Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach.
Es lebe der Windows-Computer
Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich wirklich gerade in einer Bücherei sitze, während ich diesen Text schreibe. Ich schwöre, das hier ist authentisch. Das könnte gerade Berlin sein, oder die bayerische Universitätsstadt, in der ich vorher studiert habe, oder halt das Kaff, in dem ich jetzt lebe. Ähneln tun sie sich alle irgendwie. Die weißen Metallregale, türkisfarbene bis blassgelbe Deko und dieser Geruch nach Teppich.
Ich habe schon in so vielen Büchereien und Bibliotheken lernen dürfen. Auch im Berliner Grimm-Zentrum, das wir immer gerne als Instacatwalk bezeichneten, schon 2012. Insta-worthy war auch der Harry-Potter-Raum der University of Virginia. Das war tatsächlich surreal. Sie hätten Cognac und Zigarren an die Student*innenschaft rausgeben sollen, ergänzend zum dunkelbraunen Lederdekor.
Hier sitze ich also an einem Tisch und blicke auf einen an der Wand fest installierten Windows-Computer, dessen Handhabung mir die nette Mitarbeiterin wirklich sehr, sehr ausführlich erklärt hat, danke noch einmal an dieser Stelle. Mein verblendetes Agenturgehirn muss sich beim Tippen zunächst an die dreidimensionale Tastatur gewöhnen. Lol, für eine Sekunde war ich kurz davor, einen Boomerang von den Tasten zu machen. Die Langsamkeit der Suchfunktion macht mich direkt aggressiv. In der Zeit hätte ich scrollen können, durch Zeit online, Instagram, oder einen TikTok-Account eröffnen.
Zwei Euro Bestsellergebühr
Aber ich warte geduldig, denn ich mache ja eine Instagrampause. Und wenn ich nicht auf Instagram bin, brauch ich auch kein Boomerang machen. Da erledigt sich der Witz der vermeintlichen Selbstdarstellung. Da sind sie, die 87 Ergebnisse meiner Suche. Das hätte ich besser eingrenzen sollen, shit, hat doch die Frau vorhin erklärt, Sternchen vor oder nach dem Wort? Egal, ich suche später nach den Büchern. Ich bin ja hier, um mich für diese Kolumne inspirieren zu lassen.
Vor ein paar Monaten begannen sie mir aufzufallen, die kleinen Sticker auf den Büchern, die meine Peers auf Instagram posteten. Huh. Eine meiner klügsten Freundinnen, die mir regelmäßig Bilder von den Büchern schickt, die sie gerade liest, erzählte mir, wie sie Sibylle Bergs Roman „GRM“ fand, und schickte ein Beweisfoto von sich mit Buch mit. Dicker fetter gelber Sticker mit dem Hinweis, dass dieser Bestseller zwei Euro Ausleihgebühr kostet. Meine Freundin ist Journalistin, wenn sie das Buch nicht kaufen will, soll sie es sich einfach schicken lassen, ist das nicht der eine Vorteil der schreibenden Zunft? Kostenlose Bücher? „Oder ich leihe es mir einfach aus.“
Niemand will etwas von dir
Das stimmt natürlich. Erstmal ausleihen. Sie hatte in der Bücherei reingelesen, und es für gut befunden. Ganz davon abgesehen, dass es ein ultra gehypter Bestseller war, und es schon ein Zeichen vom Universum ist, wenn es in der Bücherei überhaupt verfügbar ist. Es war ihre Entscheidung, es mitzunehmen, niemand guckte mahnend zu ihr rüber, kein Verkaufspersonal verzog den Mund, weil sie zu lange in einem Buch blätterte, und meine Freundin musste kein Geld bezahlen, außer die zwei Euro Bestsellergebühr. Hätte sie gewollt, sie hätte sich über Stunden in die Ecke setzen können, und niemand hätte etwas von ihr gewollt. Hätte hätte Fahrradkette, wenn man groß ist kann man nicht immer, wie man will, und dann noch als Mutter!
Die Bücherei ist der letzte Ort in unserer Gesellschaft, an dem man nichts muss.
Ich bin Migrantin erster Generation mit eigener Migrationserfahrung. Mein Migrationshintergrund ist so verwirrend für die meisten Kar…äh Deutschen, dass ihnen der Begriff ‚Russlanddeutsche‘ noch am geläufigsten ist. Da weiß man, woran man ist! Auch, oder vielleicht eher hauptsächlich, weil sie nicht so viele Klischees über plautdietsche Mennoniten kennen, und Wodka-Witze wie das Kartoffelwasser selber einfach nicht alt werden. Als typische 90er-Jahre-Migrantin kenne ich die Auffanglager und Asylantenheime dieser Nation, aber darüber lest ihr dann in meinem Buch, sollte es irgendwann fertig werden.
Stühle, dann Bücher
Woran ich mich aus dieser Zeit aber hauptsächlich erinnern kann, sind die Stühle in dem Kindergarten, in dem ich frühmorgens die Erste und spätnachmittags die Letzte war. Morgens haben wir sie runtergeholt von den kleinen Tischen, nachmittags wieder draufgestellt. Ich konnte kein Hochdeutsch, ich wurde da abgeliefert und mir wurde viel Spaß gewünscht. Und den hatte ich! Denn wenn man eine von sehr wenigen Migrant*innen in einem Kindergarten ist, lernt man richtig schnell Deutsch. Oder ich war einfach unfassbar klug, kann auch sein.
Ich erinnere mich nicht an Bücher, ich erinnere mich an Stühle. Die Bücher kamen später, nach dem Lesenlernen, was tatsächlich noch total Old School in der Grundschule stattfand. Buchstabe für Buchstabe und dann zack boom süchtig. Bücher wurden auf Flohmärkten zusammengekauft, bis uns in der fünften Klasse in der angrenzenden Stadtbücherei ein Ausweis erstellt wurde und gesagt wurde, Hallo, ihr seid Kinder, das kostet kein Geld, kommt her, lest, leiht euch aus, soviel ihr wollt, solange ihr wollt.
Fernsehkind und Bücherkind
Könnt ihr euch eigentlich vorstellen, wie eine vollgepackte Bücherei kombiniert mit der Erlaubnis, alles anfassen zu dürfen, auf Kinder wirken muss? Und dann noch auf kleine arme Ausländer*innenkinder? Märchenland. Genauso wirkte damals das Nachmittagsprogramm des deutschen Privatfernsehens auf uns, aber das eine muss das andere nicht ausschließen. Man kann Fernsehkind und Bücherkind sein. Ich kann die Titelmelodie der Kickers und Gummibärenbande auswendig kennen, und wissen, dass der Lindenhof das einzig wahre Internat ist. Beides geht.
20 Jahre später fingen wir an, Buchcover und Shelfies zu posten und mit Hashtags zu versehen. Rezensionsexemplare wurden zeitweise täglich in meinen Berliner Briefkasten gestopft, ohne dass ich sie jemals angefragt hatte. Der Wahn war in vollem Gange. Manche von uns posteten Unboxing-Videos, und dachten, wir wären moralisch besser als die Drogeriemarkt-Haul-Videos der Generation Z. Aber, Konsum ist Konsum, auch wenn es Bücher sind. Buchblogger*innen begannen Bücherstapel von Neuerscheinungen zu posten, die kein normaler Mensch in einem Jahr hätte lesen können. Oder bezahlen.
20 bis 30 Euro für ein Kinderbuch
Bücher zu kaufen, in ein Regal zu stellen, und den Besitz zu posten, kann ein teures Hobby sein, es sei denn, man kriegt sie kostenlos zugeschickt. Genauso wie Mode-Influencer*innen selten für die beworbene Ware bezahlen, tun das Bookfluencer. Viele der Kinderbücher, die ich bewarb, kosteten zwischen 20 und 30 Euro. Ein unvorstellbarer Preis für die meisten Familien. Es sind fantastische Bücher und ich stehe immer noch dahinter, sie empfohlen zu haben, aber inklusive, diverse, genderneutrale Literatur ist eine moderne Entwicklung und wird daher eher selten auf Flohmärkten angeboten. Man muss sie neu kaufen. Das am besten in wunderschönen kleinen Buchhandlungen, die wir alle unterstützen sollten, solange wir es uns leisten können.
Wo sonst könnte man aktuelle Kinderliteratur erhalten? Für umme?
Korrekt. Büchereien können der Ort sein, an dem wir als Eltern Kindern einen ersten Zugang zu Bildung ermöglichen können. Sobald man ein Kind hat, wird früher oder später wieder der Weg zur Bücherei gefunden.
Zeit zum Lesen: eine Investition
Was im Kindergarten stattfindet, muss ja auch immer zehn bis 20 Kindern parallel gefallen und zu Hause hat nicht jede*r die Möglichkeit, tagtäglich mit Kindern zu lesen. Das würde außerdem voraussetzen, dass man die finanziellen Mittel besäße, Bücher käuflich zu erwerben, und die Zeit, diese dann gemeinsam zu lesen. Diese Zeit muss ebenfalls investiert werden, wenn man mit den Kindern gemeinsam Bücher ausleiht, das stimmt.
Außerdem, und ich weiß, das spukt den Großstadteltern ohne Auto schon die ganze Zeit im Kopf herum: Schlepperei. Schleppen ist ein so tolles Wort, und ich bin dem Jiddischen dankbar, dass ich es auch im Englischen verwenden kann. Schlepp Schlepp Schlepp. Bücher regelmäßig auszuleihen, nicht zu verlieren und zurückzubringen, bedeutet Schlepperei und Mental Load vom Feinsten. Es tut mir leid, dass ich mich immer wieder in euren Alltag nerve und will, dass ihr Kinderkleidung Secondhand kauft, Currywurst boykottiert, es sei denn ihr seid betrunken, und Neujahrsspaziergänge genießen sollt. Sorry, aber ihr seid ja groß. Aber es lohnt sich dennoch, wirklich.
Büchereien: die Original Influencer
Der Gang in die Bücherei öffnet Kindern die Augen zu so viel mehr. Die Ruhe, das Runterkommen, das Nichts-müssen, das Sich-ausprobieren-dürfen. Es öffnet den Bibliothekar*innen die Augen, was Kinder gerade interessiert, und was Eltern brauchen. Je mehr nach alternativer Kinderliteratur verlangt wird, desto mehr können Büchereien widerspiegeln, wie Familien gerade aussehen und sich entwickeln. Für Familien auf dem Land sind Büchereien die Original Influencer, was Literatur angeht. Die nächste Buchhandlung ist womöglich in der nächsten Stadt und unter Umständen schlechter aufgestellt als eine Bücherei.
Die Bücherei, in der ich gerade sitze, verleiht außerdem Tonies, Tonie-Boxen, TipToi-Bücher, und Geburtstagskisten mit Verkleidungen und Papier für Einladungen. Ich erinnere mich, dass die Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg unter anderem Gemälde verleiht.
Als die Marie-Kondo-Welle vor einiger Zeit auch an unsere Berliner Altbauwohnung klopfte und in die schicken Teak-Regale wollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. Wie lamentierte ich über die die Kostbarkeit der Romane, die ich nie begonnen habe oder furchtbar fand! Herzzerreißend war das! Keine zwei Stunden später hatte ich die Hälfte aussortiert und fragte mich, woran ich eigentlich hing, den Büchern, oder dem Look? Auch ich arbeite mit Büchern, ich male in ihnen, ich klebe, knicke, küsse und verliebe mich. Ich besitze sie gerne, und ich verleihe sie gerne, manche möchte ich vererben, so heilig sind sie mir. Und trotzdem habe ich spätestens beim Umzug von der Großstadt aufs Land festgestellt, dass man definitiv ‚zu viele‘ Bücher besitzen kann. Und verschenkte, verkaufte und spendete noch einmal.
Aussortieren ist OK
Was soll man mit Büchern, die man besitzt, aber nicht mag? Weg damit, solange das Herz nicht weint. Wie einfach wäre es in solchen Fällen, sie erst gar nicht zu kaufen? Selbst Fachliteratur? Muss immer alles sofort am nächsten Tag da sein? Ich habe in den letzten Jahren gelernt, keine Geduld mehr mit Büchern zu haben. Romanen gebe ich 20 Seiten, Sachbüchern 50. Ausleihen bewahrt auch davor, ein schlechtes Gewissen gegenüber Büchern zu haben. Kennt ihr das? Die Schuldgefühle, aufgestapelt auf dem Nachttisch, die dort nichts zu suchen haben. Wenn ein Buch nicht passt, sollte niemand sich gezwungen fühlen, weiterlesen zu ‚müssen‘.
Wenn ein Buch schon nach zehn Seiten nicht gefällt, kann ich es einfach zurückbringen, und mir ein anderes aussuchen – ohne dass ich Ressourcen verschwendet habe. Was für ein Konzept!
Es gab kein spezielles Programm und keinen Sprachkurs für mich in den 90ern und ich bin mir nicht sicher, ob das Gymnasium, auf das sie mich schickten, wusste, was sie anrichteten, als sie uns allen einen Ausweis für die Stadtbücherei ausstellten. Aber es veränderte mein Leben und ich sehe jedes Mal wieder, wie ruhig mein Kind wird, wenn es in der Bücherei sitzt und liest, aufsteht, sucht, und entdeckt. Es lernt, achtsam mit Dingen umzugehen, da sie nur geliehen sind, und wir lernen als Familie, runterzukommen, wenn wir in die Bücherei gehen.
Holt euch einen Ausweis – alle!
Büchereien bieten Vorlesenachmittage, Mutter-Kind-Cafés, Sprachtreffs an. Hier hängen Schilder auf Arabisch und Russisch. Ihr, die ihr meine Texte lest, seid wahrscheinlich mehrheitlich weiß und ohne Migrationshintergrund, eure Eltern haben wahrscheinlich studiert und wahrscheinlich habt ihr im letzten Jahr ETFs oder private Altersvorsorge für Frauen recherchiert. Letzteres ist wichtig und richtig, ich will nur sagen, wir können davon ausgehen, dass es den meisten von euch ‚ganz gut geht‘, ‚verglichen mit‘.
Ihr hättet es vielleicht ‚nicht nötig‘ in eine Bücherei zu gehen, aber wenn ihr noch keinen habt, holt euch trotzdem einen Ausweis, bezahlt die Jahresgebühr und lasst sie automatisch per Einzug verlängern. Und auch wenn es nicht ums ‚nötig haben‘ geht, bevor ihr euch den x-ten Roman schenken lasst oder bei Amazon bestellt, guckt nach, ob er nicht schon längst in eurer Bücherei vorrätig ist. (Wo man übrigens auch Wünsche äußern kann.) Die Nachfrage von zahlenden Ausweisinhaber*innen bekräftigt die Daseinsberechtigung!
Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).