Warum es in diesen wirren Zeiten vollkommen okay ist, unsicher zu sein und noch nach einer Meinung zu suchen.
Zu viel Unglück in zu kurzer Zeit
Nizza, Türkei, Ansbach … und mein geliebtes München. Überall knallt’s. Viel zu schnell hintereinander. Wir kommen nicht mehr nach mit dem Trauern, uns fürchten, uns aufregen, uns fragen, verzweifelt sein, weinen.
Wie geht es dir in den letzten Wochen damit?
Mich strengt es sehr an, ich ziehe mich viel zurück, bin stumm. Aus vielen Gründen: Ich verstehe vieles nicht. Es geht so rasend schnell: Ich hab gerade erst wieder Luft geholt nach den 45 Sekunden (!!!) Todesfahrt des Lastwagentäters aus Nizza, da putscht die Türkei. Gerade mal einigermaßen gefühlt genügend darüber gelesen und gehört, passiert schon das nächste Grauen – und dieses Mal so verdammt nah. Nämlich in meiner Heimatstadt München. Laut Google liegen zwischen dem Tatort und meinem derzeitigen Wohnort 27 km.
Ja, wir stumpfen schon so ab (oder schützen uns innerlich?), dass uns weiter entfernt Liegendes nicht mehr ganz so fassungslos macht. Ich war oft im OEZ. Freunde berichten mir ein paar Tage später, dass deren 16-jähriger Sohn sich in dem McDonald’s, wo die Schüsse begonnen haben, oft mit Freunden trifft. Mein München!
Die Tränen darüber waren einigermaßen getrocknet, da kommt die nächste Katastrophe – ein bekannter und ganz wunderbarer Twitterer und Blogger nimmt sich das Leben, einen Tag lang wird nach seinem Abschiedspost via Twitter und Polizei nach ihm gesucht – dann die schreckliche Gewissheit. „Es hat nicht für ein ganzes Leben gereicht“, so die Worte des Twitterers H.
Schnelle Antworten helfen nicht
Wir sind unsicher. Haben Fragen. Verstehen die Welt nicht (mehr). Wir verstehen nicht, warum Menschen zu Terroristen und Amokläufern werden. Wir verstehen nicht, warum sich jemand umbringt, statt sich helfen zu lassen. Oder verstehen es eigentlich ganz gut und finden genau dies noch viel schrecklicher.
Und was tun wir – oder zumindest sehr viele? Wir basteln uns schnell Antworten, hören besonders gern denen zu, die vermeintliche Antworten haben, uns Schubladen anbieten, Täter und Gründe. Gut und Böse. Schwarz und Weiß. Die Geflüchteten und wir auf der anderen Seite. Depressive und Gesunde. Täter und Opfer.
Gewiss: Auch ich habe diese Sehnsucht nach einfachen Erklärungen. Damit würde es so sehr viel einfacher werden, mit dieser bekloppten Welt umgehen zu können. Schublade links auf, Ereignisse rein, Schublade zu – Schublade rechts auf, andere Ereignisse rein, Schublade zu. Fertig. Kopf wieder frei, Seele geordnet und befriedet. Wir wären uns sicher und gut is.
Leut, so einfach ists nur leider nicht. Die allerwenigsten Depressiven bringen sich oder andere um. Kaum ein Flüchtling ist eine Bedrohung für uns. Nicht jeder depressive Pilot steuert Hunderte von Menschen in den Tod in den Dolomiten. Nein, das war bislang nur ein einziger. Und nicht jeder LKW-Fahrer ist ein potentieller Mörder und erst recht kein Terrorist.
Nicht jeder Deutsche 1933 war Nazi. Nicht jede blonde Frau ist doof. Nicht jeder Mann ist ein Ekelmacho. Nicht jeder Verkäufer ist ein Marktschreier. Und nicht jeder, der im Gefängnis sitzt, ist ein böser Verbrecher.
Aushalten lernen
Ich glaube, das ist eine der größten und zugleich wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit:
Wir müssen lernen, das Verwirrende, das Unverständliche, das viel zu Vielschichtige, das Ungelöste und Unerklärliche auszuhalten! Und uns davor hüten, es uns zu einfach machen zu wollen und Menschen in Schubladen zu sperren.
Wir müssen es aushalten! Unsere Rat- und Hilflosigkeit. Unsere Unsicherheit. Und darüber reden. Dazu stehen! Und einander beistehen. Und wir müssen die, die dies tun, ernst nehmen. Und nicht maßregeln, dass sie sich dann doch bitte noch besser informieren sollten, dann käme die dezidierte Meinung schon.
Nein! Ich hab zu vielem keine dezidierte, klare Meinung. Weil ich zu wenig weiß. Weil ich zu wenig kapiere. Weil ich nicht in Köpfe gucken kann. Weil es mich zuviel Kraft kostet, immer weiter nachzudenken. Weil ich nur Mensch und nicht der liebe Gott bin.
Den einen ist es wichtig, sich noch mehr zu informieren, noch mehr zu recherchieren. Die anderen tauchen ab, gehen offline und tun sich einfach viel Gutes, um sich und die Seele zu schützen. Die einen ereifern sich und diskutieren viel. Die anderen sind stumm. Wieder andere plädieren dafür, auch die guten Nachrichten zu verteilen und seine Perspektive zu ändern. Manche weinen. Andere lenken sich ab. Die nächsten stumpfen ab und beschließen, das alles geht sie nichts an.
Versuchen wir, all dies nebeneinander stehen lassen zu können. Halten wir auch dies aus. Nehmen wir den anderen ernst, das reicht. Wir müssen sein Denken und Handeln nicht verstehen oder es ebenso tun – ernst nehmen und respektieren reicht. Versuchen wir, nicht zu werten (auch wenn wir das eigentlich jeden Tag tun, menschlich ist das!). Und versuchen wir immer wieder, nicht zu verallgemeinern! Und maßen wir uns nicht an, darüber zu urteilen, welches die „echten“ Probleme sind. Vor ein paar Tagen schrieb @verbockt auf Twitter:
Liebe Mitmenschen, gewöhnen Sie sich doch bitte „Es gibt Schlimmeres“ ab. Für manche ist auch ein kleines Problem eine richtig große Hürde.
Halten wir es aus. (Er-)tragen wir es. Gemeinsam. Der Weg ist da, wo die Angst ist – sagen die Indianer. Dann wird es leichter.
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