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Müssen Führungskräfte Vorbild sein? Eine Abrechnung mit der „Vorbildfunktion“

Unsere Community-Autorin Silke Wöhrmann kritisiert den ständigen Anspruch„Ich muss immer Vorbild sein“ – und warnt vor den Folgen. Außerdem verrät sie, was Führungskräfte tun müssen, um nicht mit Gurken beworfen zu werden.

 

Weg mit gebetsmühlenartigen Glaubenssätzen

Zu Beginn meiner Selbstständigkeit hatte ich einen kleinen Arbeitsplatz in einer Agentur. Folgende Situation fiel mir auf: Der Chef ackerte ohne Ende. Er war immer präsent, hatte Ideen, wenn er telefonierte, dann sehr professionell . Es handelte sich um ein Großraumbüro. Alle Mitarbeiter konnten mitbekommen, wie er telefonierte, wie er arbeitete. Sie haben es sich nie abgeschaut. Er war verzweifelt. Denn er machte das doch alles vor, warum, zum Kuckuck, passierte da nix in den Köpfen? Wo blieben die Ideen, der Ehrgeiz, die guten Telefonate?

Auch in meinen Seminaren wird gebetsmühlenartig wiederholt: „Führungskräfte müssen Vorbild sein.“ Warum hat sich dieser Satz in den Köpfen der Führungskräfte so festgesetzt? Nennt mir bitte nur einen Mitarbeiter, der, nur weil der oder die Vorgesetzte am Wochenende arbeitet, auch am Wochenende arbeitet. Nennt mir eine Mitarbeiterin, die sich das Verhalten Ihres Vorgesetzten genau anschaut und dann kopiert…naaa?

Ich mache vor – ihr macht (nicht) nach.

„Ich muss Vorbild sein“ hat sich in seiner Bedeutung dahingehend festgesetzt, dass Führungskräfte denken, sie bräuchten nur vorzumachen und Mitarbeiter machen nach. Dem ist – leider – nicht so. Es sei denn, natürlich, einem unterläuft mal ein Fehler und der wird einem dann jahrelang unter die Nase gerieben: „Damals hatten Sie auch…“.

Fatale Folgen des eigenen Anspruchs

Die Folgen dieser Einstellung „Ich muss Vorbild sein“ sind fatal: Sie setzt uns unter Druck, der perfekte Mensch sein zu müssen. Immer die Beherrschung zu behalten. Immer freundlich, obwohl einem der Kragen platzt. Immer ackern, und damit verbunden die Hoffnung, unsere Arbeitshaltung überträgt sich automatisch. Und eine weitere fatale Folge: unendliche Bequemlichkeit der Mitarbeiter. Denn die Führungskraft muss Vorbild sein. Wir ja nicht. Ein wunderbarer Rückzugsort für Nörgler, Kritiker, Unzufriedene.

Natürlich meine ich jetzt nicht: Leute, legt die Füße hoch, lasst euch gehen.

Vorbildfunktion heißt nicht, es jedem Recht zu machen. 

Lassen Sie mich kurz eine Geschichte erzählen, um zu erklären, was ich meine.

An der University of Atlanta gibt es den berühmten Versuch von Frans de Waal und Sarah Brosman mit zwei Affen. Sie wurden so erzogen, dass sie immer, wenn sie einen Stock durch das Gitter den Forschern zurückgeben, als Belohnung ein Stück Gurke bekommen. Dann wurde der Forschungsablauf geändert. Ein Affe musste weiterhin den Stock zurückgeben („arbeiten“), der andere bekam einfach so eine Gurke. Unwille kam auf (bei dem, der arbeitete, natürlich). Dann wurde der Missmut des „fleißigen Affen“ noch gesteigert: Der andere Affe bekam eine Traube (steht in der Geschmacksrangordnung bei Affen deutlich über der Gurke). Wunderbar zu sehen: Der Missmut des benachteiligten Affen über diese Ungerechtigkeit stieg ins Unendliche, er bewarf den Forscher frustriert mit der Gurke und gebärdete sich wie wild. Gut, dass ein Gitter dazwischen war.

Was sagt uns das? Das Experiment war dazu gedacht herauszufinden, ob Primaten Gerechtigkeit empfinden können. Aber es zeigt auch: Die „Führungskraft“ (Forscher) war immer dieselbe. Die „Mitarbeiter“ (Affen) waren immer dieselben. Die Führungskraft hat getan, was ihr aufgetragen wurde („Zielsetzung der Unternehmensleitung umgesetzt“). Aus Sicht der Mitarbeiter hat sie sich aber nicht vorbildlich, sondern ungerecht verhalten. So entstanden aus Situationen, die eigentlich gerade noch ruhig und ausbalanciert waren, plötzlich massive Konflikte.

Gerechtigkeit ist, wenn alle wissen, warum belohnt wird.

Was hat das mit Vorbildfunktion zu tun? Ganz einfach: Diese „kleinen“ Situationen, in denen wir einem Mitarbeiter eine Traube, dem anderen eine Gurke geben, passieren uns jeden Tag, im Vorbeigehen. Den einen Mitarbeiter lächeln wir an, den anderen nicht. Den einen grüßen wir, den anderen nicht. Mit dem einen reden wir länger, für den anderen haben wir gerade keine Zeit. Der Grund liegt natürlich in unserem Terminplan, in der Eile, in unserer momentanen Stimmungslage, es ist nichts Persönliches, aber das wissen die Mitarbeiter ja nicht.

Und obwohl wir denken, dass wir ja die großen Vorbilder sind, zieht irgendwo in irgendeiner Ecke Missmut auf, verbreitet sich fies im Büro und holt uns völlig überraschend auf der nächsten Teamsitzung wieder ein.

Klare Regeln, Werte, Ziele – dann wird man nicht mit Gurken beworfen

Daraus folgt: Wir müssen nur in einem Vorbild sein: unsere Werte und Anforderungen mit den Mitarbeitern so teilen, dass sie den Mitarbeitern auch bekannt sind und für ALLE gelten. Die Verhältnisse müssen klar sein. Alle müssen wissen, was von ihnen erwartet, woran sie gemessen werden („Warum die einen eine Traube bekommen, die anderen eine Gurke“). Einfaches „Vorleben“ reicht nicht. Und diese Messung erfolgt anhand von Kriterien, die für alle gelten. Und wenn es Unterschiede in den Kriterien hinsichtlich der Arbeitsanforderungen gibt, dann muss das auch klar sein und konsequent gelebt werden. Diese zauberhaften Führungsinstrumente nennt man Werte und Ziele, Anforderungs- und Qualifikationsprofile.  Nur dann herrscht Ruhe im Käfig und die Führungskraft wird nicht mit Gurken beworfen.

Setzt euch mit den Mitarbeitern zusammen

Das bedeutet: Führungskräfte, vergesst diese vermaledeite „Vorbildfunktion“ und setzt euch mit euren Mitarbeitern zusammen. Stellt klar, dass jeder Einzelne eine Vorbildfunktion inne hat. Stellt klar, dass jeder weiß, was von ihm erwartet wird und stellt sicher, dass es auch jeder kann. Die Testfrage lautet:   „Wissen Sie, was ich von Ihnen erwarte?“ Und wenn dann nur hilfloses Gemauschel mit Ähs und Öhs kommt: Stellt eine Situation über die gerade genannten Instrumente her, in der alle Bescheid wissen, wann belohnt wird und wann nicht.

Also: Wenn du erwartest, dass ein Mitarbeiter professionell telefonieren soll: Die Werte sorgen für das „Wie“ in der Umsetzung (freundlich, respektvoll, kundenorientiert).

Das Ziel benennt, wie viele Telefonate mit welchem Ergebnis. 

Die Aufgabe des Telefonierens steht im Anforderungsprofil. Dieses Anforderungsprofil muss der Mitarbeiter kennen.

Und dann: Die Personalentwicklung zusammen mit dem Mitarbeiter muss dafür sorgen, dass er seine Aufgabe auch so umsetzen kann, wie es von ihm erwartet wird („Qualifikation“).

Verzichtet eine Führungskraft auf diese Instrumente, wird nix kommen.  Und sie wird weiterhin der oder die Einzige sein, die sich abrackert.

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