Foto: Karina Vorozheeva | Unsplash

Was ist das eigentlich, das gute Leben?

Wann empfinden wir unser Leben als gut und gelungen? Die Wissenschaft ist sich einig, dass die Frage nicht pauschal beantwortet werden kann – zu vielseitig sind die persönlichen Vorlieben, Talente und Interessen. Wo können wir also beginnen?

 

Globehopping statt Globetrotting

Der Generation Y liegt die Welt zu Füßen. Noch nie war es so einfach und billig, zu reisen. Lonely Planet und das Angebot im Internet lassen wenig Platz für Abenteuer und gefährliche Expeditionen, wie man sie aus der National Geographic von 1965 kennt. Als Backpacker von Hostel zu Hostel jagen, je mehr Länder und Stempel im Pass, umso besser – der perfekte Sonnenuntergang für Facebook und die Insta-Story. Denn ohne Beweis macht das Reisen ja keinen Sinn. 

Ich nenne es das Welt-Reichweiten-Erweiterungsprogramm und es ist eine niemals endende Aufwärtsspirale. Als Kleinkinder entdecken wir die Welt um uns herum zu Fuß, die Reichweite ist begrenzt. Zuerst erkunden wir den Spielplatz um die Ecke, später mit dem Fahrrad den Wald am Stadtrand und dann mit 16 mit dem Moped zu einer Party ins Nachbardorf. Und so weiter und so fort …

Was macht diese Aufwärtsspirale mit uns? Der Soziologe Hartmut Rosa beschäftigt sich seit Längerem mit der Beschleunigung der Welt und der Antwort darauf: der Entschleunigung. Doch die hält er nicht für die Lösung, die Menschen guttun würde. Er schlägt den Begriff der Resonanz vor, die Weltbeziehung eines Individuums. Rosa fragt dabei: Erfährt der Mensch Resonanz oder steht er entfremdet in einer abweisenden, stummen Welt? Für die Gewinner*innen des Wandels unserer Gesellschaft erweitere sich somit das Resonanzfeld, es geht ihnen gut, für die Verlierer*innen komme es zur Entfremdung, sie finden sich nicht mehr zurecht.

Du bist individuell. Wie jeder in Berlin. 

Wie interagiere ich mit der Welt? Ich sitze im Cafè und trinke Kaffee. Das macht man so in Berlin. Ein Mann kommt auf mich zu. Er trägt eine alte Jeansjacke, zerlöcherte Hosen und hat einen Irokesenschnitt. Er fragt mich, ob ich 50 Cent für ihn habe. Ich krame in meiner Tasche. 50 Cent habe ich tatsächlich. Ich gebe sie ihm. Er gibt mir daraufhin drei 10-Cent-Stücke und ein 20-Cent-Stück. Ich schaue etwas verwirrt. Damit habe ich nicht gerechnet. Warum? Dafür gibt es drei Gründe:

1. Der Mann sieht etwas schmuddelig aus: Schwarze Jeansjacke, Irokesen-Schnitt, abgenutzte Sneaker. Das muss ein Obdachloser sein, denke ich.

2. Seine Formulierung „Haben Sie vielleicht 50 Cent?“, ließ mich schlussfolgern, dass seine Absicht nicht das Wechseln von Kleingeld war.

3. Weil ich offensichtlich zu der Sorte Mensch gehöre, die sich vom äußerlichen Erscheinungsbild anderer Menschen beeinflussen und zu vorschnellen Urteilen hinleiten lassen. Ich schäme mich ein wenig.

Letzter Grund gab mir zu denken. Bin ich nach drei Jahren Berlin, 26 Kurkuma-Lattes und 80 Yoga-Sessions auch zum Opfer der urbanen Hipster-Blase geworden? Bin ich auch einer der Menschen, die denken: „Du bist so individuell“? Wie jeder in Berlin?

Wegschauen ist wie Hinschauen, nur krasser 

Gestern stritt sich ein junges Paar lauthals in der U-Bahn-Linie 6. Der Typ drückte seine Freundin unsanft gegen die Glasscheibe. Beide waren offensichtlich betrunken. Ich schaute mich um. Keiner schien die Konversation mitzubekommen. Zumindest schließe ich darauf, da das manische Starren auf Displays  zu einem gesellschaftlichen Code für „Sprich mich nicht an“ oder „Ich kriege nichts mit“ geworden ist. Das funktioniert auch immer, wenn ein*e Obdachlose*r die „Motz“ verkaufen will, ein Musiker*innen-Trio notdürftig die ersten zwölf Takte von „Hit the road Jack“ spielt oder sich eben irgendwo ein Streit anbahnt. Schnell ganz wichtig etwas ins Smartphone eintippen, dann weiß jeder, dass ich unpässlich bin. Ich stelle mir dann immer vor, wie Menschen, nur um beschäftigt auszusehen, ihren Wecker einstellen, etwas Sinnloses in die Tastatur eintippen oder den letzten Chat auf WhatsApp noch einmal lesen.

Wie sind Menschen eigentlich U-Bahn gefahren, als es noch kein Display als Realitätsflucht und gelegene Ausrede gab? Waren sie einfach netter und sozialer, weil sie es mussten? Sind wir heute eigentlich von der Welt entfremdet, während wir glauben, so viel mitzubekommen?

War das schon alles? 

„Gibt es vielleicht noch etwas Besseres?“ Diese Frage ist nicht nur beim Dating-Alltag in Berlin prominent. Beim Einkaufen müssen wir uns zwischen 38 Shampoo-Sorten entscheiden und an der Humboldt-Universität in Berlin gab es zuletzt 223 Studiengänge. Die Masse an Optionen scheint Aushängeschild für ein neues Zeitalter zu sein. 

So richtig nach Ankommen fühlt sich das alles nicht an. Bei meinen Eltern war das noch anders: Weniger Möglichkeiten, mehr echte Probleme. Nach dem Sinn des Lebens zu fragen, bleibt wohl ein Luxus, der uns „Millennials“ vorbehalten bleibt. Ob das so gut ist, sei dahingestellt. In der Nachkriegszeit war der Sinn des Lebens, dass man was zu spachteln hatte. Der Luxus sich zu erlauben, zu fragen „Wofür bin ich auf der Welt?“ kam da eher selten auf.

Ist es also Langeweile, die uns an unserer Existenz zweifeln lassen? „Wenn du anfängst, dich zu langweilen, solltest du etwas anderes machen mit deinem Leben“ – so oder so ähnlich trichtern es uns die Medien und unser Umfeld ein.

Meinst du, die Welt erwartet etwas anderes von dir? 

Die meisten möchten etwas Wichtiges tun in ihrem Leben. Und dann gibt es da diese Lücke: Wissenschaft, Religion und Medizin haben viele Antworten. Aber eben nicht Antworten auf alles: Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es einen Gott? Wozu sind wir hier? Wie werde ich glücklich?

Wir alle zimmern uns unsere Relevanz und Daseinsberechtigung zusammen, wie sie uns passt. Sei es nun Selbstinszenierung, Narzissmus oder der pure Drang nach Anerkennung. Manche füllen diese Lücke mit einem Kind, einem teuren Sportwagen, einem noch teureren Hobby oder einer spirituellen Weltreise. Vielleicht geht es ja am Ende gar nicht darum, einen Plan zu haben. Das Leben hält sich ja doch nicht daran. Ich würde mir wünschen, dass wir nicht länger in einer Gesellschaft leben, in der ein 55-jähriger Mann sagen muss: „Noch zehn Jahre schaffen, dann fängt mein Leben richtig an.“

Manchmal lohnt es sich einfach,  dankbar zu sein, für die Dinge, die man bereits hat. Unsere Generation sollte nicht erst die Welt bereisen müssen, um das Privileg von Heimat, Demokratie und Sicherheit wertschätzen zu können. Wir können die Welt auch erfahren, wenn wir nur um uns blicken.

Ein guter Anfang wäre es, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Dankbarkeit zu zeigen für kleine Dinge. Nie die Neugier zu verlieren – denn ohne Neugier lernen wir nichts mehr dazu. Fehler zuzulassen und zu machen. Lust auf die Liebe haben, vor allem für uns selbst. Vielleicht ist das ja schon das gute Leben.

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