In der aktuellen Flüchtlingsdebatte werden immer wieder gerne die armen Frauen angeführt, die nun bald besonders zu leiden hätten. Die kruden Argumente kommen genau von jenen, die sich zuvor überhaupt nicht für Frauenrechte interessiert haben.
Zwischen Sorge und Totalausfall
Letztens in einer Berlin Kneipe. Wir saßen an einem großen
Tisch, an dem noch jede Menge Stühle frei waren, und vier Männer um die 40
fragten höflich, ob da denn noch Platz sei. Na klar. Und kaum saßen sie und
hatten sich jeweils ein großes Bier vor die Nase gestellt, ging es auch schon
los. Ein Gespräch zwischen Sorge und Totalausfall. Die Flüchtlinge, das sei ja
kaum noch zu ertragen, die werden hier noch alles übernehmen, wir müssen doch
was tun! Ich schaute meine Freundin an und ihr Blick drückte aus, was auch ich
dachte: Das darf doch nicht wahr sein.
Irgendwann, es war nicht mehr zu ertragen, hakten wir ein
und ich fragte ruhig, ob das denn wirklich ihr Ernst sei. Überraschte Blicke.
Natürlich! Habt ihr etwa keine Angst? Nein, derzeit sehen wir keine Veranlassung zur Angst. Aber wenn die neun
Millionen erst einmal da seien, da würden wir uns schon noch umsehen. Was denn
für neun Millionen fragten wir, woher denn die Zahl käme. Ja, das käme schon
noch so. Also habt ihr jetzt schon Panik wegen eines Zustandes, von dem ihr noch
nicht mal wisst, wann und ob er eintritt. Nicken. Tja, und so ging es weiter.
Angst machte ihnen vor allem der, wie sie es formulierten, „brutale“ Koran und
die Menschen, die strikt danach leben. Als wir das Gegenargument brachten,
dass es ähnlich gruselig sei, wenn jemand strikt nach der Bibel lebt, in der
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ propagiert würde, da suchten sie sich neue Themen,
die uns sicher beeindrucken und etwas von der Furcht einjagen würden, die sie
offensichtlich verspürten.
Frauen, fürchtet euch!
Gerade ihr Frauen solltet euch doch fürchten! Wenn hier erst
einmal die Muslime die Macht übernommen haben, dann werdet ihr doch am meisten
leiden! Selbstbestimmung ist dann passé, Ehrenmorde an der Tagesordnung, und
mit einem Kopftuch wollt ihr doch auch nicht herumlaufen! Boom. Das musste erst
einmal sacken – aber nicht, weil wir nun endlich die „Angsträume für die blonde
Frau“, wie der AfD-Fraktionsvorsitzender für das Land Thüringen, Björn Höcke, sie so
gerne aufführt, begreifen, sondern weil ich es nicht fassen kann, wie sie, die
sich sonst wahrscheinlich eher so gar nicht für Frauenrechte interessieren, genau diese nun als Argument anführen. Zumal in einer Polemik, die kaum zu überbieten ist.
Aber man will ja niemandem etwas Unrechtes
tun und so sage ich zunächst, dass ich es für gepflegten Humbug halte, dass
hier Muslime „die Macht“ übernehmen, um dann zu fragen, wie sehr sie sich denn
zuvor für die Rechte von Frauen interessiert hätten. Schweigen. Wenigstens sind
sie ehrlich. Na, frage ich? Arbeitende Frauen, Selbstbestimmung, gleiche
Bezahlung oder die Abschaffung des Ehegattensplittings? Ja, das sei ihm bei der eigenen Frau jetzt nicht so wichtig, gibt
einer zu. Args.
Scheinheilige Argumente sind genauso schlimm wie falsche Fakten
Bitte, ich kann es nicht mehr hören! Liebe Mitmenschen,
sagt, was euch Angst macht, sagt, wo der Schuh drückt, aber hört auf, so
scheinheilige Argumente wie die Rechte und Sorgen der Frauen anzuführen, die
euch zuvor einen feuchten Kehrricht interessiert haben. Auch immer wieder gerne
angeführt ist das Argument der Obdachlosen, die nun in die Röhre schauen, weil
alle nur noch für Flüchtlinge spenden. Natürlich wird gerade für sie, die ganz
wenig haben, die Luft dünner – keine Frage. Aber wie sehr hat euch dieses Thema
zuvor interessiert? Wie leidenschaftlich habt ihr zuvor für sie gesprochen? Nun
sind es wenigstens noch Deutsche, deswegen holt ihr sie raus. Holt die Keulen
raus, gegen die niemand etwas sagen kann. Und blendet aus, dass ihr euch damit
unglaubwürdig macht.
Warum ihr das einen guten Plan findet, fragt sich etwa auch @Katjaberlin auf Twitter.
Wann hat etwa die AfD, die sich ja als Sprachrohr der
„besorgten Bürger“ versteht, denn bitte jemals etwas anderes gemacht, als die
Frau auszuklammern oder eine Familienpolitik zu vertreten, die vor allem dazu
beiträgt die Frauen als Gebärende zu fördern? Dass die Geburtenrate wieder steigt, haben wir auch so geschafft – ohne uns ins letzte Jahrhundert zurückzukatapultieren.
Schönen Dank auch. Wann habt ihr euch zuvor für die Emanzipation von Mann und
Frau oder für die Rechte von Homosexuellen eingesetzt? Engagiert euch für
Obdachlose, kämpft für die Rechte der Frauen – aber lasst die
leeren Stammtischparolen und halbherzig vorgetragenen Argumente, die ihr nur
aus Zweckmäßigkeit vor euch hertragt und nicht aus Überzeugung – und von denen mir die
Ohren anfangen zu bluten.
Übrigens waren die Männer allesamt Anwälte. Sie dürften also
wissen, wo sie sich Fakten und Informationen holen könnten, um die Problematik
von mehr als einer Seite zu beleuchten. Die Wahrheit aber ist, das wollen sie
gar nicht. Und das ist die Krux.
Man kann besorgt sein – und trotzdem humanitär handeln!
Ich könnte jetzt sagen, diese Auseinandersetzungen machen
keinen Sinn, weil ich einen halben Abend daran verschwendet habe, gegen eine
Wand zu reden. Aber das will ich nicht, ich will diesen Posten noch nicht als
verloren abstempeln. Weil ich daran glaube, dass man besorgt sein kann, und
trotzdem versuchen sollte, die Situation zu begreifen und anzupacken, statt nur
dagegenzugehen; dass man besorgt um das eigene Wohl sein kann, und trotzdem
Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, humanitär begegnen kann. Ich glaube daran,
dass wir nur dann weiterkommen, wenn wir versuchen, wieder eine gemeinsame
Realität im Land zu schaffen. Und das können wir nur, wenn wir weiter versuchen, miteinander zu sprechen und das „ihr und wir“ dadurch mindern. Denn am Ende
leben wir alle hier und wir müssen wieder an einen Punkt kommen, an dem wir
nicht blind gegeneinander angehen.
Und wenn wir gerade dabei sind: Ich habe schon Sorgen, und zwar
wegen der Politik, die durch ihre Versäumnisse sowie Fehlentscheidungen der Vergangenheit zu den
Problemen von heute geführt hat. Und mir machen die Mängel in den Systemen Sorge, die eine gelungene Verteilung der Geflüchteten auf alle Bundesländer und innerhalb Europas derzeit
nahezu unmöglich machen, nicht zuletzt wegen des nahenden Winters.
Und wenn wir weitergehen, dann habe ich auch Angst.
Angst vor solchen Menschen wie in dieser Kneipe. Die lediglich bereit dazu
sind, ihre eigene Furcht, die ihrer Nachbarn und Freunde zu schüren. Nicht
aber, ihre Augen und Herzen aufzumachen und dazu beizutragen, dass wir diese
Situation meistern.
Mehr bei EDITION F
Alle wissen es, alle gucken weg: Rechte Gewalt ist in Sachsen Alltag. Weiterlesen
So könnt ihr Flüchtlingen helfen. Weiterlesen
Madeleine Alizadeh: „Man kann die Ablehnung gegen Flüchtlinge fühlen“ Weiterlesen