind übersteigert pflichtbewusst, machen immer, immer weiter, auch wenn sie eigentlich nicht mehr können, im Zweifelsfall mit fatalen Folgen.
Fühle ich mich irgendwie ertappt? – Nein. Kein bisschen. Mir geht’s super. Wirklich, total gut. Läuft alles. Ich schaffe mein Pensum, sogar mehr als das. Ich verstehe nicht, warum mir das zugeschickt wird. Ich liebe meine Arbeit – und lese weiter. In dem Artikel steht, Menschen mit Burn on würden ständig beteuern, wie gut es ihnen geht. Dass alles läuft. Dass sie alles schaffen. Dass sie Erfolg haben. Dass sie kein Problem sehen. Dass sie ihre Arbeit lieben.
Erfinder des Begriffs Burn-on sind Timo Schiele und Bert te Wildt. Timo Schiele ist der leitende Psychologe in der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee, Bert te Wildt ist dort Chefarzt. In ihrem Buch „Burn on: Immer kurz vor dem Burnout“ schildern sie ihre Erfahrungen mit Personen, die eigentlich wegen eines Burnouts zu ihnen in die Klinik kamen. Aber sie zeigten eben nicht die Anzeichen eines typischen Burnouts. Während Burnout-Patient*innen nämlich irgendwann aussteigen, weil sie auf die Alarmzeichen ihres Körpers hören beziehungsweise ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, machen von Burn-on betroffene Menschen einfach immer weiter. Timo Schiele und Bert te Wildt unterscheiden zwischen der chronischen Erschöpfungsdepression (Burn-on) und der akuten Erschöpfungsdepression (Burnout).
„Permanent gestresst und erschöpft zu sein, gehört längst zum guten Ton. Das geschäftige Ausgebranntsein ist zur allgemeinen Betriebstemperatur geworden.“
Prof. Dr. med. Bert te Wildt und Timo Schiele
Als ich dieses Zitat in dem Buch der beiden Ärzte lese, weiß ich nicht genau, was ich denken soll. Eigentlich mag ich es nicht, wenn Menschen ständig erklären, wie viel sie arbeiten und aus allen Poren scheint dabei so ein seltsamer Stolz, als sei es etwas Lobenswertes, sich selbst vollkommen aus den Augen zu verlieren und nur noch für die Arbeit zu leben. Aber ich fürchte, ich habe etwas davon in mir.
Für den Voices Newsletter schrieb ich einmal einen Text mit dem Titel: „Wo ein Wille ist, ist manchmal überhaupt kein Weg.” Es war eine Art Entschuldigung an meine Freund*innen, die mich nicht mehr sehen. Ich vermisse sie, aber neben Erwerbsarbeit und Care-Arbeit bleibt kaum eine Sekunde übrig. Trotzdem: Es ist immer einfacher, die Schuld bei anderen zu suchen. Statt zu sehen, dass man selber etwas tun muss. Ich könnte zum Beispiel den bewussten Entschluss fassen, mich nicht täglich in der Arbeit zu verlieren, ich könnte feste Pausen einplanen und einsehen, dass das Leben dringend Leichtigkeit braucht.
Der erste Schritt aber ist wohl die Erkenntnis, dass etwas nicht stimmt und mir einzugestehen, dass ich die Einzige bin, die etwas daran ändern kann.