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Mina Teichert: „Ich habe mich von dem Wunsch verabschiedet, ganz ‚normal’ zu funktionieren“

Wie ist das Leben mit ADS? Davon bekommt man durch Mina Teicherts autobiographisch angelegten Roman „Neben der Spur, aber auf dem Weg“ eine Ahnung. Wir haben mit ihr über das Buch und über ihr eigenes Leben gesprochen.

 

 „Wenn ich einen Fehler machte, hat das Panik in mir ausgelöst“

Das Leben mit einer Reizfilterschwäche fühlt sich so an, als würde man am Morgen des Heiligabends in die Stadt rennen, um noch Geschenke zu kaufen, sagt Autorin Mina Teichert. Und das jeden Tag. Das klingt herausfordernd und enorm ermüdend? Das ist es auch – vor allem, wenn man erstmal gar nicht weiß, dass man es mit ADS zu tun hat. Mina hat die Diagnose erst als erwachsene Frau mit Mitte 20  bekommen – und der Weg dahin war mit Fehldiagnosen, Selbstzweifeln und Begleiterkrankungen gesäumt. Über diese Erfahrungen hat sie den kürzlich veröffentlichten, autobiographisch angelegten Roman „Neben der Spur, aber auf dem Weg“ geschrieben. Wir haben mit ihr über das Buch, aber vor allem auch darüber gesprochen, vor welche Herausforderungen sie täglich durch ihre ADS gestellt wird.

Mina, in deinem Vorwort schreibst du an die Leser „Hals und Beinbruch beim Lesen“, ist das auch ein Gefühl, mit dem du in den (All-)Tag gehst? Also: Hauptsache es funktioniert irgendwie?

„Ich muss zugeben, dass ich tatsächlich jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, ein Stoßgebet gen Himmel schicke und mir wünsche, dass es ein guter Tag wird. Allerdings wirft es mich auch nicht mehr um, wenn sich das Gegenteil ankündigt. Ich habe gelernt umzudisponieren, wenn meine Kraft akut nicht ausreicht oder mich etwas zu sehr stresst. Bei Unfällen kleinerer und größerer Art ist es sowieso das Beste, einfach mal inne zu halten und auf Null zu stellen. Von dem Wunsch, ganz ‚normal’ zu funktionieren, habe ich mich übrigens schon lange verabschiedet. Denn Normalität betrifft mich meist nicht. Bei uns ist alles ein wenig anders und unorganisierter. Aber das macht nichts.“

Du hast ADS. Das heißt, dir fehlt die Hyperaktivität, aber du hast eine Aufmerksamkeitsstörung durch eine Reizfilterschwäche. Wie kann man sich das vorstellen? Wie fühlt es sich etwa an, wenn du durch die Innenstadt läufst, dein Kind etwas von dir will und eventuell noch jemand anruft? Kannst du beschreiben, was da in dir los ist?

„Gute Frage, wie erkläre ich das am besten? Es fühlt sich ein bisschen an wie Anarchie im Kopf. Nichts folgt einem Plan oder einer Ordnung. Die Geräusche, Gerüche, Farben und Formen drängen sich auf, obwohl ich vieles ausblenden müsste. Dazu kommen Gedanken und Empfindungen, die mit den Reizen einhergehen. Da kann man sich schwer auf ein Gespräch konzentrieren und auch ganz schön nervös werden. Vielleicht kann man es besser nachvollziehen, wenn man sich vorstellt, man würde in einer Vorlesung direkt an einem offenen Fenster sitzen. Eine Baustelle schickt Lärm in den Raum, direkt neben einem singt außerdem ein Chor Macarena und man will trotzdem verstehen, was der Prof ganz vorne sagt. Und um es interessanter zu gestalten, stelle man sich das gehetzte Gefühl vor, dass man hat, wenn man Weihnachten auf den letzten Drücker in die Stadt rennt, um Geschenke zu besorgen.“

Du steigst in deinem Buch mit der Szene ein, nach der dir ADS diagnostiziert wird. Und die ist recht drastisch, da du vor Überforderung an einer Supermarkt-Kasse in die Hose pinkelst. Die Szene ist wahr, oder?

„Ja, die Szene ist leider wahr. Und sie hat sich auch sehr bei mir eingebrannt. Es hatte sich sehr viel aufgestaut zu dieser Zeit. Das Gefühl immer wieder zu straucheln, nie den Erwartungen anderer zu genügen oder nie zufriedenstellend zu funktionieren, war übermächtig geworden. Und ich ganz klein. Also fühlte ich mich ständig unter argwöhnischer Beobachtung. Wenn ich dann einen Fehler machte, so klein er auch war, hat das Panik in mir ausgelöst. Dabei kommt es zu Schweißausbrüchen, Herzrasen und manchmal auch Kotrollverlust über die Blase. Ganz peinlich. Noch heute fühle ich mich unwohl beim Einkaufen.“

Bevor es zur Diagnose ADS kam, wurde dir eine Borderline-Störung diagnostiziert. Wie kam es dazu? Sind sich diese beiden Erkrankungen so ähnlich?

„Ja, das stimmt. Man hat ähnliche Stimmungsschwankungen, auf ein emotionales Tief folgt ein extremes Hoch und wieder zurück – und man leidet unter einem selbstverzehrendem Verhalten. Da ich durch mein Scheitern an der Umwelt auch typische Begleiterkrankungen wie Magersucht, Selbstverletzungsverhalten und Depressionen entwickelte, passte das Gesamtbild sehr gut zu der Borderline-Störung.“

War deine Diagnose eine Erleichterung, oder ein Schock für dich?

„Im Grunde war es für mich eine lebensrettende Situation. Denn ich dachte lange, dass ich tiefbegabt, also ziemlich dumm bin. Ich habe ja nun mal ein Gedächtnis wie ein Goldfisch und mein Hirn braucht etwas länger um neue Dinge zu erlernen, weil es permanent rausschmeißt, was es neben den ganzen Reizen für unwichtig hält. Und wenn das dann Mathe ist, dann ist jede neue Formel halt sofort wieder weg. Für meine Eltern war die Diagnose schon eher ein Schock, weil sie sich viele Vorwürfe machten. Immerhin hat mein Bruder ADHS. Bei ihm wurde das Hyperaktivitätssyndrom, wie es damals hieß, erkannt. Es war lange nicht klar, dass das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne die Hyperaktivität existiert. Mir ging es endlich besser, weil ich durch eine Verhaltenstherapie lernen konnte mich zu verstehen und mich zu organisieren. Und wenn man sich von Menschen mit Nebenwirkungen freimacht, kann das auch Wunder wirken.“

Das war sicherlich in der Schule schwer, wenn man nicht so schnell mitkommen kann, wie die Mitschülerinnen und Mitschüler.

„Ja, ich habe mich dumm und wertlos gefühlt. Oft war ich auch zu beschäftigt mit den Umweltreizen oder meinen eigenen Gedanken, um Scherze meiner Mitschüler richtig zu verstehen. Und wer als letzte lacht, hat‘s halt nicht eher verstanden.“

Was hättest du dir von Lehrern in der Situation gewünscht?

„Etwas mehr Geduld wäre hübsch gewesen. Vor allem in der Mittelstufe.“

Was denkst du darüber, dass der Begriff AD(H)S heute recht schnell fällt, wenn ein Kind „nicht funktioniert“? Ist das eine gute Entwicklung, weil man eventuell früher eine Diagnose bekommt oder siehst du das eher kritisch?

„Weder noch. Ich bin klar dagegen, dass zu schnell eine Schublade aufgezogen wird, nur damit es Lehrer und Eltern leichter haben. Und mit Ritalin und Medikinet sollte vorsichtig umgegangen werden. Es gibt nette Nebenwirkungen. Was denkt ihr, warum junge Menschen, die seit Kindertagen die Medikamente einnehmen, sie mit der Volljährigkeit plötzlich selbstbestimmt absetzen? Außerdem rate ich davon ab sich bei Verdacht auf ADS und ADHS nur vom Kinderarzt unterstützen zu lassen. Man sollte besser einen Fachmann zu Rate ziehen.“

Du hast eben von deinen Begleiterkrankungen, wie der Esstörung erzählt. Hast du das heute im Griff oder bleibt das Teil von dir?

„Ich hatte das Pech, dass sich eine ganze Reihe von typischen Nebenerkrankungen manifestiert haben. Die Bulimie habe ich schon lange im Griff und habe ein gutes Durchschnittsgewicht, doch Magenkrankheiten sind geblieben. Angststörungen sind auch heute noch mein ständiger Begleiter, wenn auch lange nicht mehr so schlimm wie sie mal waren. Außerdem habe ich durch meine ständigen Spannungszustände heftige Schmerzattacken, die mich stark beeinträchtigen können.“

Im Buch wird auch die Auswirkung von ADS auf (Liebes-)Beziehungen thematisiert. Was ist dabei die Hauptschwierigkeit? Schließlich ist die Sache mit der Liebe ja auch schon ohne Reizfilterschwäche schwer genug.

„Hahaha! Ja, das stimmt. Die Liebe ist ein Mienenfeld. Und mir persönlich fiel es immer sehr schwer, rechtzeitig zu erkennen, wann ich dabei war mich lachend in eine Kreissäge fallenzulassen. Meine Hauptschwierigkeit war meist die Naivität, mit der ich auf Männer zugegangen bin. Später, nach diversen ‚Nahidioterfahrungen’ wurde es dann das Gegenteil. Ich war voller Misstrauen und litt unter einer Art Kontrollzwang, was das Leben meiner Freunde anging. Außerdem neigen ADSler meiner Erfahrung nach im Allgemeinen dazu, neue, aufregenden Dinge, in dem Fall intensive Gefühle, zu obsessiveren. Und welcher Mann ist schon Mann genug, um mit dieser geballten Aufmerksamkeit einer Frau umzugehen? Oder mit ihrer Impulsivität?“

Und zu guter Letzt: Ein Leben mit ADS raubt enorm viel Kraft. Welche Rolle spielt Müdigkeit in deinem Leben?

„Oft bin ich schon ab Mittag geistig ziemlich müde. Zum späten Nachmittag gibt es dann Probleme mit diesem toten Tier namens Motivation. Ich könnte den ganzen Tag schlafen, wenn man mich lassen würde. Vermutlich auch, weil ich seit meiner Kindheit Schlafstörungen und Albträume habe. Manchmal höre ich meinen Wecker morgens gar nicht. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft meine Tochter dank mir zu spät zur Schule gegangen ist.“

Mina Teichert: „Neben der Spur, aber auf dem Weg: Warum ADS und ADHS nicht das Ende der Welt sind“, Eden Books, 6. April, 288 Seiten, 15, 40 Euro.

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