Foto: Jourvie

„Es ist schwierig eine Essstörung loszulassen, aber nicht unmöglich“

Das Wissen über Essstörungen ist viel zu gering, sagt Ekaterina Karabasheva, die mit Jourvie eine App entwickelt hat, die beim gesund werden helfen soll. Sie will auch die Aufklärung verbessern.

 

App als Therapiebegleitung

Schätzungen zufolge leben bis zu 2,3 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Essstörung, die sie im Alltag beeinträchtigt. Mit den Krankheitsbildern können langfristige körperliche Schäden einhergehen, an Magersucht stirbt etwa jede zehnte erkrankte Person. Dennoch beginnen weniger als zehn Prozent der Patientinnen – etwa 90 Prozent sind weiblich – eine Therapie. Ekaterina Karabasheva hat Jourvie entwickelt, eine App, die helfen soll, eine Therapie durchzuhalten und zu erleichtern. Bislang ist die App im Google Play Store erhältlich, im Sommer kommt die iOS-Version. Wir haben mit ihr über die Erkrankung, Behandlungsangebote und gesellschaftliche Rahmenbedingungen gesprochen.

Essstörungen sind eine sehr komplexe Erkrankung. Wie kann Jourvie da helfen?

„Die App soll therapiebegleitend unterstützen. Uns ist sehr wichtig, dass man es nicht wahrnimmt, als ob wir die Therapie ersetzen wollten, denn das kann eine App nicht. Sie beinhaltet an erster Stelle Essprotokolle. Die muss man sowieso in den meisten Therapieformen auf Papier ausfüllen. Dort schreibt man auf: Was habe ich gegessen? Wie habe ich mich dabei gefühlt? Gab es ein Ereignis davor? Was habe ich nach dem Essen getan?“

Was ist der Vorteil an digitalen Protokollen?

„Sie sind vor allem diskret. Das schätzen viele und schreiben uns das in Feedback-Mails. Man kann sie ausfüllen, als würde man eine SMS schreiben und niemand bekommt es mit. Diese Protokolle kann man archivieren und mit dem Therapeuten teilen. Wir arbeiten daran, die Daten auch statistisch auswerten zu können, damit man direkt Einblick in Verhaltensmuster hat – das ist ja die Idee hinter den Essprotokollen. So kann festgestellt werden, ob der Patient mit bestimmten Leuten nicht essen kann, weil da Konflikte in der Luft liegen, oder dass ein einsames Wochenende einen mitnimmt und man deshalb eine Essattacke hat. Die Auswertung macht man in der Therapie dann gemeinsam mit dem Therapeuten. Die Therapeuten fänden es super, wenn die App diese Möglichkeit bietet, weil es ihnen helfen könnte Muster zu verstehen.“

Was sind die weiteren Eigenschaften der App?

„Das andere Element von Jourvie soll unterstützen und motivieren. Es sind Bewältigungsstrategien, die aus der Cognitive-Behavorial-Therapy stammen. Sie sollen dabei helfen, mit schwierigen Gefühlen anders umzugehen als diese über das Essen oder Nicht-essen zu kompensieren. In der App sind ein paar Strategien enthalten, man kann außerdem eigene hinzufügen. Das können ganz einfache Tipps sein, wie eine Freundin anzurufen oder mit dem Hund spazieren zu gehen. Wir beschäftigen uns gerade vor allem damit, diese emotionale Komponente der App auszubauen. Denn viele wachen auf und denken: ,Gestern war ich krank. Heute bin ich krank. Morgen bin ich krank. Komme ich überhaupt voran?’ Wir denken auch nach über eine direkte Verknüpfung mit telefonischer oder Online-Beratung, wo man sich in einem schwachen Moment melden kann.“

Viele Menschen mit Essstörungen sind noch gar nicht an dem Punkt, an dem sie einen Therapieplatz haben oder zur Einsicht gekommen sind, dass sie Hilfe möchten. Ist die App auch für sie?

„Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, an welchem Punkt wir Personen ansprechen können. Bevor dieser Turning-Point kommt, an dem eine Person sich helfen lassen will, können wir sie mit der App nicht erreichen. Wir können gerade im primären Präventionsbereich daher nichts machen und auch nicht dabei, dass jemand vor sich selbst zugibt, krank zu sein. Es ist sehr schwierig, eine Essstörung loszulassen. Man wird sehr oft wieder hingezogen. Ab dem Zeitpunkt, ab dem jemand gesund werden will, können wir unterstützen.“

Wie erreicht ihr die Zielgruppen eures Angebots?

„Wir kommunizieren die App gerade über drei Wege. Einmal mit direkter Ansprache der Nutzer im Internet. Wir haben bei der Entwicklung schon in Foren und Facebook-Gruppen mit Menschen gesprochen, wie sie die Idee finden und haben uns Anregungen geben lassen. Der zweite Weg sind Therapeuten, die uns kontaktieren. Eine kleine Klinik in der Schweiz macht gerade ein Pilotprojekt mit Patientinnen. Der dritte Weg sind wissenschaftliche Kongresse, in Österreich und Großbrittannien waren wir auch schon. Es ist aber vor allem ein Bottom-Up-Ansatz. Viele der Therapeuten melden sich bei uns, weil sie die App über Patientinnen kennengelernt haben.“

Was war für dich der Punkt, an dem du gesagt hast, du setzt die Idee zur App um?

„Ich hab die Idee ein paar Jahre mit mir herum getragen, beziehungsweise habe ich während meiner eigenen Therapie schon nach Lösungen gesucht. Ich habe damals ungesendete SMS gespeichert und Zuhause dann Dinge aufgeschrieben und Excel-Tabellen gepflegt. Was mir dann geholfen hat war, dass ich meine Masterarbeit darüber geschrieben habe. Ich habe Kommunikation studiert und mein Prof war so offen, dass ich meine Abschlussarbeit über digitale Kommunikation im Kontext von Essstörungen schreiben durfte. Dass ich diese intensive Zeit mit dem Thema hatte, hat eine große Rolle gespielt. Direkt im Anschluss habe ich dann ein Stipendium von Ashoka bekommen, die Sozialunternehmen in Deutschland unterstützen. So hatte ich Zeit ein Jahr Vollzeit am Projekt zu arbeiten. In dem Jahr konnte ich dann entscheiden, ob ich tatsächlich gründe, und ob es eine App werden soll oder doch etwas anderes.“

Das Team von Jourvie hatte ein Stipendium vom Social Impact Lab. (Bildquelle: Jourvie)

Hattet ihr wissenschaftliche Beratung bei der Entwicklung?

„Ja, wir arbeiten seit zwei Jahren mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité zusammen. Uns ist es bewusst, dass keiner aus dem Team Psychologie studiert hat. Wir wollen sicher sein, dass das was wir machen, hilft, daher sprechen wir mit der Klinik unsere neuen Funktionen ab, damit sie nicht am Ende kontraproduktiv sind. Wir machen zusammen mit ihnen auch die erste Evaluation. Es ist gut, einen Partner zu haben, der das ganze Feld versteht.“

Du sagst ganz offen, dass die Idee auf deine persönliche Geschichte zurückgeht.

„Es hat bei mir sehr lange gedauert, bis ich mich entschieden habe, ob ich das sage oder nicht. Meine Essstörung liegt mehrere Jahre zurück, aber ich habe immer den Wunsch gehabt, etwas zurückzugeben. Als ich angefangen habe die Masterarbeit zu schreiben, kamen schon die ersten Fragen, warum ich darüber schreibe. Ich wollte dann keine Geschichte erfinden, zum Beispiel, dass eine Freundin krank ist. Das wäre nicht authentisch gewesen. Aber es hat mich schon beschäftigt, was dann passiert. Schauen mir dann alle auf den Teller? Wollen alle alte Fotos sehen? Sprechen sie es gar nicht an? Als ein paar Monate vorbei waren, nachdem ich es gesagt hatte, hab ich gesehen, dass andere viel offener wurden. Freundinnen von mir, die ich seit Jahren kenne, haben mir von ihrer eigenen Essstörung erzählt. Oder auch Leute, die mich nicht kennen, kamen auf mich zu. Und so kam auch viel Feedback von Leuten, die beitragen wollen und zum Beispiel bei uns im Blog schreiben möchten oder sich irgendwie anders engagieren möchten.“

Hat dich die Menge der Rückmeldungen überrascht?

„Es waren viel mehr, als ich gedacht habe. Weil ich selbst betroffen war, kann ich oft bei Leuten Muster sehen, die auf gestörtes Essverhalten hindeuten. Sie haben ständig eine Ausrede, warum sie gerade nicht essen, sie stochern auf ihrem Teller herum. Aber es gab Leute, die mir nah waren, von denen ich es nie gewusst habe – und die erzählten es dann. Von daher hatte mein Schritt auch positive Seiten, denn mit der Essstörung offen umzugehen, ist ein erster Schritt. Ich stelle mir im professionellen Kontext, also wenn ich mit möglichen Partnern spreche, aber immer noch die Frage, ob ich die Geschichte zur Idee so erzählen soll. Nehmen sie das Projekt dann genauso professionell wahr? Aber was die gesellschaftliche Bedeutung betrifft, bin ich überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war.“

Wie viele Menschen sind in Deutschland an einer Essstörung erkrankt?

„Die Zahlen werden auf etwa 2,3 Millionen geschätzt. Das ist natürlich schwierig zu erheben. Nach der repräsentativen Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) leiden 1,5 Prozent der Frauen und 0,5 Prozent der Männer unter einer drei Hauptformen von Essstörungen. Am traurigsten ist die Zahl der Leute, die sich tatsächlich in Therapie begeben. In den Niederlanden sind es sechs Prozent von allen Erkrankten. Die Zahlen sind auf Deutschland und andere Nachbarländer sicherlich übertragbar. Das ist natürlich ganz ganz wenig.“

Das Klischee ist, dass es vor allem junge Mädchen aus gut behüteten Elternhäusern betrifft. Stimmt das?

„Zu 90 Prozent sind es Frauen, die erkranken. Eine Studie vom Robert-Koch-Institut sagt sogar, dass jedes 5. Kind zwischen 11 und 17 Anzeichen einer Essstörung zeigt. Ich habe erwartet, dass unsere Nutzerinnen und Nutzer vor allem Mädchen zwischen 12 und 25 sein würden. Das sind sie nicht. Wir haben sehr viele Frauen im Alter zwischen 40 und 55, die die App benutzen und uns Feedback geben. Das hat uns überrascht. Männliche Nutzer haben wir natürlich auch.“

Wie viel Feedback bekommt ihr? Lässt sich das in eurem kleinen Team gut managen?

„Das Feedback ist so wichtig für unsere Arbeit. Wir im Team machen ja alle noch einen anderen Job, und manche Tage sind hart und wirklich voll mit Arbeit. Aber dann kommt man nach Hause und hat schönes Feedback im Google Play Store oder per Mail. Und das gibt mir Kraft und ist einfach schön. Unsere Nutzer schlagen sehr viele Funktionen vor, die sie sich wünschen.“

Ist das Therapieangebot in Deutschland ausreichend?

„Essstörungen sind eine sehr komplexe psychische Erkrankung. Der erste Schritt etwas zu tun ist schwierig. Wenn man sich einen Therapieplatz sucht, muss man sehr oft mehrere Monate warten. Da muss man es erst einmal schaffen, motiviert zu bleiben und diese Zeit durchzuhalten. In ländlichen Gebieten wartet man drei bis sechs Monate mindestens. In großen Städten ist es ein wenig leichter. Als Problem sehe ich aber auch das Stigma der Krankheit. Die meisten Menschen mit Essstörungen führen ja neben ihrer Krankheit ein sehr normales Leben und fühlen sich nicht an erster Stelle krank und wollen auch nicht so behandelt werden.“

War das Teil der Idee, dass du gesagt hast: Online ist wichtig, weil Anonymität wichtig ist?

„Ja. Es gibt Leute, die sich offener austauschen und auch in Facebook-Gruppen mit ihrem echten Namen sind. Für viele ist die Anonymität aber sehr wichtig. Viele, die nach Hilfe suchen, nutzen erstmal die Suchfunktion im Internet. Es gibt auch Online-Sprechstunden und E-Mail-Beratungen, das ist sehr wichtig. Es muss noch viel mehr von diesen Angeboten geben. In dieser Richtung arbeiten wir eng mit dem Beratungszentrum ANAD e.V. aus München.“

Wie sieht es aus mit Pro-Ana oder Pro-Mia-Sites. Ist Sperren der richtige Ansatz?

„Ich habe solche Angebote nie besucht. Was ich aber auch so erlebe, ist, dass in Foren oder Gruppen auch oft Leute unterwegs sind, die versuchen andere mit runterzuziehen. Das ist für viele triggernd und löst eine Menge Diskussionen aber auch negative Emotionen aus. Davor ist es schwierig, sich zu schützen. Da hilft es wenig, Pro-Ana-Sites zu meiden.“

Wie siehst du im Kontext von Essstörungen die Quantified-Self-Bewegung? Ist das ständige Tracken von körperbezogenen Daten auch gefährlich?

„Wenn ich mit Leuten aus der Szene spreche, habe ich das Gefühl, dass sie sich zu sehr von Zahlen leiten lassen. Die sagen dann: ,Ich bin aufgewacht, und habe geschaut, ob ich gut geschlafen habe.‘ Aber das fühlt man doch, ob man gut geschlafen hat! Für bestimmte Kontexte und Ziele ist Quantified-Self gut, aber man sollte sich nicht von Zahlen verrückt machen lassen. In unserer App kann man auch keine Kalorien berechnen. Und in Foren für Essstörungen sind auch keine Zahlen erlaubt, weil sie triggern können. Ein gesundes Essverhalten heißt, dass man nicht eine Mahlzeit sieht, und dazu im Kopf den Nährwertgehalt berechnen kann. Man soll wieder lernen, auf das Hunger- und Sättigungsgefühl zu vertrauen.“

Wie beurteilst du den Stand der Aufklärung über Essstörungen?

„Viel zu wenig. Ich will niemandem zu nahe treten, aber die meisten wissen so gut wie nichts darüber, bevor sie mal zufällig einen Artikel lesen oder Personen im Bekanntenkreis oder der Familie haben, die damit kämpfen. Zu mir hat auch jemand mal gesagt: ,Ich wusste gar nicht, dass es einem emotional so schlecht geht. Ich dachte, man nimmt einfach nur krass ab.‘ Die meisten kennen zwar Magersucht, viele wissen aber schon dann nicht mehr, was Bulimie ist, und was Binge-Eating ist auch nicht. Und daneben gibt es ja noch einiges mehr. Mein Eindruck ist aber, dass vor allem die emotionale Seite wenig bekannt ist. Viele denken: Das sind halt Frauen, die abnehmen wollen und nicht checken, dass sie normal essen sollen.’ Es ist für Außenstehende so schwierig zu verstehen, dass man die Essstörung irgendwie auch behalten will. Ja, sie nimmt sehr viel, aber sie gibt auch viel. Es muss also wirklich noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden.“

Was kann bei der Aufklärung über Essstörungen verbessert werden?

„Es ist wichtig, dass die Aufklärung nicht mit gehobenen Zeigefinger stattfindet. Es hilft nicht zu sagen: ,Mädchen, die Essstörung schadet deiner Gesundheit.’ Die Aufklärung muss menschlicher werden und näher dran sein an der Lebensrealität. Sie muss Verständnis zeigen und anerkennen, wie schwierig es ist. Es würde ja die Heilung schon sehr erleichtern, wenn es akzeptiert wäre, über die Probleme zu sprechen und auch okay wäre, eine Therapie zu machen. Das darf kein Tabuthema sein. Ich habe das zum Thema Depressionen auf Twitter mit dem Hashtag #notjustsad verfolgt. Das war ein kleiner Erfolg. Es muss natürlich weitergehen.“

Wie viel Verantwortung siehst du bei Medien?

„Ich träume von einem Forschungsprojekt, für das man eine Stadt schafft, in der alle Medien Frauen in allen Formen zeigen – und würde ich schauen, wie sich bei Kindern Schönheitsideale entwickeln. Das ist eine unrealistische Idee, aber mich würde interessieren, welche Rolle Medien wirklich spielen. Mittlerweile lese ich selber Plus-Size-Magazine, weil ich sie einfach schön finde und es wäre so toll, wenn es dafür keine extra Magazine geben müsste, sondern das einfach überall stattfinden würde.“

Hast du eine Idee, wie das Tabu über Essstörungen zu sprechen durchbrochen werden kann?

„Ganz wichtig ist zu zeigen: Ich kann gesund werden. Ich bin mehr als meine Essstörung. Es ist schwierig gesund zu werden, aber es ist nicht unmöglich.“

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