Foto: privat | Collage: EDITION F

„Ich will Scheitern nicht nur aus einer Erfolgsperspektive sehen“

Unsere Autorin nervt es, dass Erzählungen vom Scheitern in unserer Gesellschaft meist mit einer darauffolgenden Erfolgsgeschichte gekoppelt werden. Sie wünscht sich Raum für vielfältige Geschichten des Scheiterns.

Ich befinde mich am Anfang meiner journalistischen Laufbahn. Deshalb höre ich mir gerne Podcasts oder andere Formate an, in denen (Nachwuchs-)Journalist*innen von ihrem Weg, ihren Problemen und Erfahrungen berichten. Eigentlich eine super Sache: Aus den Berichten anderer kann ich wertvolle Tipps ziehen, die ich wiederum für meinen eigenen Weg nutzen kann.

Leider nervt mich eine Sache an dieser Art von Format ziemlich. Sobald es um Selbstzweifel oder Scheitern geht, läuft die Erzählung nach dem folgenden Muster ab: Erfolgreiche Menschen erzählen rückblickend von ihrer Angst, dass sie es niemals schaffen würden, sich in der Branche durchzusetzen. Was sich offensichtlich nicht bewahrheitet hat. Oder: Erfolgreiche Menschen berichten von Misserfolgen, aus denen sie dann aber jede Menge lernen, sich sogar erfolgreich herauskämpfen konnten, um aus diesen Fehlschlägen dann sogar noch was großartig Neues zu gestalten, sodass sie das Scheitern rückblickend als positiv bewerten und es gar nicht missen wollen.

„Scheitern ist okay, aber nur, wenn wir etwas daraus lernen können, um letztendlich viel krasser werden zu können, als wir es ohne Scheitern je hätten werden können.“

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Natürlich ist mir bewusst, dass diese Erzählungen erfolgreiche Personen nahbar machen sollen und Niederlagen normalisieren. Sie sollen stärken und dazu ermutigen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Ganz nach dem Motto: „Schau, wenn ich nach einer Niederlage weitermachen und noch besser werden konnte, kannst du das auch!“

Wenn das allerdings nur Leute erzählen, die auf eine krasse Karriere zurückblicken können, lösen diese Geschichten bei mir häufig eher das Gegenteil aus. Ganz nach dem Motto: „Ja cool, wenn sogar du Selbstzweifel hast, obwohl du offensichtlich erfolgreich bist, wie soll es mir dann gehen?“ Oder ich stelle mir die Frage: „Was, wenn ich mal so richtig scheitere, so richtig auf die Nase falle, und keine krasse Erfolgsstory folgt? Wenn ich nichts lerne, nichts Positives daraus ziehen kann? Was, wenn es einfach scheiße ist und ich schauen muss, wie ich mich wieder aufbauen kann?“

Natürlich ist es gut, wenn Menschen öffentlich über ihr Scheitern sprechen, Misserfolge dadurch normalisiert werden und so ein größeres Bewusstsein und auch mehr Sensibilität für diese Themen entstehen. Und ja, es ist bewundernswert, wenn Menschen aus Niederlagen Kraft schöpfen, um neue große Ideen zu realisieren. Ich möchte keiner Person ihre*seine Gefühle absprechen. Die Art, wie überwiegend über dieses Thema gesprochen und geschrieben wird, zeigt aber klar, wie unser gesellschaftliches Verständnis von Scheitern aussieht: Selbst die Momente, in denen wir schwach und verletzlich sind, weil wir etwas nicht geschafft haben, weil wir nach unserem Verständnis versagt haben, sollen wir ganz nach einem kapitalistischen Werteprinzip zur Selbstoptimierung nutzen. Scheitern ist okay, aber nur, wenn wir etwas daraus lernen können, um letztendlich viel krasser zu werden, als wir es ohne Scheitern hätten werden können.

„Wir reden über Scheitern als Gewinn, Scheitern als Chance und Scheitern als Mittel zum Zweck, aber eben nicht über das reine Scheitern. Nicht über die Trauer, die Wut und die Verzweiflung, die damit einhergeht.“

Solange der gesellschaftliche Diskurs übers Scheitern mehrheitlich anhand von Erfolgsgeschichten erzählt wird, reden wir über vieles, allerdings nicht über das Scheitern an sich. Und das wiederum löst einen enormen individuellen Druck aus, dass selbst das Scheitern produktiv genutzt werden muss. Wir reden über Scheitern als Gewinn, Scheitern als Chance und Scheitern als Mittel zum Zweck, aber eben nicht über das reine Scheitern. Nicht über die Trauer, die Wut und die Verzweiflung, die damit einhergeht. Nicht über die Geschichten, in denen es nach dem Scheitern einfach okay weitergegangen ist, und nicht die krasse Erfolgsstory folgte. So wie es den meisten Menschen, so denke ich, häufiger passiert.

Bei dieser Form des Sprechens übers Scheitern wird außerdem ein weiterer Punkt unsichtbar gemacht: Scheitern wird hier als ein rein individuelles Problem dargestellt. Und mit diesem Problem muss das Individuum dann auch alleine klarkommen. Dieses Narrativ findet sich auch in den Debatten über „Resilienz“ wieder, das das Zauberwort in Krisenzeiten zu sein scheint. Auf der Onlineplattform „karrierebibel.de“ wird Resilienz folgendermaßen definiert: „Statt ohnmächtig und hilflos das eigene Leben zu betrachten und in Selbstmitleid zu versinken, verhilft Resilienz dazu, weiterzumachen, das Tief zu überwinden und sich den Herausforderungen aufs Neue zu stellen.“ Resilienz setzt sich demnach aus sogenannten Schlüsselfaktoren wie unter anderem Optimismus, Zukunftsorientierung, dem Bewusstsein für die eigene Selbstwirksamkeit und Lösungsorientierung zusammen.

„Die grundlegenden Voraussetzungen dafür, Krisen und damit auch Scheitern konstruktiv zu nutzen, sind gesamtgesellschaftlich nicht gleich verteilt.“

Menschen scheitern aber nicht nur aufgrund individueller Handlungen oder Entscheidungen, sondern an bestimmten Strukturen, ungerechten Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Hierarchien. Genauso ist auch Resilienz keine rein individuelle Eigenschaft, sondern wird ebenfalls von äußeren Bedingungen beeinflusst. Rassismus, Sexismus, Queer- und Transfeindlichkeit, Klassismus, Ableismus und Bodyshaming sind Faktoren, die sich negativ auf die eigene Resilienz auswirken können. Sie haben Einfluss darauf, inwieweit wir generellen gesellschaftlichen Rückhalt haben und verspüren. Resilienz sollte nicht als eine statische Eigenschaft, die sich im Laufe des Lebens nicht weiterentwickeln könnte, verstanden werden. Aber die grundlegenden Voraussetzungen dafür, Krisen und damit auch Scheitern konstruktiv zu nutzen, sind gesamtgesellschaftlich nicht gleich verteilt.

„Schlussendlich wünsche ich mir, dass wir als Gesellschaft einen Raum schaffen, in dem Platz für vielfältige Geschichten des Scheiterns ist.“

Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft einen Raum schaffen, in dem Platz für vielfältige Geschichten des Scheiterns ist. Geschichten von benachteiligenden Strukturen und solche von falschen Entscheidungen. Geschichten, nach denen es für die Betroffenen bergauf ging und solche, nach denen es danach einfach durchschnittlich weitergegangen ist. Geschichten, in denen Menschen Resilienz zeigen und solche, in denen sie Verletzlichkeit preisgeben. Denn nur so werden Geschichten des Scheiterns wirklich normalisiert und nahbar – und schaffen keine unrealistischen Ideale, die strukturelle Probleme individualisieren und enormen sozialen Druck ausüben.

Dieser Artikel erschien bereits im August 2021 bei EDITION F plus.

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