Plötzlich war Roman da. Ein Mann. Ein Ro-Mann. Ich hatte das alles nicht gewollt; hatte mein Leben klargemacht, bis ich im Juni stolze 30 wurde. Promotion, eigenes Unternehmen, eigene Wohnung, eigenes Denken – Professur in fünf Jahren. So der Masterplan. Männer in Scharen, aber eher auf der Nebenschiene geparkt. Liebe führt zu – ökonomisch gesehen – schlechterer Performance.
Ich sitze mit einem meiner Kollegen, mit dem ich letztes Jahr eine kurze und aufregende Affäre gehabt hatte, in einem kleinen, hippen Veganerladen. Wolfgang ist seit zwei Jahren auf dem Gesundheitstrip und wollte daher unbedingt einen leichten Lunch ausprobieren. Mir ist das relativ egal, Hauptsache das Business läuft. Heute bin ich mit Zahlen dran – die emanzipierte Frau – hier wird es wenigstens nicht zu teuer, denke ich.
Wir steuern auf die einzigen Sitzplätze weit und breit zu – zwei Strohballen, die in einer umgebauten Garage aufgestellt sind, mit grünen Sitzkissen garniert. Ich muss an den Porno mit dem Stroh denken und grinse innerlich. Wolfgang kennt ihn natürlich nicht, als ich ihn danach frage.
War ja klar, verheirateter Reihenhausspießer eben. Ich kläre ihn über den Inhalt auf. Ich muss immer alles erklären.
Ein gut trainierter, sportlicher Typ mit Baseball-Kappe setzt sich kurz darauf zu uns. Durch das enge weiße T-Shirt zeichnen sich seine Brustmuskeln ab. Wahrscheinlich geht er jeden Tag pumpen. Ob wir ein veganes Eis möchten, fragt er, und stellt sich als der Ladeninhaber mit Namen Roman vor. Dann redet er irgendetwas weiter, von dem ich aber nur noch die Hälfte weiß, da meine Augen an seinen Wimpern hängen bleiben. Wir unterhalten uns ein wenig mit ihm weiter, die Veganismus-Szene interessiert mich ja als aufgeklärtes Individuum, danach zahlen wir und gehen.
Ich kann mich den weiteren Tag nicht mehr richtig konzentrieren.
Ein paar Wochen später. Selber Ort, selber Lunch-Partner. Wolfgang erscheint nicht. Mir ist das eigentlich ganz recht, denn ich habe heute viel Analysekram zu erledigen, so kann ich wenigstens schneller wieder an die Arbeit. Mit Wolfgang läuft eh nichts mehr, also, was soll ich also hier – waste of time. Da ich aber dennoch irgendetwas zu Mittag essen muss, um mein Gehirn anzufüttern, setze ich mich kurz in den Laden, diesmal nicht auf die Porno-Strohballen, sondern an einen Tisch. Kurz drauf tritt Roman aus der Küchentür, mit einer braunen Schürze über dem weißen T-Shirt, gesprenkelt mit ein paar Klecksen Tomatensoße, den Bart hat er stehen lassen. Ich bin hingerissen und zupfe, um mich abzulenken, an meinem Business-Kleid, das immer wieder über meine Oberschenkel rutscht.
Alles läuft so organisch zwischen uns.
Als ob es das Natürlichste wäre, beginne ich, Roman nach zehn weiteren Minuten zu überreden, mit mir zu essen. Wolfgang war ja nicht aufgetaucht, was eigentlich meine Schuld war, da ich mich im Tag geirrt hatte. Das erfahre ich aber erst im Nachhinein. Roman setzt sich ohne Widerrede zu mir. Normal mache er das nicht. Klar, Gelaber, denke ich, und muss mich dennoch beherrschen, mich auf das Linsen-Curry vor mir zu konzentrieren, da ich mich in diesem Moment so verdammt zu ihm hingezogen fühle, als würde ich über den Tisch fliegen und an seinen Lippen kleben bleiben wollen.
Was sich dieses Gehirn schon wieder für einen
Mist zusammenreimt, denke ich, während ich mich beim Denken beobachte!
Er muss zwischendrin aufstehen, weil irgendwelche anderen Kunden kommen. Wie er mit dem Essen hantiert – fast zärtlich schneidet er Tomaten. Ich hasse Kochen wohlgemerkt und habe mich bisher erfolgreich davor gedrückt. Ich würde niemals die klassische Frauenrolle übernehmen. Das Muster des Kochens war meines Erachtens ein Schritt dort hinein. Und die Ehe das Ende. Bevor ich gehe, fragt Roman mich, ob er diese Woche bei mir zu Hause vorbeikommen könne. Ich sage ja.
Meine Gedanken rasen.
Ich fahre zurück ins Büro. Vor einem Jahr hätte ich nicht “ja” gesagt. Er ist weder Professor, noch promoviert, hat noch nicht einmal einen akademischen Abschluss, wie ich erfahren habe, sondern ist “nur” ein veganer Koch. Ein paar Tage verstreichen und ich schaffe es bestens, mir das Ganze auszureden. Das Treffen, er hatte sich inzwischen per Whats’s App für Sonntag eingeladen, um mir ein wenig Kochen beizubringen, plane ich, abzusagen. Hallelujah! Meine Ratio hat gewonnen, ich habe sie sensationell trainiert! Es gibt ja derzeit auch genug andere Männer in meinem Harem, den ich sorgfältig pflege, sodass er mein restliches Leben nicht stört.
Nur aus einer sonntäglichen Laune heraus treffe ich Roman dann doch.
Im Nachhinein weiß ich nicht einmal mehr, warum. Er erscheint in Jogginghose und bringt vegane Pizza mit, da ich es natürlich nicht geschafft habe, etwas einzukaufen, geschweige denn, Lust hatte, irgendetwas vorzubereiten. Wenigstens habe ich eine Stunde zuvor den guten Weißwein von meinem letzten Vortrag kalt gestellt. Er kann froh sein, dass ich diesen mit ihm teile – obwohl er es gewagt hat, zu einer abendlichen Verabredung im Jogging-Outfit zu kommen und zudem jünger(!) ist als ich, was ich nach einer halben Flasche erfahre.
Die letzten Männer waren alle zwischen 40 und 55.
Hätte ich dieses strukturelle Problem vor seiner Selbst-Einladung (normalerweise mache ich immer den Timetable!) ersonnen, hätte ich das Treffen sicherlich wieder abgesagt. Seltsamerweise hatte ich mir zuvor überhaupt keine Gedanken gemacht, wie alt er denn sein könnte. Welche Musik ich denn so höre, fragt er irgendwann. Ich ärgere mich innerlich bei dieser Frage, solche Banalitäten würden mich nicht interessieren, werfe ich ihm direkt
vor. Er grinst und hat dabei eine unglaublich geschmeidige Art, diese Pizza zu essen.
Ich kann nicht sagen, warum ich ihn am nächsten Tag anrufe und abends wiedersehe. Und am Tag darauf.
Bisher ist körperlich nichts gelaufen. Er macht auch keine Anstalten. Ich aber auch nicht. Wir unterhalten uns über “Beziehungen”, so wie die Mehrheit der Gesellschaft dieses Etwas definiert. Solches würde auf keinen Fall in Frage kommen, predige ich ihm. Ich würde mir allenfalls eine Neben-Liaison vorstellen können, neben meinem bereits bestehenden Harem, alles andere sei sowieso unrealistisch und ich nicht geeignet für solche konventionellen Modelle namens Paarbeziehung.
Dieses Ding, was sie “Liebe” nennen – ein Unwort – habe ich aus
meinem Idiolekt für die nächsten 100 Jahre verbannt.
Nach einer weiteren Woche kann ich mich schwer auf meine Analysen konzentrieren. Ich schicke ihm Nachrichten. Und Icons mit Herzen. Er schreibt immer sofort zurück oder ruft direkt an. Normalerweise analysiere ich sowas nur auf der Metaebene und bilde sprachliche Kategorien dafür. Jetzt bin ich selbst die Objektebene, meine eigene empirische Studie! Er erfüllt nicht die Muster, die ich vorhergesagt hatte. Gibt es eigentlich überhaupt etwas, was bislang an ihm auszusetzen ist? Was hatte ich noch in den letzten Wochen gegen solche Kommunikationen gewettert und die erotische Freiheit hochgelobt, Freunde und Bekannte kritisiert für ihre Entscheidungen zu einer “festen” Beziehung namens Monogamie. Biologisch völlig unmöglich, kulturell konstruiert, so meine Rede. Acht Monate, hatte ich ihnen prophezeit, dann der erste Knick in der Libido und spätestens nach drei Jahren Beginn des außerehelichen Bumsens. Statistisch bewiesen. Schöne geile Welt. Nicht mit mir! Kein Bock auf diese Spiele. Ich habe sie durchschaut.
Aber ich habe ja nie gesagt, dass ich mit Roman eine Beziehung habe.
Ich beobachte mich lächelnd ihm gegenüber stehend. Die Femme Fatale in mir ist von meinen schmachtenden Blicken schockiert. WTF – was mache ich da eigentlich? Ich höre mich Worte sagen, von denen ich noch nicht einmal geglaubt hätte, dass ich sie denken könnte. Mit einem Koch? Dieses etwas, was da zurzeit passiert, passt überhaupt nicht in meinen Businessplan. Passt es zu meinem Ich? Ich hatte mir alles so schön zu recht gelegt, Theorie, Empirie, zigmal durchdrungen und verifiziert. Lebenswelt schön eingerichtet. Glaubenssätze poliert. Ich war glücklich nach dem ersten Drittel meines Lebens. Alles lief.
Dann kam Roman mit veganer Pizza vorbei.
Mit meiner Mutter rede ich die Tage über ihn. Für das, was ich sage, sollte ich mich eigentlich einweisen lassen. Meine Mutter liebt es, mir regelmäßig das Hohelied der Liebe zu predigen: “Irgendwann triffst du den Richtigen”. Was für einen Unsinn sie denn da von sich gebe, weise ich sie dann in die Schranken. Es gäbe ein solches System richtig vs. falsch nicht – man könne sich mit jedem, der einige Parameter erfüllt, arrangieren, dafür müsse man sich aber erst mit sich selbst arrangieren.
Das hatte ich. Definitiv.
Viel Geld hatte ich für Psychokram ausgegeben und mir meine eigene Welt zurechtgebaut. LIEBE, die. Femininum. Ein hybrides Konstrukt von Projektionen, mit denen man sich gegenseitig überfrachtet und dann ins symbiotische Pärchenmodul verfrachtet. Also lieber nicht mehr zu viel einlassen, zu eng sein, zu sehr aneinander hängen, obwohl ich jahrelang in festen Partnerschaften gelebt hatte – sogar monogam, wohlgemerkt. Jetzt wollte ich sowas eigentlich nicht mehr, da ich mich jetzt ja selbst liebte, ein Business und einen Doktor hatte, und keinen anderen mehr brauchen wollte.
Roman liegt neben mir.
Ich streiche über seine linke Flanke, auf der er einen indischen Ganesha tätowiert hat. Ich würde mit einem anderen aus dem Harem in den Urlaub fahren, teile ich ihm mit. Ist ok für ihn. Es wird langsam unheimlich. Er kommt mir so nah. Drei Tage später sage ich meinen Harem-Trip ab – und buche stattdessen eine 5-Sterne-Suite mit Whirlpool. Mit Roman. Freiwillig. Ich bin verrückt geworden. Ich fange an, noch mehr Freunden von ihm zu erzählen. Das Wort Freund würde ich selbst nie in den Mund nehmen.
Roman beginnt, mein Weltbild zu zerstören.
Wir mögen beide dieselben Dinge, Linzertorte, Ohren putzen und die gehirn-freundlichen Videos von Vera Birkenbihl. Wie in einem schlechten Kitschroman oder einer der tausend Stories, die ich von anderen Frauen gehört habe und dabei innerlich gähnen musste. Und ihnen einen Vortrag darüber gehalten habe, dass die Idee der Seelenverwandtschaft eine romantische Konstruktion sei, weil wir eine Ersatz-Religion brauchen und Angst vor dem Alleinsein hätten.
Ich bin seit 15 Tagen nicht mehr allein.
Wir sehen oder hören uns ununterbrochen. Das Ganze ist zum totalen Selbstläufer geworden. Ich habe völlig die Kontrolle verloren. Roman bringt mir fast täglich Essen vorbei und nimmt mich mit ins Yoga. Daher kommen auch seine Muskeln. Wir telefonieren Stunden. Wie lächerlich das ein Teil von mir findet. Mein Gehirn hat vor ein paar Wochen noch völlig anderes von sich gegeben.
Tag 16: Wir fliegen zusammen in den Urlaub.
Wir kennen uns zwar kaum, aber scheiß drauf. Es fühlt sich richtig an. Was ist das bloß für ein grauenvolles Wort, das ich beginne, zu verwenden. Der Urlaub dauert zwar nur vier Tage, aber sie fühlen sich an wie 3 Wochen. Ich bin zeitlos geworden. Es wird der schönste Urlaub meines Lebens. Wie ich mich belächle, während ich diesen Satz schreibe. Die Klimax des Kitsches! Eine Mischung aus Argwohn und Scham. Gedanken verfertigen sich beim Schreiben. Das predige ich zumindest immer anderen. Meine Gedanken sind im Moment Gummi. Meine
Welt steht Kopf. Meine anderen Harem-Männer habe ich wegen ihm nicht mehr
getroffen, weil ICH es nicht mehr wollte. Ich habe da jemanden kennengelernt…Sie merken, dass etwas anders ist und ich kaum noch ans Telefon gehe oder Nachrichten schreibe.
Ich will alles mit dir haben – diesen Satz sagt er mir immer wieder.
Die Buchstaben tanzen in meinem Kopf. Ich will alles mit dir haben. Viel schlimmer aber: Ich bin zutiefst berührt davon. Drehe völlig durch, wenn ich ihn sehe. Lange hatte ich mich für abgeklärt gehalten, für angekommen in meinem Leben, in meiner Wirklichkeit. Beginne ich jetzt etwa, inhaltslose Floskeln zu mögen? Es ist irgendetwas anders nun. Es ist ein neuer Faktor da, der – wie ein kleiner Bücherwurm – langsam Löcher in mein gesamtes Wissen hineinfrisst. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin und was ich will. Sonst weiß ich, dass ich überhaupt nichts mehr weiß.
Er tankt mein Auto einfach so und wirft die Rechnung weg.
Er kehrt morgens mehrmals zurück, bevor er meine Wohnung verlässt, um mich beim Schlafen zu beobachten. Würde am liebsten jetzt schon bei mir einziehen (dass ich das gigantisch fände, kann ich noch nicht einmal vor mir selbst eingestehen). Er kommt zu spät zu seinen Terminen, weil wir noch zehn Minuten knutschen. Ich höre mich das Pronomen “wir” benutzen. Ich habe noch
mit niemandem so liebevoll geredet – und niemand mit mir. Ich mache mir selbst Angst. Tag 19. Mit einem Hormonüberschuss und Glücksgefühlen, die ich nicht kannte, komme ich aus dem Urlaub zurück. Neben der Tatsache, dass ich noch nie mit einem Mann vier Stunden gefrühstückt habe, geschweige denn, mir jemand die Fußnägel lackiert hat, besitze ich jetzt einen Partnerschafts-Ring. An der linken Hand. Game over.
Ich habe versagt.
Ich habe es geschafft, mich selbst zu widerlegen, meine eigene Theorie zu falsifizieren, für die ich jahrelang eingestanden habe, die ich verteidigt, verschriftlicht habe, an die ich geglaubt habe. Sie hat sich als falsch herausgestellt – durch das Positive, das ich nicht bedacht hatte. Und es ist kein false Positive! Es fühlt sich richtig an. “R”ichtig wie “R”oman. Doch ich habe Angst, merke ich, riesige Angst vor diesem Neuland, das ich betrete, das ich nicht kenne, das ich mir erarbeiten muss. Ich muss mich teilweise neu erschaffen und neue Grenzen aufbauen, alte wurden durch mich selbst vernichtet. Ich denke an die Luhmann’sche Systemtheorie und die Systeme, die sich nach einer Irritation auf höherer Ebene selbst stabilisieren. Ich möchte auch dort hin. Auch wenn alles nur drei Jahre dauert, meinen eigenen Prophezeiungen zufolge. Mit ihm könnte ich es jedoch auch länger aushalten.
Ich will alles mit dir haben, Roman.
Aber ich kann dir für nichts garantieren.