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Ende des NSU-Prozesses ­– warum das Urteil keinen Schlussstrich bedeuten darf

Am 11. Juli ging der seit 2013 laufende Prozess gegen den NSU zu Ende. Beate Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Doch damit darf die Aufarbeitung nicht enden.

Der Prozess ist zu Ende, viele Fragen bleiben offen

Mit dem Urteil endete am 11. Juli 2018 der größte deutsche Terrorprozess nach der Wiedervereinigung: der NSU-Prozess. Fünf Jahre hat er gedauert. 437 Verhandlungstage, 597 Zeug*innen und Sachverständige wurden gehört, fünf Menschen waren angeklagt, fünf Richter*innen, 15 Verteidiger*innen und 95 Nebenkläger*innen sowie 60 Nebenklagevertreter*innen, um die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds, darunter zehn Morde, aufzudecken. Viele Fragen konnte dieser Prozess klären, viele Fragen bleiben weiterhin offen.

Laut der Initiative „Kein Schlussstrich” bleiben sogar mehr Fragen als Antworten. Um nur einige zu nennen: Wer hat die Bombe in dem Lebensmittelgeschäft einer iranischstämmigen Familie in der Kölner Probsteigasse deponiert? Was wussten die Verfassungsschutzbehörden? Was machte der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat in seinem Internetcafé? Wer half und unterstützte das vermeintliche Trio? Oder hatte der NSU sogar noch mehr Mitglieder, die bis heute unbekannt blieben? Und die Frage, die wohl für alle Hinterbliebenen der Opfer mit am schwersten wiegt: Warum musste ihr Ehemann, Vater, Sohn, ihre Tochter oder Freundin sterben?  Diejenige, die zu diesem Zeitpunkt diese drängende Frage beantworten könnte, hat sich entschieden zu schweigen: Beate Zschäpe.

Die Bundeskanzlerin versprach Aufklärung

2012 versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel den Hinterbliebenen und Opfern: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.” Stattdessen zerschredderten Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutzes Akten, schützten ihre V-Männer und wiesen jegliche Schuld von sich. Statt einer Umstrukturierung arbeitet der Verfassungsschutz bis heute mit Nazis zusammen. Der hessische Verfassungsschutz hat gerade angekündigt, dass die Akten über hessische NSU-Kontakte bis zum Jahr 2134 unter Verschluss bleiben sollen. Von Aufklärungswillen also keine Spur.

Zur Wahrheit gehört aber auch, so hat es der Anwalt Mehmet Daimagüler formuliert, dass wir alle versagt haben. Denn diese Morde sind in unserer Gesellschaft passiert, wir haben uns als Gesellschaft entschieden die Opfer nicht hören zu wollen. Schon 2006 demonstrierten zum Beispiel Hinterbliebene mehrerer Opfer (Halit Yozgat, Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık ) unter dem Motto „Kein zehntes Opfer”. Fünf Jahre sollte es danach noch dauern bis der NSU mit dem Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt entdeckt werden sollte.

Im gleichen Monat, in dem der „Schweigemarsch” für die Opfer stattfand, feierte Deutschland das sogenannte „Sommermärchen”. Nur zwei Monate vorher konnte der NSU seinen letzten bekannten Mord verüben. Und während die Hinterbliebenen sich versuchten Gehör zu verschaffen, schmückten immer mehr Deutschlandfahnen Autos, Balkone und Fahnenmaste. Endlich konnte man wieder stolz auf sein Land sein – ein Land, in dem ein neonazistische Terrororganisation zehn Menschen unentdeckt töten könnte. Wäre die deutsche Männer-Nationalmannschaft bis ins Halbfinale gekommen, würden am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess im ganzen Land Deutschland-Flaggen hängen.

Kein Schlussstrich!

Wer findet, der NSU-Komplex sei mit Prozessende abschließend aufgeklärt, der sollte Gamze Kubaşık, Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşık, anhören: „Es ist ein ungutes Gefühl, wenn ich auf der Straße bin und weiß, es könnte irgendein Nazi rumlaufen, der vor der Ermordung meines Vaters wusste, dass mein Vater ermordet wird.” Oder die Worte von Abdulkerim Şimşek, Sohn des ermordeten Enver Şimşek, gestern auf der Pressekonferenz zur anstehenden Urteilsverkündung: „Ich kann nicht abschliessen, weil ich nicht verstehe, warum Akten geschreddert werden und niemand zur Verantwortung gezogen wird. Es kommt mir so vor, als ob alles umsonst gewesen ist.“

Wir alle müssen uns also mit den Taten des NSU auseinandersetzen. Und ja, Für jeden, der sich auch nur ein wenig mit dem NSU, den Opfern und Hinterbliebenen, den Nebenklageplädoyers und der Arbeit der Initiativen beschäftigt, wird es unbequem, denn spätestens dann kann man nicht mehr leugnen, dass es in diesem Land ein strukturelles und gesellschaftliches Rassismusproblem gibt. Und dass dieser Rassismus, der im Alltag, in unserer Sprache, in unserem Verhalten beginnt, in letzter Konsequenz tötet. Und selbst wenn von heute an kein rassistischer Mord mehr passieren würde, bliebe die Angst derjenigen in unserer Gesellschaft, die durch den NSU, andere rechtsextreme Gruppen und Rassismus bedroht waren und sind. Muhammet Ayazgün, Opfer des Nagelbombenanschlags am 9. Juni 2004 in Köln und Nebenkläger im Prozess, fasste diese Angst in Worte: „Wie hoch Zschäpe und ihre Mitkämpfer verurteilt werden, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, die Hintergründe aufzuklären – abschreckend wirkt nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung, d. h. die Verhinderung weiterer Taten dieser Neonazis. Ich will nicht, dass meine Kinder in Deutschland die Ängste haben müssen, die ich haben musste. Ich will auch nicht, dass meine Kinder vor der Polizei Angst haben müssen, wenn sie doch Opfer von Neonazis werden sollten.” Diese Angst kann nur kleiner werden, wenn die Taten und das Unterstützernetzwerk komplett ermittelt werden und die Täter*innen zur Verantwortung gezogen werden.

Auch deshalb kann das heutige Urteil kein Schlussstrich sein. Die Verantwortung dafür tragen wir. Das mag pathetisch klingen, aber es macht es nicht weniger wahr.

Wir als Gesellschaft tragen also eine Verantwortung: Hören wir den Opfern und Hinterbliebenen zu, lesen wir die Bücher und Artikel, unterstützen wir die Arbeit der Initiativen, die auch keinen Schlussstrich ziehen. Und lernen wir endlich die Namen:

Enver Şimşek

Abdurrahim Özüdoğru

Süleyman Taşköprü

Habil Kılıç

Mehmet Turgut

İsmail Yaşar

Theodoros Boulgarides

Mehmet Kubaşık

Halit Yozgat

Michèle Kiesewetter

Titelbild: Flickr | Fraktion DIE LINKE. im Bundestag | CC BY-NC 2.0

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