Unsere Community-Autorin Nele arbeitet seit mehr als zehn Jahren in der Flüchtlingshilfe. Sie vermisst vor allem eins zwischen Pegida-Hetze und „Willkommen“-Bannern: Wohlüberlegte Zwischentöne. Und Menschlichkeit.
Es geht hier um Menschen!
Seit rund zehn Jahren bin ich nun in der Flüchtlingshilfe tätig. Ich habe in unzählige von Traumata gezeichnete Gesichter gesehen und ebenso viele hilflose Gespräche geführt. Ich habe Lebensgeschichten gehört, die so verstörend sind, dass sie mich in meinen Träumen verfolgen. Und ja: Ich habe natürlich auch den einen oder die andere kennengelernt, die aus so genannten „wirtschaftlichen Gründen“ in Deutschland eine neue Heimat suchen.
Was ich im öffentlichen Diskurs und auch in hitzigen Wortgefechten mit Bekannten häufig vermisse: Es geht hier um Menschen. Jede und jeder Einzelne trägt eine Last mit sich, mal mehr, mal weniger schwer.
Da ist die syrische Familie mit vier kleinen Jungs, deren größte Angst in der Ungewissheit liegt. Die Frau aus Eritrea, die auf der Flucht ihren Mann verloren hat und ihr Baby nun alleine großziehen muss. Der junge Mann aus Bangladesch, der ohne fremde Hilfe in der lokalen Stadtbibliothek die deutsche Sprache erlernt hat. Der 17-Jährige Kongolese, der über seine Vergangenheit nicht sprechen kann. Die tamilischen Mädchen, die einst zu viert waren, bis sich eine Schwester vor Verzweiflung von einer deutschen Autobahnbrücke gestürzt hat. Jeder Fall ein Schicksal.
Und wir? Wir diskutieren fröhlich über Steuergelder, finanzielle Belastungen und Überfremdung.
Wir brauchen viele Schultern, um die Last zu tragen
Ich bin nicht weltfremd und schon gar nicht blauäugig. Auch mir ist bewusst, dass der Zustrom an Migranten eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft darstellt – wirtschaftlich wie sozial. Der Preis humanitärer Hilfe ist nicht zu unterschätzen und er kann nur von vielen Schultern gemeinsam getragen werden. Denn die Integration dieser Menschen wird nicht einfach sein. Traumata müssen aufgearbeitet, kulturelle Verschiedenheiten überwunden, Ängste und Vorbehalte diskutiert, bürokratische Hürden abgebaut und Zugänge zum Arbeitsmarkt erschlossen werden.
Ich will nicht über zweifelhafte Waffenexporte in die Herkunftsländer dozieren. Nicht über die Zerstörung lokaler Märkte, auch und gerade durch die Europäische Union. Nicht über politische Verfolgung, sexuelle Gewalt und religiöse Unterdrückung. Nicht über die Verbrecherregimes, deren Herrscher ihr Vermögen im Ausland parken, während die Bevölkerung zugrunde geht. Nicht über die unhaltbaren Zustände in vielen Flüchtlingsunterkünften. Und ich erwarte auch von niemandem, Geflüchtete bei sich zuhause einzuquartieren, die eigenen Sorgen totzuschweigen oder die real existierenden Problemen zu ignorieren.
Was ich aber erwarte, ist Vernunft und Menschlichkeit.
Setzt euch ernsthaft mit dem Thema Flucht auseinander. Überprüft den Wahrheitsgehalt der Argumente, mit denen die radikalen Gruppen Stimmung machen (Spoiler: Er geht gegen Null!). Begreift kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Öffnet euch, sprecht mit den Menschen, lernt sie kennen. Und schaut ihnen verdammt nochmal endlich in die Augen.
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