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Das neue Buch von Charlotte Roche wirft eine große Frage auf: Weißt du, was du vom Leben willst?

In ihrem dritten Roman knöpft auch Charlotte Roche sich die überzogenen Erwartungen an Mütter vor – und ihre Wünsche. Was wir aus ihrem Buch lernen können.

 

Wir sind nun einmal einfach gestrickt

„Ich presse die Augen zu und halte
mein Gesicht in den harten Strahl. Das piekst richtig, wie Nadelstiche, aber
ich ziehe nicht weg, ich will keine Pussy sein. Vielleicht ist das ja auch gut
für meine Haut.“ Das hofft Chrissi, die Protagonistin in Charlotte Roches
dritten Roman, während sie nach dem Sport unter der Dusche steht und einen
ihrer banalen Gedanken denkt, die sich in 19 Episoden aneinander reihen. Das
nervt, aber die Wahrheit ist auch, dass jeder von uns, sei es eine
Bestsellerautorin, ein Teenager, eine gelangweilte Hausfrau, so wie Chrissi
eine ist, oder ein DAX-30-Manager banales Zeug von der linken zur rechten
Gehirnhälte schiebt, während er den Schweiß vom Körper wäscht, die Zähne putzt
oder in einem Meeting Kästchen auf den Notizblock malt. Die meiste Zeit unseres
Lebens sind wir nicht intellektuell, sondern sehr einfach gestrickt und haben
diese schrägen Ideen und Beobachtungen, von denen wir glauben, die seien nun
wirklich vor uns noch niemandem eingefallen und wir schämen uns ein wenig, da
vor dem Badezimmerspiegel zu stehen, die Falten zu zählen und sich daran zu
erinnern, welchen Supertrick gegen die Alterung wir heute Morgen noch im Internet
gelesen haben.

Charlotte Roche ist keine Sprachgewalt, aber was sie in Mädchen für alles wirklich gekonnt vollbracht hat, ist eine Figur zu entwickeln, deren
Geplapper dieses unglaublich nervtötende Niveau durchhält. Chrissi ist
unsympathisch, egoistisch und denkfaul, ja – aber sie bringt die Leserin und
den Leser vor allem in Verlegenheit, weil wir uns erwischt fühlen dabei, selbst
so oft nicht über naive Ideen hinauszukommen, während wir unserem Alltag
nachgehen oder so wie Chrissi mal wieder eine Nacht lang eine US-Serie
binge-watchen. Der Serienschauer fühlt sich so abgebrüht und messerschaft wie
Frank Underwood aus House of Cards, den auch Chrissi zitieren kann, aber wer
macht ihm wirklich Konkurrenz, wenn er mit einem heißen Kakao vor dem Laptop
liegt?

Chrissi liegt selbstverständlich
nicht mit Heißgetränk vor dem Fernseher, sondern ist dieses Mal die prollige
Version von Charlotte Roches Frauenfiguren, die ihre Geschichte erzählt.
Chrissi trinkt am liebsten Bier, bevor sie betrunken auf dem Sofa einschläft
und es nicht mehr die Treppen hinauf schafft zu ihrem Mann und ihrer kleinen
Tochter. Sie ist auf den wenigsten Seiten des Buches nüchtern, den Alkohol
mischt sie mit einer ordentlichen Menge Kokain – Wodka allein verhilft ihr
nicht zu dem Selbstbewusstsein, das sie braucht um ihren „Plan“ zu verfolgen,
der auf dem Buchrücken des Werkes
angekündigt wird. Dieser Plan ist eher eine fixe Idee und er lässt sich
erstaunlich leicht in die Tat umsetzen, sodass die junge Mutter auch niemals
zur Heldin mutieren kann, die etwas Unerwartetes schafft.

Das Kind als Antwort auf die Sinnkrise?

Die vorschnelle Lesart der
Geschichte von Chrissi, die an der Durchschnittlichkeit ihres Lebens erstickt, wäre
Charlotte Roche vorzuwerfen, dass sie die Trilogie beenden musste – egal, ob
sie nun noch ein Buch in sich trägt oder nicht. 

Verlag und Leser wollten sicherlich diesen Trash, denn dafür steht sie,
und daraufhin hat Roche nun so viel wie möglich davon auf die Seiten des Buches
gestopft und dabei außer Acht gelassen, dass die Geschichte von Chrissi für ein
Buch nicht reicht. Denn die ist wirklich schnell erzählt: Eine Frau, die sich
in ihrem Job unter Druck gesetzt und abgehängt fühlte, kommt auf die Idee, dass
ihr Leben besser und erfüllender wird, wenn sie ein Kind bekäme. Sie bekommt
es, doch das Kind ist nicht die Antwort auf ihre Suche nach mehr, mit dem
Nachwuchs entfremdet sie sich außerdem weiter von ihrem Mann und plant, um ein
wenig mehr Aufregung in die triste Elternzeit zu bekommen, die schöne, junge
Babysitterin zu verführen. Das Ganze endet jedoch nicht mit Sex, Liebe oder
Drama zwischen den beiden Frauen, sondern webt noch schnell Probleme mit den
Eltern ein, um zu zeigen, dass jede von Chrissis Beziehungen komplett kaputt
ist. Roche-typisch füllt man das Ganze dann mit expliziten Sexszenen und
anderen Körperlichkeiten, Drogen, Gefluche und zahllosen popkulturellen
Referenzen.

Das Buch ist ohne Frage völlig
überladen und der Handlungsstrang wirr und jede Figur außer Chrissi bleibt
blass, was auch dazu führt, dass man nicht abschließend verstehen kann, warum
die Hauptfigur – eine junge Mutter, der auf den ersten Blick nichts fehlt – so
kaputt ist. Denn von außen betrachtet ist ihr Leben in groben Zügen in Ordnung:
Ein Eigenheim, wenn auch nicht abbezahlt, ein Mann, der gut verdient und
mindestens 95 Prozent der Sorge für das Kind übernimmt, eben diese niedliche
Tochter und dann auch noch ein rührendes „Mädchen für alles“, dem Chrissi eine
ihrer teuren Handtaschen schenkt, um die Verführungsstrategie ein wenig zu
beschleunigen. Materiell und auf den ersten Blick ist die Familie intakt.

Muttersein ist wenig kitschig

Musste Charlotte Roche für ihr
drittes Buch tatsächlich auf den Zug der Mütter-Debatten aufspringen und
liefert sie mit „Mädchen für alles“ dazu einen Beitrag, dessen Lektüre sich
lohnt? „Als junge Mutter fühlte ich mich von allen betrogen, die mir
gesagt hatten, wie toll es ist, schwanger zu sein und Mutter zu werden“, hat
die Autorin dem Spiegel in Interview zu ihrem Buch erzählt – und die
Kitschwelt, die Lifestyle-Medien zusätzlich zum deutschen Muttermythos über das
Babyglück aufgebaut haben, tragen sicherlich zur Täuschung von Erstlingseltern
mit bei, die von der vor allem anstrengenden Realität mit Baby überrascht
werden und sich damit konfrontiert sehen, dass ihr altes Leben in der Tat erst
einmal vorbei ist. Doch Roches Roman ist keine Auseinandersetzung mit dem
Elterndilemma und dem Erwartungsdruck, den Mütter an sich selbst richten und
der von anderen an sie gerichtet wird. Denn sie arbeitet nicht heraus, dass die
Geburt des Kindes sowohl die Ehe als auch das Selbstbewusstsein von Chrissi
vernichtet haben könnte  – Chrissi war
schon vorher verloren und ein Kind zu bekommen ein Plan in einer langen Reihe
von Fehlentscheidungen.

Wenn man als Leser
dabei zusieht, wie die Protagonistin das Interesse an Mann und Kind verliert,
Charaktere aus Fernsehserien zu ihrem Lebensmittelpunkt macht, ihr
Feierabendbier braucht und dann auch noch eine Affäre mit dem Babysitter
beginnt, liegt hier beinahe der Schluss auf einen einfachen Rollentausch nah:
Es hätte auch Jörg sein können, der merkt, dass Familie nicht die richtige Idee
war, Hausarbeit und Erziehung seiner Frau überlässt und fremdgeht. Aber ist die
Figur der abwesenden Mutter schon Emanzipation? Ein Tabubruch? Wenn „Mädchen
für alles“ eine Gesellschaftskritik sein soll, dann wirft Roche nicht die Frage
danach auf, welche Mütterbilder wir akzeptieren und welche nicht. Sie setzt
schon einen Schritt vorher an, denn dass ihre Figur Chrissi aus der
Unzufriedenheit mit ihrem Job heraus einzig auf die Idee kommt, dass sie mit
der Schwangerschaft in ein neues Leben flüchten könnte, zeigt, wie begrenzt die
Optionen sind, die wir wahrnehmen, wenn wir nach Veränderung streben. 

Roches
Beispiele sind real: Den Satz „Dann bekomme ich halt ein Baby“ hört man immer
wieder von Frauen, die unzufrieden in ihrem Beruf sind. Auch Affären oder
wechselnde Partnerschaften entstehen oft aus der Langeweile heraus – nicht
weil Menschen untreu oder böse sind – nur vielleicht zu faul und zu sehr im
Trott der Mittelmäßigkeit, um auf andere Art und Weise auf neue Gedanken zu
kommen oder sich gut zu fühlen.

Charlotte Roches Buch
ist daher – geschlechterunabhängig – eine Aufforderung dazu sorgfältig zu
schauen, was man selbst vom Leben will, sich davon abzugrenzen, was andere
erwarten
 und den vielleicht unbequemen
Weg der eigenen Wünsche zu gehen, auch wenn das heißt, aus dem geschmackvollen
Eigenheim auszuziehen und keine Kinder zu bekommen. Wer einen klugen Roman zum
Müttermythos, was er mit Frauen macht und über Wege aus dem Dilemma lesen will,
dem sei hingegen Verena Hasels Debüt „Lasse“ empfohlen, das schon im Frühjahr
erschienen ist.

Charlotte Roches dritter Roman Mädchen für alles ist gerade bei Piper erschienen. Dieser Text ist zuerst erschienen in der Buchmesse-Ausgabe von der Freitag.


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