Kann man wirklich einer ganzen Generation die Beziehungsfähigkeit absprechen? Und was sagt das dann über uns als Individuen aus? Communityautorin Janina Bühler hat sich der Diagnose mal von wissenschaftlicher Seite genähert und erklärt, was dahintersteckt.
Generation der Beziehungsunfähigen: Alles nur eine selbsterfüllende Prophezeiung?
Die Diagnose soll für eine gesamte Generation gültig sein, und sie traf auf
unerwartete Zustimmung: Wir – die Menschen, die sich real oder gefühlt zwischen 20 und 40 bewegen – sollen beziehungsunfähig sein. Das Symptom beinhaltet, dass wir uns nicht binden können. Die Nebenwirkung ist, dass wir partnerlos durchs Leben gehen. Die Ursache wird in einer freiheitsgeprägten Gesellschaft vermutet, die Unmengen an Optionen bereithält und damit Entscheidungsschwierigkeiten schürt. Gewiss steckt in dieser Symptombeschreibung ein wahrer Kern, anders wäre nicht zu erklären, dass sich davon so viele Menschen angesprochen fühlen. Hat das nicht beinahe jeder schon einmal über sich gedacht oder sogar gesagt: „Vielleicht bin ich beziehungsunfähig“?
Es stimmt, dass wir mehr Freiheit in der Partnerwahl haben als je zuvor, und es
stimmt, dass diese Freiheit uns auch überfordern kann. The „Paradox of choice“,
wie der amerikanische Psychologe Barry Schwartz es bereits vor Jahren mit
seinem erfolgsgekrönten Buch betitelte, ist zu einem Lebensthema geworden.
Neben diesem wahren Kern, welcher der „Generation beziehungsunfähig“ anhaftet, lässt sich die Verallgemeinerung und Absolutheit dieser Diagnose aber auch differenzierter betrachten, denn: Sind wir als Generation eine gleichfarbige Masse, die gesamthaft beziehungsunfähig ist? Wo bleiben die hart erkämpften Unterschiede? Das Recht, individuell zu sein? Wird es gar zur Norm einer ganzen Generation, sich nicht mehr binden zu können? Was passiert mit jenen, die sich gebunden und glücklich in einer Beziehung wiederfinden? Glücklich – wären da nicht die Stimmen aus dem Off, die einem flüsternd einreden, dass beziehungsunfähig nun das neue in ist und Beziehungen out sind. Wird die Beziehungsunfähigkeit gar zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung?
Was sagt die psychologische Forschung eigentlich zum Thema?
Bei der Betrachtung von Beziehungsfähigkeiten werden in der psychologischen
Forschung gerne Bindungstheorien zu Rate gezogen, wie jene von John Bowlby. Diese Theorie besagt, dass wir basierend auf unseren Erfahrungen mit engen
Bezugspersonen mentale Repräsentationen über uns und andere Personen ausbilden. Diese drücken aus, wie wir mit Nähe – insbesondere in Momenten von Stress und Bedrohungen – umgehen, welche Strategien wir im Laufe der Jahre entwickelt haben und wie diese beispielsweise in Partnerschaften zum Ausdruck kommen. Wenden wir uns ängstlich klammernd an unseren Partner, wenn wir Unangenehmes erleben, oder unterdrücken wir unser Schutzbedürfnis und meiden den Partner?
Gemäß Bindungstheoretikern gibt es dabei sicher gebundene und unsicher gebundene Personen. Sicher gebundene Personen stellen die Mehrheit dar. Ihr Bindungsstil ermöglicht es ihnen, emotionale Nähe und Unterstützung zu suchen und auszudrücken. Daneben gibt es aber auch unsicher gebundene Personen. Zu ihnen zählen ängstlich gebundene sowie vermeidend gebundene Personen. Ängstlich-gebundene Personen sind darum besorgt, zu wenig Nähe von ihrem Partner zu bekommen und fürchten, verlassen zu werden. Gegenüber Zeichen möglicher Zurückweisung sind sie aufmerksam, fast schon überwachsam.
Dem gegenüber haben vermeidend gebundene Personen gelernt, sich auf keine anderen Personen emotional verlassen zu können und haben daher die Strategie der Unabhängigkeit gewählt. Sie meiden es, ihre Gefühle mitzuteilen oder dem
Gegenüber gewünschte Unterstützung zu teil werden zu lassen. Diese emotionale Unabhängigkeit darf allerdings nicht mit einem Streben nach Autonomie verwechselt werden, welches gemäß der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan neben Verbundenheit und Kompetenz eines von drei elementaren Bedürfnissen für ein erfülltes Leben ist.
Warum wir nicht von einer Beziehung auf die nächste schließen können
Nun ist gut vorstellbar, dass Beziehungen sich unterschiedlich gestalten, je nach
dem welche Bindungskombinationen sich zusammenfinden. Stellen wir uns
beispielsweise einen unsicher-ängstlich gebundenen Mann vor, nennen wir ihn
Max. Max wünscht sich ein hohes Maß an Nähe und fühlt sich schnell
zurückgewiesen, wenn er diese nicht erhält. Er klammert sich fordernd an seine
Partnerin. Ist diese Partnerin, nennen wir sie Nina, nun unsicher-vermeidend
gebunden, steht beiden eine mitunter nicht ganz einfache Beziehung bevor. Denn Nina nährt mit ihrer Vermeidungshaltung das Bedürfnis nach Autonomie bei Max, was für ihn bei seiner Suche nach Nähe nicht relevant, ja gar diametral ist, und auf Kosten der gewünschten Verbundenheit geht.
Max seinerseits fördert zwar mit seiner Ängstlichkeit das Bedürfnis nach
Verbundenheit bei Nina, unterminiert aber ihren Drang nach Autonomie und
Unabhängigkeit. Beide fördern mit ihren bindungsbasierten Einstellungen und
Verhaltensweisen somit Bedürfnisse, die für das Gegenüber nicht relevant,
eventuell gar bedrohlich sind. Wie wird es bei Max und Nina weitergehen? Sie
wird vermutlich umso stärker auf ihre Unabhängigkeit pochen, je mehr er
versucht, Nähe aufzubauen.
Beziehungsunfähigkeit vs. unterschiedliche Bedürfnisse
Sind Max und Nina nun beziehungsunfähig? Nein, sie haben lediglich unterschiedliche Bedürfnisse nach Nähe. Dem Phänomen der Beziehungsunfähigkeit würde wohl Ninas Drang nach emotionaler Unabhängigkeit am ehesten entsprechen. Aber dies ist kein Phänomen ihrer Zeit, auf dessen Welle sie mitgleitet. Es ist vielmehr ein Persönlichkeitszug, der auf ihren Erfahrungen basiert und der sich über die Zeit verfestigt hat. Denkbar wäre auch, dass sich Nina mit ihrem vorherigen Partner anders gefühlt hat. Vielleicht war sie dort diejenige, die mehr wollte als er. Aus einer enttäuschten Zurückweisung entwickelte sie womöglich ein Versprechen an ihr inneres starkes Selbst, sich nie mehr gänzlich in die Arme eines Mannes zu geben.
Ist die Generation beziehungsunfähig folglich eine Generation der verletzten
Seelen? Vielleicht. Aber nicht mehr oder weniger als dies bei anderen
Generationen auch der Fall war. Der Unterschied war vielleicht, dass
Generationen vor uns nicht die Freiheit hatten, mehrere Beziehungen zu leben,
sich auszuprobieren, sich selbst zu verwirklichen. Damit sammelten sich bei
ihnen eventuell weniger – oder andere – Wunden an. Vielleicht durften vorherige Generationen aber auch nicht nach ihren Gefühlen handeln, wie es Nina nun tun würde, wenn ihr die Beziehung zu Max zu eng werden würde, oder wie es Max tun könnte, wenn seine Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden.
Warum wir unser Verständnis von Beziehungen weiterentwickeln müssen
Das Etikett „beziehungsunfähig“ bringt jedoch eine Zweiteilung zwischen
beziehungsunfähiger Unabhängigkeit auf der einen Seite, und beziehungsfähiger, aber einengender, Geborgenheit auf der anderen Seite mit sich – wodurch eine unüberwindbare Brücke zwischen den Bedürfnissen nach Autonomie und Verbundenheit entsteht. Schaffen wir es als Gesellschaft jedoch ein Verständnis von Beziehungen zu etablieren, in dem beides möglich ist – Geborgenheit und das Streben nach autonomen Entscheidungen – werden wir uns entwickeln können.
Soweit sind wir aktuell aber noch nicht. Wir fassen eine ganze Generation, die aus Individuen mit unterschiedlichen Eigenschaften, Bedürfnissen und Erfahrungen besteht, unter einem Label zusammen. Damit beschreiben wir unsere Generation als Sammelbecken verletzter Seelen, die unter den Schirm der Beziehungsunfähigkeit flüchten muss. Die Prophezeiung, niemals glückliche Liebe zu finden, wird sich umso mehr erfüllen, je mehr wir an die Beziehungsunfähigkeit glauben. Was würde wohl passieren, wenn wir unserer eigenen Beziehungsfähigkeit und jener unserer Mitmenschen wieder Vertrauen schenkten?
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