In ihrem Buch „Betrachtungen einer Barbarin“ taucht Asal Dardan in Erinnerungen und gesellschaftspolitische Diskurse über Identität, Heimat und Traditionen ein. Nebenbei zeigt sie uns, wie wir Differenzen im Zusammenleben aushalten können.
„Zivilisationen, Kulturen, Nationen entstehen nicht getrennt, sie werden nur getrennt voneinander erzählt“, schreibt Asal Dardan. Kaum etwas bestimmt die aktuellen Debatten um Identitäten so sehr wie die Nicht-Orte Herkunft oder Heimat. Nicht zuletzt, weil beide die Identität eines Menschen prägen können und auch Einfluss darauf haben können, welchen Widrigkeiten man im Leben begegnet und welche Chancen einem zugestanden werden. Asal Dardan beschreibt in ihrem Essayband „Betrachtungen einer Barbarin“ das Gefühl der Fremde und die Suche nach Zugehörigkeit und erzählt von den Orten, die irgendwo dazwischen liegen. Sie begibt sich auf die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, nach der Überbrückung des Gegensatzes von „Wir“ und den „Anderen“.
Als Kind iranischer Eltern ist Asal Dardan in Deutschland aufgewachsen. Ihr Vater arbeitete unter dem Schah für den iranischen Geheimdienst, nach der Revolution flüchtete die Familie nach Deutschland. Asal Dardan war damals ein Jahr alt. Die Erfahrung des Exils hat sie geprägt: „Meine Flucht ist eine Erzählung, keine Erfahrung“, schreibt sie, „Ich selbst habe kein Zuhause verloren, dennoch fällt es mir schwer, mich zugehörig zu fühlen.“
„Zivilisationen, Kulturen, Nationen entstehen nicht getrennt, sie werden nur getrennt voneinander erzählt.“
Asal Dardan
Immer wieder lässt Asal Dardan biografische Schnipsel wie diese mit gesellschaftlich-politischen Themen verschmelzen. In zehn dichten Kapiteln zeigt Asal Dardan eines ganz deutlich: Zusammenleben bedeutet, Differenzen auszuhalten.
Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem Kapitel „Nährboden“:
Ich wohne in einem Haus, das nicht mein Haus ist und in dem sich lauter Dinge befinden, die nicht meine Dinge sind: Suppenschüsseln in Entenform auf dem Bücherregal, ein Dutzend aussortierte Brillen in der Schreibtischschublade, drei zerbrochene Ferngläser an einem Wandhaken im Esszimmer, alte Bonbondosen mit unzähligen Knöpfen, die irgendwann von den Kleidungsstücken anderer Menschen abgefallen sind. Menschen, die vor mir hier lebten und die ich zum größten Teil nie kennengelernt habe. Das Haus ist seit drei Generationen im Familienbesitz der schwedischen Großmutter meiner Kinder. Heute ist es ihr Haus, im Grunde ihr Museum, das sie ihrer Familiengeschichte gewidmet hat. […]
Das Eigenheim, ein Museum
[…] Ich vermute, dass die schwedischen Vorfahren meiner Kinder über Generationen hinweg Techniken und Methoden weitergereicht haben, um ihre Möbel und Gegenstände zu pflegen, mit ihnen zu leben. Bei mir ist das alles nicht angekommen, ich lebe bloß um die Möbel herum, in der Hoffnung, ihnen so wenig Schaden wie möglich zuzufügen. […]
[…] Die sentimentale Bindung von Menschen zu ihren Gegenständen und Orten beschäftigt mich oft. Es fällt mir schwer zu sagen, ob ich sie für den Halt, den ihnen dieses Gefühl gibt, beneide oder für die Begrenzung, die es mit sich bringt, bedauere. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob ihr Selbstverständnis auf Ursprung und Familiengeschichte, auf Tradition und Kontinuität ruht oder sie vornehmlich mit all dem hadern. Heimat als Vexierbild – mal dies und mal das und nie bloß das eine.
Respekt und Liebe
Die schwedische Großmutter meiner Kinder und ich, wir könnten Figuren in solch einem Vexierbild sein. Unsere Biografien sind genauso unterschiedlich wie unsere Persönlichkeiten. Wir sind uns in fast allem ein gegenseitiges Rätsel: Da, wo ich expansiv bin, geht sie ins Detail, wo ich laut werde, wird sie leise, wo ich nichts sehe, sieht sie alles. Während ich mich wie ein Kind freue, wenn frühmorgens ein Frettchen über die Steinmauer huscht oder Rehe nachts die heruntergefallenen Äpfel fressen, kann sie mit dieser Art der Landromantik nicht viel anfangen. Ihre Verbindung zu ihrem Geburtsort ist nur dann demonstrativ, wenn sie bei ihren Besuchen in der Großstadt Tüten mit den berühmten Öland-Kartoffeln und Zwiebeln dabeihat. Sie findet solch ein Mitbringsel praktisch, immerhin sind es die besten Kartoffeln und Zwiebeln Schwedens. Alle Beteiligten schweigen aus Respekt und Liebe.
Tatsächlich hat sie die meiste Zeit ihres Lebens nicht auf Öland, sondern in England und Italien verbracht, aber es ist, als wäre auch sie ein Gewächs dieses Bodens. Vermutlich führen wir aus diesem Grund auch den leidenschaftlichsten Kampf unserer Beziehung um die Frage nach Reis oder Kartoffeln: Sie schneidet mir Zeitungsartikel über den Arsengehalt von Reis aus, während ich mich darum drücke, Kartoffeln zu kochen. Wir haben uns einander nicht ausgesucht, aber meistens mögen wir die Herausforderung, einen Menschen so nah zu erleben, der sich ganz anders zur Welt verhält. Schließlich muss man das Rätsel des anderen nicht lösen, um ihn zu sehen.
Ich weiß, dass sie ihr Haus sehr liebt und vermisst, und ich fühle mich schuldig, dass ich darin wohne und es ganz und gar nicht liebe. Es ist ein biografischer Treppenwitz, dass ich als Mutter lebe, wie ich es mir als Kind ausgemalt habe, mit Garten und Treppe und Erbstücken, und mich davon erdrückt fühle. Man kann sich nicht einfach so in ein anderes Leben schmuggeln, auch wenn man ein Teil davon geworden ist so wie ich, die Mutter schwedischer Kinder.
Eine unversiegbare Quelle?
Meine Söhne wissen nur sehr wenig über mein Leben vor ihnen, meinen Geburtsort und meine Muttersprache. Sie sind noch zu jung, um sich dafür zu interessieren, weshalb Länder verschiedene Namen tragen und Menschen unterschiedlich aussehen. Sie singen die Kinderlieder, die man ihnen beibringt, und feiern die Feiertage, die sie in der Schule und zu Hause kennenlernen. Es sind zum größten Teil dieselben, die auch die Kindheit ihres Vaters und ihrer schwedischen Großeltern geprägt haben. Ich fühle keine Konkurrenz, weil ich ohnehin keinen Zugriff auf die Lieder und Feiertage meiner Kindheit habe. Der Ort, an dem ich geboren wurde, und die Sprache, die ich als erste lernte, haben nicht viel mit der Mutter zu tun, die ich heute bin.
Gelegentlich habe ich den Eindruck, diese beiden kleinen Menschen sehen in mir eine Oase, eine unversiegbare Quelle, die ihnen ganz selbstverständlich ausreichend Nahrung und Schatten liefert und sie vor der Wüste, die sie umgibt, schützt. Ich möchte gern diese Oase für sie sein, aber ich existiere auch jenseits meiner Pflicht für sie. Ich frage mich, woraus diese Quelle besteht und ob sie ausreicht, um andere dauerhaft nähren und schützen zu können.
Hätte das Haus ein Bewusstsein und die Fähigkeit, sich zu erinnern, käme ihm das alles bekannt vor. „Du bist keine Ausnahme“, würde es mir zuflüstern. Doch das Bewusstsein habe nur ich, selbst wenn die Erinnerungen, die in diesem Haus zu finden sind, nicht mir gehören. Ich spüre nicht die Präsenz der Frauen, die hier vor mir gelebt haben, ich glaube nicht an gefangene Seelen und heimgesuchte Zimmer. Aber ihre eingerahmten Gesichter hängen überall an den Wänden, in gewisser Weise sind sie also doch hier bei mir.
Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin, Hoffmann und Campe Verlag, 2021, 22 Euro.
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