Foto: Leah Kunz, Collage: EDITION F

Ich bin ein Mensch, keine Marke!

Menschen werden oft von anderen Menschen in Schubladen gesteckt. Was aber, wenn sie da gar nicht reinpassen (wollen)? Gedanken zur persönlichen Ambiguitätstoleranz.

Liebe Follower*innen,

es fing an mit Sprühsahne. „Können wir die kaufen?“ fragte mich mein Kind im Supermarkt. Kein Bock auf Stress, dachte ich und nickte. Zack, Sprühsahne im Einkaufskorb. Da wusste ich noch nicht, wie dringlich dieser Wunsch ist. Ich wusste es, nachdem ich gezahlt hatte. Noch an der Supermarktkasse stehend, bat mich mein Kind: „Kannst du mir die Sahne in den Mund sprühen?” Der Blick und der Ton ließen keine andere Antwort zu als ein „Ja“. Ich stand also an der Supermarktkasse und sprühte meinem Kind Sprühsahne in den Mund.

Am Abend postete ich ein Foto der Sprühsahne mit einem Kommentar bei Instagram. „Ich bin die Mutter, die ihrem Kind an der Supermarktkasse Sprühsahne in den Mund sprüht.“ Das Echo ließ nicht lange auf sich warten: „Sprühsahne? Chemiecocktail straight aus der Fuckerindustrie?“ Der Kommentar kam von einer Person, die ich nicht persönlich kenne, aber durchaus digital schätze. Sie war offensichtlich schockiert. Und sie schrieb: „Du scheinst mir aus der Ferne so perfekt, dass der Sprühsahne-Moment ein echter Schocker war.“ Ich war schockiert.

Denn was ich nicht bin, ist Perfektion. Und ich möchte auch nicht so tun, als wäre ich perfekt. Eigentlich versuche ich mit meiner Arbeit als Journalistin und Autorin genau das Gegenteil: Ich möchte zeigen, dass wir alle unsere Schwächen haben. Und dass das auch okay ist. Reclaim Schwäche! Oder so. Ich will zeigen, dass wir alle in Klischees feststecken und der einzige Weg, aus ihnen herauszukommen ist, sie zu brechen.

Ich möchte nicht, dass hübsche Instagram-Fotos mit mir als Person oder mir als Autorin verwechselt werden. Abgesehen davon, dass Instagram nur einen Teil meines Lebens – nämlich meinen Job und ein paar meiner Gedanken – zeigt, bin ich auch sonst voller Ambivalenzen.

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Lass dir Mareices Brief vorlesen.

Ja, ich arbeite zu den Themen Inklusion und Gerechtigkeit – und trotzdem schaffe ich es nicht immer, alle Perspektiven mitzudenken. Ja, ich beschäftige mich mit verschiedensten Diskriminierungsformen – und doch schleppe auch ich einen verinnerlichten Rassismus und Leistungsgedanken mit mir herum, die ab und zu zum Vorschein kommen. Ich finde mich dann richtig doof. Aber auch das gehört zu mir.

Das Ertragenkönnen von Mehrdeutigkeit

Ich muss an ein Wort denken, das auch im aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs immer öfter vorkommt: Ambiguitätstoleranz. Es beschreibt das „Ertragenkönnen von Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, ungewissen und unstrukturierten Situationen oder unterschiedlichen Erwartungen und Rollen, die an die eigene Person gerichtet sind“.

Die Fähigkeit, Mehrdeutiges zu ertragen

Als Person, die mit bestimmten Themen in der Öffentlichkeit steht, erlebe ich immer wieder einen Mangel an Ambiguitätstoleranz. Ich werde in Schubladen gesteckt, ob ich will oder nicht. Wenn ich dann etwas äußere oder poste, was im Auge der Betrachter*innen nicht dazu passt, sind Menschen irritiert. Für mich ist währenddessen alles ganz selbstverständlich. Denn ich bin ja ein Mensch und keine Marke.

Ich bin mehr als meine Instagram-Fotos, mehr als meine Artikel, mehr als meine Tweets, mehr als meine Podcasts. Ich bin mehr als die Musik, die ich höre, mehr als die Menschen, die ich toll finde und ja, ganz oft auch mehr als das Bild, das ich selbst von mir habe. Auch dem werde ich oft nicht gerecht und das ist okay.

Die Erfüllung von Perfektion beinhaltet auch immer Privilegien. Zeit, sich zu bilden, zum Beispiel. Ressourcen, sich Gedanken zu machen um das vermeintlich richtige Verhalten. Und oft auch Geld, um die vermeintlich guten Sachen zu kaufen. Das Urteilen über das vermeintlich richtige Verhalten passiert oft aus einer privilegierten Position heraus. Und aus einer, die ganz schön hart ist, oft auch zu sich selbst.

Ich kenne das, auch ich verlange viel von mir. Ich selbst bin oft meine schärfste Kritikerin. Genau deshalb weiß ich, wie wohltuend es ist, mal lockerzulassen. Bei anderen und auch bei mir. Und auch da weiß ich: Es geht mal wieder um Privilegien. Wenn man selbst betroffen ist von bestimmten Dingen oder Expert*in für ein bestimmtes Thema – bei meiner Beispiel-Followerin Ernährung und nachhaltiger Konsum –, kann es manchmal fast unmöglich sein, lockerzulassen. Sprühsahne liegt bei mir aber definitiv unter dieser Grenze.

Sowohl als auch

„Wir sind besser als ihr“, dieser Gedanke liegt hinter dem Begriff der Ambiguitätstoleranz, sagt Astrid von Friesen in einem Feature bei Deutschlandfunk Kultur. Von Friesen beschreibt das Ziel mit der Akzeptanz von „sowohl als auch“. Das passt für mich sehr gut. Ich bin viel sowohl als auch. Übrigens, good news: Wir können unsere Toleranz erweitern, auch die Toleranz für Mehrdeutigkeit und auch als erwachsene Person noch. Es ist nicht zu spät.

Menschen sind vielfältig. Menschen machen Dinge gut und manchmal schlecht. Menschen schreiben Texte ins Internet über Feminismus und Gleichberechtigung und verhalten sich dann manchmal selbst richtig ungerecht. Menschen schreiben über Mutterschaft und sind nicht die perfekte Mutter. Mütter sprühen ihren Kindern Sprühsahne in den Mund, direkt an der Kasse. Und manchmal sorgen unsere Ambiguitäten für den besten Moment des Tages für ein Kind.

Eure Mareice

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