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Die neuen Liberalen brauchen Manieren

Viele Verfechter der Freiheit malen schnell den Teufel des Sozialismus an die Wand. Etwas mehr Zurückhaltung täte der Debatte gut.

 

Bedeutungsverlust der Liberalen

Karen Horn ist freie Publizistin und Dozentin für ökonomische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin sowie an der Universität Witten/Herdecke.  Sie ist Vorsitzende der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Hayek für jedermann – Die Kräfte der spontanen Ordnung“ (FAZ Buch, 2013) – für unseren Partner Capital schreibt sie über neu entstehende liberale Denkfabriken und warum sie den Ton aktueller Debatten für bedenklich hält.

Liberale – zeigt Demut!

Großbritannien hat es wieder einmal bestätigt: Der politische Liberalismus ist vom Aussterben bedroht. Die linksliberalen „Libdems“ sind in den Unterhauswahlen fast untergegangen; in Italien und Frankreich gibt es ohnehin keine bedeutsame liberale Partei; in der Schweiz lässt der Freisinn seit Jahren Federn; in Deutschland ist die FDP, die zwischen 2009 und 2013 vom konservativen Koalitionspartner um ein Haar zerdrückt worden war, nicht mehr im Bundestag vertreten.

Dem realpolitischen Bedeutungsverlust der Liberalen steht allerdings eine stetig wachsende Szene freiheitlicher Initiativen in der Zivilgesellschaft gegenüber, die durchaus optimistisch stimmen kann. Eine neue liberale Denkfabrik nach der anderen erblickt das Licht der Welt, in der jüngeren Vergangenheit zum Beispiel„Open Europe Berlin“, die sich mit europapolitischen Fragen beschäftigt, und soeben erst „Prometheus – Das Freiheitsinstitut“ mit einem umfassenden politischen Programm. Es entstehen Gesprächs- und Lesekreise in großer Zahl. Und täglich wächst in den sozialen Medien die bunte Schar der Diskussionsgruppen, in denen das gesamte Weltgeschehen akribisch unter die liberale Lupe genommen wird. Gebloggt wird ohnehin, was das Zeug hält, zum Beispiel auf den Seiten von „Novo Argumente“, „Denken für die Freiheit“,„Antibuerokratieteam“, „Freitum“„Offene Grenzen“, „Café Liberté“, „Libertäre Plattform“ und wie sie alle heißen.

Enthemmte Kommunikation

Viele spannende Texte finden sich, so manches intellektuelle und schreiberische Talent probiert sich dort mit höchst ansehnlichem Ergebnis aus. Es fällt auf, dass viele dieser zumeist noch sehr jungen, selbstausbeuterisch arbeitenden Blogger sich ernsthaft darum bemühen, alle Facetten eines Themas abzuklopfen und ihm umfassend gerecht zu werden. Trotzdem bleiben leider auch diese virtuellen Sphären des freiheitlichen Diskurses nicht ganz verschont von den Verrohungen der enthemmten Kommunikation im Cyberspace: Es gibt, man kann es nicht anders ausdrücken, neben viel Gutem auch viel Müll. Recherche, Fairness, Ausgewogenheit, Stringenz, Sprache – Fehlanzeige? Das Netz vergisst zwar nichts, aber es verzeiht eine Menge.

Es wird zugespitzt und geätzt, dass sich die Balken biegen. Was nicht nach der eigenen weisen Nase läuft, ist gleich „Planwirtschaft“, „Sozialismus“, „Terror“, „Totalitarismus“ oder „Diktatur“, „Wahn“, „Irrsinn“ oder „Idiotie“, darunter geht es nicht. Gefragt ist der Mut zur Meinung: je kesser, desto besser. Da sind Fakten schon mal lästig. In den Kommentarspalten herrscht ohnehin die Sprache der Gosse. Es wird oft persönlich, böse, mitunter verletzend, höhnisch; die Invektiven sind selten zitierbar. Muss das sein? Zugestandenermaßen sind die jungen Leute nicht empfindlich, sondern stecken auch ein, wie sie selber austeilen.

Auch wenn die handelnden Personen die sich ausbreitende Aggressivität gar nicht zu stören scheint, muss diese neue Qualität der verbalen Konfrontation im Netz Sorgen bereiten. Sie befördert vor allem eines: die scharfe Abgrenzung voneinander, das mutwillige Aufreißen von immer mehr heftig umkämpften Gräben, die größtmögliche Radikalität. Was in der notwendigen Distanzierung von der zunehmenden Zahl an „Rechtsversifften“ unter den Liberalen noch angehen mag, verliert freilich auch im sonstigen Diskurs nichts an Schärfe. Jeder Kommentar wird unerbittlich daraufhin seziert, ob der Verfasser sich als „echter Liberaler“ aufführt oder nicht – als ob es dafür unstrittige Kriterien gäbe. Jeder will „echter“ sein, konsequenter denken und die reinere Lehre gepachtet haben als der andere. Man geigt sich gegenseitig hoch.

In diesem nicht sonderlich sportlichen Wettkampf bleiben nur das unbedingte Überlegenheitsgefühl und die unerschütterliche Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, und, am anderen Ende, Ausgrenzung und Verachtung. So geraten dann auch die Argumente in die Zentrifuge. „Purifizierung des Denkens“ hat der selbst sehr differenzierte Blogger Kalle Kappner diesen Prozess einmal – allzu – freundlich genannt; diese gnadenlosen gedanklichen Säuberungen indes drohen in Dogmatismus, Demagogie, Intoleranz und Sektierertum zu münden.

Freiheit ist nicht trivial

Der amerikanische Rechtswissenschaftler Cass Sunstein hat schon vor längerer Zeit diesen Zusammenhang in seinem Fachaufsatz „Deliberative Trouble? Why Groups go to Extremes“ (2000) beleuchtet. Er spricht von „Enclave deliberation”, was man ein wenig schief als „abgeschottete Beratung” oder als „Enklavendiskurs“ übersetzen kann. Nach Sunstein stellt dies eine potenzielle Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität dar, weil sie eben über den Mechanismus des gegenseitigen Hochgeigens den Extremismus befördert. Zudem sei sie eine Quelle von sozialer Fragmentierung, weil sich die Mitglieder der verschiedenen Debattenzirkel nur noch in deren jeweiliger Scheinwelt bewegten und sich gegenseitig bestätigten, statt sich mit ihrer anders denkenden Außenwelt auseinanderzusetzen und zu arrangieren.

All das trifft auch auf die junge liberale Blogger- und Facebookszene zu. Ebenso wie einst der Stammtisch haben diese Enklaven freilich auch eine befreiende Wirkung und Ventilfunktion. Minderheiten, die sonst nicht gehört, sondern auf schwer erträgliche Weise ausgegrenzt werden, finden hier eine Gegenwelt. Und wenn bestimmte Meinungen tabuisiert werden und somit unter dem Deckel bleiben müssen, besteht die Gefahr, dass der Topf irgendwann explodiert.

Die Zentrifugalkraft des Cyberspace hat also wie alles zwei Seiten. Aber vielleicht kann sich die liberale Enklave von anderen Gruppen dadurch unterscheiden, dass sie sich zunehmend zivilisiert. Das wäre umso wünschenswerter, als viele der komplexen Fragen, die dort verhandelt werden, gar kein radikales Ja oder Nein, Richtig oder Falsch, Schwarz oder Weiß, Daumen hoch oder runter erlauben. Häufig erschließt sich die wahre Natur eines Problems erst in der Nuance und gilt es auch zu seiner liberalen Lösung eine schwierige Balance zu finden, bei der sich die Akzente durchaus unterschiedlich setzen lassen.

Wer ein solches Abwägen dann als Relativismus und als Zeichen einer nicht lupenreinen liberalen Gesinnung abtun zu können glaubt, macht es sich viel zu einfach. Das Ringen um die Freiheit ist nicht trivial, und das liberale Haus ist groß.Es hat für viele Platz – aber es braucht Manieren. Ohne eine gewisse Reife und angemessene Haltung bleiben die Liberalen unter ihren Möglichkeiten. Zum Wesen des Liberalismus gehört eine Haltung der Demut, der intellektuellen wie der menschlichen Offenheit, der Toleranz, des Verzichts auf Übergriffigkeit und des Respekts.

Neugier hilft nicht weiter

Demut und Offenheit sind schon deshalb eine liberale Kerntugend, weil unser aller Wissen begrenzt ist und alle Erkenntnis nur vorläufig, wie wir seit Friedrich August von Hayek und Karl Popper wissen. Wer diese beiden Einsichten teilt und ernst nimmt, muss sein Temperament zügeln. Er sollte sich vor apodiktischen, gesprächsabschneidenden Urteilen hüten, stattdessen die eigene Position immer wieder überprüfen und den eigenen Zweifel pflegen. Das wäre übrigens auch ziemlich sympathisch – bekanntlich sind die Sympathiewerte der Liberalen durchaus verbesserungsfähig.

Mit Demut und Offenheit fällt es auch leicht, sich gegenüber anderen Menschen und Meinungen tolerant zu zeigen – nicht etwa in jenem sauertöpfisch-herablassenden Sinn, dass man den anderen sich zwar äußern lässt, ihn aber stehenden Fußes als wahlweise dumm, unreif, ahnungslos oder fehlgeleitet in die Ecke stellt. Sondern tolerant in dem bejahenden Sinn, dass man abweichende Überlegungen als Anregung und intellektuelle Konkurrenz annimmt und sich voller Neugier auf die zu gewinnenden Einsichten mit ihnen auseinandersetzt. Eine solche Haltung stünde allen Liberalen gut zu Gesicht.

HINWEIS: Die Veröffentlichung des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Capital – Das Online-Portal des Wirtschaftsmagazins Capital mit Reportagen, Analysen, Kommentaren aus der Welt der Wirtschaft und der persönlichen Finanzen.

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