Foto: Foto: Antje Wonneberger

Als ich mir bewusst wurde…

„Alles ist besser, als diese Gefühlslast. Alles ist besser
als dieses körperliche Leiden.“ beschloss ich.
Ich machte einen klaren Cut. Ich trennte mich. Und ging.

Das war 2014. Der Anfang einer Reise. Einer Reise auf neuen Wegen. Eine Reise wohin auch immer.

Ich schreibe über meine persönliche Geschichte, meiner 8 jährigen Beziehung mit Vergewaltigung und Psychospielchen. Ich erzähle euch von der Trennung, meiner posttraumatischen Belastungsstörung, der Therapie, der Verarbeitung jener Erlebnisse. Meinem Weg zum Feminismus. Meinem Weg im Feminismus. Die sich mir stellenden Hürden und die mir mitgegebenen Geschenke der Grenzerfahrung.

Und Warum? Weil ich eine* von vielen bin. Weil Offenheit und Mut ein Werkzeug ist. Ein Werkzeug, dass jede*r hat und mehr genutzt werden sollte.

*Triggerwarnung

 

Tagebucheintrag 14.01.2013:

„Es gibt Schlimmeres …“

Eigentlich wollte ich früh ins Bett, denn ich muss morgen ja relativ zeitig
raus. Und nun? Nun schreibe ich mit mir selbst, liege mit Übelkeit und
Bauchrumoren wach. Immerhin sind es keine ausgewachsenen Krämpfe, aber ich habe es satt. Satt …jaaaaa, das bin ich oft, nicht im eigentlichen Sinn, aber im
metaphorischen. Meine Nerven liegen blank. Die Tränen laufen in letzter Zeit
öfter mal, einfach so. Ich dachte ja, die Diagnose Laktose-, Fructose- und
Sorbitintoleranz wäre der Startschuss für das Ende des Leidens. Ende von
Magenspiegelung, Darmspiegelung und Atemtests. Ein Ende des ständigen Schiebens der Probleme auf Helicobakter Pylori oder sogar auf meine Psyche. Aber irgendwie ist dem nicht so. Im Gegenteil, es ist ein ständiges Auf und Ab. Ein Herumprobieren und Austesten inklusive Ernährungsberatung, die offenbar nichts bringt.

Ich war immer eine Naschkatze und nun macht mir das Essen
überhaupt keinen Spaß mehr. Viel Gemüse und Obst essen, so wie damals, ist
nicht mehr drin. Jetzt verursachen schon 200 g gekochte Möhren Darmgrummeln und Unwohlsein. Kartoffeln, Maiswaffeln, Reis und Avocado sind Sachen, die ich vertrage und die mir nun langsam zu Halse raushängen. Ich war noch nie der große Fleischesser. Unterdessen wird sich mein Magen wohl so sehr verkleinert haben, dass jede normale Mahlzeit unangenehmes Völlegefühl verursacht. Ich wiege nur noch 48 kg und könnte etwas mehr Nahrung dringend vertragen.Doch dann kommt wieder die Angst. Ist es jetzt nur das Sättigungsgefühl oder habe ich in 2 Stunden wieder Blähungen, Krämpfe, Rumoren oder gar Durchfall und die grauenhafte Übelkeit?

Ich dachte immer, ich kann das auseinanderhalten, aber auch diese
Fähigkeit scheint mir verloren gegangen. Durchfall hat da manchmal sogar was
Gutes, dann ist das „böse“ gesunde Zeug raus aus dem Bauch und es wird
hoffentlich schnell besser. Unterdessen werde ich das Gefühl nicht los immer
neurotischer, zu werden. Ich habe nicht nur keinen Spaß mehr am Essen, ich habe teilweise Angst davor oder dem, was danach kommt. Noch schlimmer ist es abends und nachts, wenn ich ohne ersichtlichen Grund wieder von dieser furchtbaren Übelkeit, wie bei einer Magen-Darm-Grippe, geweckt werde.
Krank oder? Das war nicht immer so. Das hat sich entwickelt. Grund für manche Ärzte zu glauben ich sei essgestört oder irgendwie psychisch belastet.

Es belastet ja nicht nur mich, sondern auch Janus, mein
armer Mann. Ständig jammere ich und keuche wegen der Schmerzen und Übelkeit.
Ich habe keine Lust auf Sex oder sonstige körperliche Aktivität, weil ich immer
wieder mit Krämpfen oder Übelkeit kämpfe. Ich sage schon nach dem Essen,
innerhalb der nächsten 3 Stunden aus Prinzip „Nein.“, weil ich lieber „zur
Vorsicht“ erst mal abwarten will, ob ich Probleme vom Essen bekomme. Ich meine was sollte diese „Vorsicht“ schon bringen? Entweder mir wird schlecht oder nicht, entweder ich bekomme Krämpfe oder nicht. Mein ganzer beschissener Alltag ist schon davon eingenommen. Ich bin ein Nervenbündel, völlig unentspannt und gereizt ohnehin.

Kommt mir mein Freund oder irgendjemand mit Bedürfnissen,
fällt es mir momentan schwer nicht genervt davon zu sein. Der Gedanke „Komm mir nicht damit, es gibt echt schlimmeres … zum Beispiel nicht ESSEN ZU KÖNNEN!!!“ läuft bei mir dann in Dauerschleife. Weggehen mit Freunden – und ich liebe meine Freunde, Sie machen mich glücklich und bringen mich zum lachen – macht auch kaum noch Spaß. Sie knabbern vor sich hin und trinken Ihr Bierchen oder Wein. Ich bestelle mir am Abend 3 Kamillentees und habe schon Angst, dass etwas passiert, wenn ich Salzstangen knabbere. Armselig.

Ich traue mich ja nach dem Essen schon oft gar nicht mehr aus dem Haus, aus Angst mein Bauch rumort unterwegs und nirgends ist eine Toilette in Sicht. O.k., ich jammere gerade echt viel. Ich könnte es schlimmer haben und Hunger leiden, weil es kein Essen gibt, weil ich in der Dritten Welt aufwachse. Ich könnte obdachlos sein, ohne Job und ohne Perspektive. Schlimmer geht immer. Fakt ist nur, ich HABE EIN PROBLEM und ich weiß nicht, wie ich darüber Herr werden soll. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll und woher ES rührt.

Foren sind nett zu lesen, aber da tummeln sich, so wirkt es jedenfalls, jede Menge Leute mit demselben Problem und ebenfalls keiner richtigen Lösung. Es deprimiert eher noch mehr, zu lesen, dass einige seit 10 Jahren Intoleranzen kämpfen und immer noch nicht Ruhe eingekehrt ist. Bücher über Bücher gibt es und jedes sagt etwas anderes. Das ist doch zum Mäusemelken oder? Mal ehrlich, wer wäre da nicht genervt und gewillt mal ordentlich zu jammern?

Meine Ernährungsberaterin, freundlich bezahlt über die Krankenkasse, zieht auch nur Ihr Standardprogramm durch. Nette Frau, nur hilft mir ein: „Das dürfte aber nicht sein. Das verstehe ich nicht.“ auf mein:  „Ich habe mir Milchreis mit Traubenzucker und Laktosefreier Milch gemacht und danach Durchfall“ bringt mich auch nicht weiter.

Abgesehen mal davon, dass ich Milchprodukte liebe, ist das
noch das geringere Problem. Die Fructose ist viel übler. „Sie dürfen Möhren und
Kohlrabi essen … na klar das vertragen sie.“ Und dann esse ich zum Test 200 g
Möhren und danach rumort mein Bauch, als gäbe es kein Morgen mehr. Nur Hungergefühlsgrummeln?
Hm nein, eher nicht.

Ich habe noch keine Ahnung, was mir das Aufschreiben
überhaupt bringen soll. Vielleicht hat mich auch nur „Sex and the City“, was
gerade auf SIXX läuft, dazu gebracht, jeden noch so kleinsten und hirnrissigen
Gedanken aufzuschreiben als sei es eine gut recherchierte Kolumne, die andere
Menschen interessiert. Natürlich ist das nicht so, denke ich.

Aber hey, es lenkt wenigstens ein bisschen vom Bauchgrummeln
und der Übelkeit ab…

WARUM…?

Auch damals habe ich mich schon gefragt warum, ich mit diesen Bauchproblemen zu tun habe. Ich fragte mich auch, woher, das rührt. Ich habe mich selbst als „neurotisch“ und „Nervenbündel“ bezeichnet.
Aber die Psyche als triftiger Ansatzpunkt für all das körperliche Leiden kam
als Möglichkeit partout nicht infrage. Es wäre jedoch die logische
Schlussfolgerung gewesen. Keine Auffälligkeiten bei der Magenspiegelung, keine
Ungereimtheiten bei der Darmspiegelung. Ein paar Intoleranzen, die man bei Stress, schweren Krankheiten und OPs entwickeln kann. Keine schwere Krankheit oder OP gehabt. Also konnte es ja nur Stress, meine leidende Seele sein. Aber das habe ich verdrängt.

In der Disziplin namens Verdrängung war ich Meisterin! Ich schob es auf den Studienstress, das Diplom, die ständigen Diskussionen mit dem Arbeitsamt
und meinen Weg in die Selbstständigkeit. Bis ich berufsbedingt zu Sommerfestspielen fuhr und selten zu Haus war. Mir ging es weit weg von zu Haus blendend! Trotz Arbeitsstress, trotz Selbstständigkeit. Merkwürdig war es, dass ich immer Bauchstechen bekam, wenn Janus sich zu Besuch ankündigte. Immer wenn er da war, hatte ich wieder Bauchprobleme. Mal mehr Mal weniger. „Komisch“, dachte ich mir. „Wir haben so unsere Auseinandersetzungen und manchmal bringt mich Janus tierisch auf die Palme, aber das ist ja normal in einer Beziehung“, sagte ich mir.
„Wenn er jetzt einen tötlichen Autounfall hat oder an einer lebensbedrohlichen Erkrankung stirbt, würde ich ihn schon vermissen“, malte ich mir aus und meinte damit der Beweis zu haben, dass alles o.k. sei und ich ihn wirklich liebe. Diese harten Gedanken fand ich kein bisschen bedenklich.


Und WOHER…?

Und dann war da Noah. Beruflich kennengelernt, ein guter Berater. Wir gingen mal zusammen auf dieselbe Schule. Hatten aber eigentlich nie wirklich etwas
miteinander zu tun. Über die alten Schulzeiten tauschten wir uns neben Unternehmensberatungsthemen aus. Wir stellten Parallelen und Schnittstellen in unseren beiden Lebensläufen und Lebenseinstellungen fest. Wir schrieben und bis tief in die Nacht Nachrichten. Kurz und emotional ausgedrückt: Es entwickelte sich eine unglaublich enge und wohltuende Freundschaft. Da meldeten sich auf einmal Sehnsüchte. Nach einem Partner, der mich ein wenig bewundert und mir sagt, dass ich beruflich echt viel leiste. Nach einem Partner, der gern mit mir gemeinsam kocht, anstatt 23 Uhr, wenn ich von Arbeit komme, zu fragen, was es zu Essen gibt.
Nach einem respektvollen Gesprächspartner. Nach einem Romantiker. Nach so vielen Dingen mehr. Oh, diese Sehnsüchte waren auch vorher schon da. Aber die wurden mit Gedanken, wie: “Wenn ich bewundert werden will, muss ich mehr leisten. Eine Beziehung ist auch Arbeit. Janus ist halt nicht so der Koch. Eine Beziehung ist nicht immer perfekt. Ich bin ja auch nicht perfekt, also kann ich es von Janus ebenso nicht erwarten. Romantik ist eine Illusion, Realismus ist besser.“ beiseitegeschoben.

Die Gedanken und Gefühle konnte ich gut beiseiteschieben. Wie schon erwähnt,
ich war Meisterin in Verdrängung. Nur gab es da eine Sache, die immer auffälliger wurde.
Ich war beruflich unterwegs: Mir ging es gut. Ich musste bald nach Hause: Der
Bauch meldete sich lautstark. Da ploppte ein Satz von Ofelia, aus meiner Kochrund, in meinem Kopf auf: „Vielleicht ist es ja doch was Psychosomatisches?“. Das fragte sie mich mal bei einem gemeinsamen Kochabend, an dem ich natürlich nichts essen konnte.

Die „WAS WÄRE, WENN…?“ – Lawine

Ich belächelte diesen Satz an jenem Abend mit: „Ach Quatsch, mir geht’s es doch gut!“ Doch diese Frage wurde immer lauter. Wie eine Sirene schrillte sie in meinem Kopf. Und langsam schlich sich die Frage „Was wäre,
wenn es doch so ist?“ ein. „Was wäre, wenn die Beziehung mit Janus das Problem ist?“ und „Was wäre, wenn ich mich trenne und von all den Bauchschmerzen, der Mattheit, der Übelkeit, den Durchfällen und alledem befreit wäre?“ Eine Lawine an unbeantwortbaren „Was wäre, wenn“-Fragen brach in mir los und überrollte mich. Tage und Woche vergingen und ich hatte das Gefühl unter Ihrer Last zu ersticken. Ich wollte nicht nach Haus. Ich wollte arbeiten und unterwegs sein so oft es ging. Der Gedanke an zu Haus brachte mir unmittelbar Übelkeit. Jeden Abend vor dem zu Bett gehen, fühlte ich mich hundeelend. Ich schloss mich regelmäßig ein und nahm ein hoffentlich beruhigendes Bad. Ein reinigendes Bad. Was für die Seele. Ich fühlte mich wie eingepfercht, sobald ich zu Janus ins Bett stieg. Ich ekelte mich vor ihm. Ich konnte nicht schlafen, denn dieses „Was wäre, wenn…“ ließ mich nicht los.

Völlig egal, dass ich damals den wahren Grund für die Trennung
noch nicht klar sah. Absolut unwichtig, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte,
wohin ich überhaupt wollte.

„Alles ist besser, als diese Gefühlslast. Alles ist besser
als dieses körperliche Leiden.“ beschloss ich.

Ich machte einen klaren Cut.

Ich trennte mich.

Und ging.

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„Es ist Tagaus und Tagein, einfach Tagein und
Tagaus
Wie dieser Marathonlauf um den Platz an der Sonne
Und wir tragen ihn aus auch wenn wir niemals ankommen
Wir schlagen uns auch dazu die Nacht um die Ohren
Um nicht zu vergessen, zu wissen, sonst geht alles verloren
Wir haben es schon vor jenen Jahren gewusst
Das ist das hier und das jetzt, ist der erhabende Stuss
Der für uns die Welt ist, der für uns zählt und das fällt nicht
Mal so sehr aus dem Rahmen wie wir immer dachten
Es ist alles ganz einfach Kein Drama
Da ist er, der Wind, die Möglichkeit eines Lamas
Die nächste Phase, der nächste Abschnitt dieser endlosen Straße

Diese Straße, sie führt dich irgendwo hin
Vielleicht führt sie dich aber auch nirgendwo hin
Aber Nirgendwo muss ja auch irgendwo sein
Und irgendwann findet jeder mal Heim.“

(Frittenbude – Die Möglichkeit eines Lamas)

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