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Als Geisteswissenschaftlerin im Startup-Zirkus.

Gründer sind männlich, haben einen technischen oder wirtschaftlichen Hintergrund und ein breites Wissen in dem Feld, in dem sie gründen. Soweit die Theorie. Was aber, wenn eine Geisteswissenschaftlerin gründet – noch dazu ein Reise-Startup, das via App arbeitet?

 

Nein, das war überhaupt nicht geplant. Als frisch gekürte Abiturientin war ich mir sicher: Lehramt Gymnasium, Deutsch – Geschichte – Sozialkunde. Die geisteswissenschaftliche Kombination schlechthin, ein risikoarmer Job in heimatlichem Umfeld und klar vorgegebenen Strukturen: So würde mein späteres Arbeitsleben aussehen. Und so verlief auch das Studium – straight nach Plan, innerhalb der vorgegebenen Zeit, gute Noten und zusätzliche Praktika. Doch dann – der Bruch: Die Gelegenheit tat sich auf, als eine von zwei Gründern ein Reise-Startup zu eröffnen. Ich überlegte nicht lange und dachte schon gar nicht über die Konsequenzen nach, die mein universitärer Hintergrund für meine Rolle als Geschäftsführerin haben könnte. Neugierde und ein gewisses Maß an Selbstverleumdung, mehr brauchte es nicht: Let’s Yalla wurde gegründet.
Das war vor gut einem Jahr. Seitdem habe ich zusammen mit meinem Mitgründer, der als Elektroingenieur sehr wohl dem oben gezeichneten Klischee des Gründers entspricht, ein Unternehmen aufgebaut, eine App entworfen, entwickelt und getestet, erste User in den Urlaub geschickt und die Startup-Szene erkundet. 

Gerade die Erfahrungen in diesem Umfeld haben mich staunen lassen und in mir erstmals die Frage aufgeworfen, ob eine Geisteswissenschaftlerin wirklich geeignet ist, ohne wirtschaftliche oder technische Hintergrunderfahrung zu gründen. Allzu oft findet man sich in Gesprächen über das richtige UI der App, backend bugs oder den Unterschied zwischen nativen und web-based Apps wieder, in denen man nicht nur den Faden verliert, sondern gleich verständnislos das ganze Knäuel in den Händen hält. Selbiges passiert bei Themen wie dem deutschen Steuerrecht, der Entwicklung des rechtlichen Setups einer Reiseapp oder beim Aufsetzen der Landing Page des eigenen Unternehmens. Wenn dann andere Gründer bei der Antwort auf die Frage nach dem eigenen universitären Hintergrund – Lehramt! – noch milde und mitleidig lächeln, stellt man sich durchaus die Frage:
Bin ich hier wirklich richtig? Trifft das aktuelle Tun die eigene Berufung? Kann man als Geisteswissenschaftler in diesem Umfeld seine Stärken tatsächlich einsetzen? 

Die Antwort: ja – und vielleicht steht man sogar genau an der richtigen Stelle! Denn was können wir? Wir können präsentieren, vermitteln, erklären. Wir können uns intensiv mit den abwegigsten Themen beschäftigen und haben uns während des Studiums durch ellenlange, einschläfernde Texte gequält, aus denen wir doch Kernaussagen herausfiltern konnten. Wir arbeiten uns schnell in neue Themenbereiche ein und sind geschult im Erläutern, Veranschaulichen, Diskutieren und Widersprechen. Wir können schreiben, mit Präsentationsprogrammen umgehen und unsere Arbeit selbständig und (einigermaßen!) fristgerecht organisieren.
Kurzum: Wir haben Handwerkszeug, das jeder Entrepreneur benötigt. 

Wie oft findet man sich als Gründer in Situationen wieder, die geisteswissenschaftliche Eigenschaften erforderlich machen? Situationen, auf die im BWL- oder Ingenieursstudium definitiv nicht vorbereitet wird; Geisteswissenschaftler aber haben bereits Erfahrungen gesammelt. 
So muss beispielsweise das eigene Projekt erklärt werden, sei es in einem 2-Minuten-Pitch, sei es in einer Präsentation vor Investoren oder einem Publikum; Präsentationskenntnisse sind hier gefragt. Komplizierte technische Vorgänge müssen vor Partnern auf ein verständliches technologisches Minimum heruntergebrochen werden – hier hilft, dass man selbst ab einem gewissen Level nichts mehr versteht. Dem Entwickler muss in einfacher Darstellung vermittelt werden, wie die App zu funktionieren und auszusehen hat. Gleichzeitig muss aus seinem technischen Kauderwelsch die Kernaussage – “Das funktioniert so nicht.” – herausgelesen werden. Networking-Events wollen durchgestanden und mit Geduld noch die unnötigste Frage beantwortet werden (hier hilft die Praxiserfahrung als Lehrer ungemein!). Und last but not least, das Unternehmen muss der Öffentlichkeit gegenüber vertreten werden: mit freundlichem Gesicht und einer offenen, zugänglichen Art. Die Arbeit mit dem Gegenüber zählt.
Also: wer könnte das besser als wir Geisteswissenschaftler? Zusammen mit der technischen Expertise von Mitgründern kann sich so ein in vielen Bereichen erfolgreiches Gründergespann entfalten, dessen Tätigkeit auf verschiedenen Arbeitsmethoden, Perspektiven, Meinungen und Herangehensweisen basiert. 

Und dann gibt es da noch den Aspekt der weiblichen Gründer. Aktuell ein Thema im Kommen, dennoch fühlt man sich manchmal allein auf weiter Flur. All den Förderprogrammen, all den Beschwörungen weiblicher Fähigkeiten und all der Berichterstattung zum Trotz gibt es noch weit zu wenige Frauen als Gründerinnen, gerade im App-Bereich
Und doch lässt sich das Frau-Sein gerade hier klug funktionalisieren: indem man echte oder versteckte “Frauenquoten” nutzt, sich gezielt nach speziellen Förderungen umsieht oder auch nur an der richtigen Stelle einen Kommentar diesbezüglich fallen lässt. Vieles ist aktuell möglich – sogar eine Lehramtsstudentin in der Geschäftsführung eines Reise-Startups. 

Wir Geisteswissenschaftler(innen!) müssen lernen, nicht nur anderen, sondern auch uns selbst unsere weitreichenden Fähigkeiten glaubhaft zu machen. Denn wir sind gerüstet für die Zukunft einer neuen Arbeitswelt – oft besser, als wir selbst erwarten. 

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