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„Cinderella“ und andere (Alb-)Traumgeschichten

Märchen – wir kennen und lieben sie, sind mit ihnen aufgewachsen. Geschichten von Gut und Böse mit einem Happy End, die ganze Generationen bis heute in den Schlaf begleiten. Vor allem die Disney-Adaptionen gängiger Märchenerzählungen sind bei Kindern beliebt und wecken wehmütige Erinnerungen an die eigene Kindheit. Aber Vorsicht – jenseits des Disney-Universums lauert schonungslose Grausamkeit.

 

Können Sie sich noch an Ihren ersten Kinobesuch erinnern? Der erste Film, den ich damals auf der „großen Leinwand“ gesehen habe, war „Asterix in Amerika“. der Zweite „Die Schöne und das Biest“, ein typischer Disney-Klassiker mit Liebe, Drama und einem Happy End. „Ach, war das schöööön“, werden nun einige seufzen, die die Hoch-Zeiten des Disney-Märchenfilms genau wie ich in voller Bandbreite miterlebt haben. Ich habe sie wirklich alle durch – „Pocahontas“, „Aladdin“ „Cinderella“, „Schneewittchen“ und „Mulan“. Doch ich kenne auch die „Originale“ und weiß nicht, ob das nun Fluch oder Segen sein soll. Denn die „dunkle Seite“ der Geschichten ist oft nichts für schwache (Kinder-)Nerven und stellt mich vor eine moralische Frage: Ist das wirklich die Welt, die ich meiner Tochter in ihren Gute-Nacht-Geschichten zeigen will?

Suizid, Folter und Mordintrigen

Eltern haben häufig Skrupel, ihre Kinder die Nachrichten schauen zu lassen, Zu viel Krieg, Gewalt und Elend, die ihnen Albträume bescheren könnten. Zu viel Katastrophe, zu wenig Optimismus; zu viel Gewitter, zu wenig Sonnenschein am geistigen Horizont. Auch für Krimis, Thriller, Kriegs- und Horrorfilme gibt es strenge FSK-Regelungen, damit Jugendliche kein falsches Bild von dieser Welt bekommen, zu Gewalt animiert oder verängstigt werden. Und, bitte nicht falsch verstehen, ich finde das richtig so. Zumindest dann, wenn kein Erwachsener in der Nähe ist, um mit einem Kind oder Teenager über das Gesehene und Erlebte zu sprechen. Geht es jedoch um die teilweise extrem grausamen „Gute-Nacht-Geschichten“ in Märchenform, die schon jüngste Menschen zum Schlafengehen erzählt bekommen, gilt dies meist als Spaßfaktor für die Kleinen. Dabei stünden viele Märchenverfilmungen und -fassungen, wenn sie originalgetreu umgesetzt würden, einem FSK-21-Film in nichts nach. Denn hinter der Fassade der fantastischen Geschichte mit Happy End finden sich die dunkelsten menschlichen Abgründe. Da will eine Stiefmutter ihre jüngere, attraktivere Stieftochter durch einen Auftragskiller in „Schneewittchen“ zur Strecke bringen lassen und noch ihre Innereien essen (Hannibal Lecter lässt grüßen). Ebenso kannibalistisch geht es in der Originalversion von „Rotkäppchen“ zu. Da isst das arme Mädchen, ohne es zu wissen, seine ermordete Großmutter und trinkt ihr Blut, nur, um hinterher selbst Opfer eines bestialischen Mörders (nämlich des „großen bösen Wolfs“) zu werden. Die Mutter von „Hänsel und Gretel“ verhungert elendig, während ihre beiden Kinder von einer bösen Hexe zum Verzehr gemästet werden, die letztendlich in ihrem eigenen Ofen verbrennt. Der schönen, von einem Menschen besessenen Meerjungfrau wird ihre bedingungslose Liebe zum Verhängnis. Je nach Überlieferung der „Undine“-Sage wird sie von ihrem Traumprinzen verlassen, erleidet unsägliche Schmerzen an Land oder stürzt sich aus Verzweiflung ohne Schwimmhäute ins Meer. A propos Prinz – der kommt auch in den Ursprungsmärchen von „Dornröschen“ und „Schneewittchen“ nicht besonders gut weg. Während einer als skrupelloser Vergewaltiger aus der Geschichte hervorgeht und mit allem Glück davonkommt, lässt der andere – wie unendlich romantisch – einfach den gläsernen Sarg auf den Boden fallen. Nichts mit heißen Küssen und inniger Liebe, zumindest nicht, wenn es nach den Autoren älterer Überlieferungen geht. „Cinderella“ oder auch „Aschenputtel“ hat am Ende halbwegs Glück in der Liebe und kann sich gegen jede intrigante, weibliche Konkurrenz durchsetzen. Man darf sich jedoch ernsthaft fragen, ob es wirklich nötig und sinnvoll ist, sich die eigenen Füße zu verstümmeln, wie Aschenputtels Stiefschwestern es tun. Und alles nur, um einen reichen Mann abzubekommen? Ich meine, echt jetzt? Und was würden eigentlich Tierschutzorganisationen zu dem Ratschlag sagen, systematisch Frösche zu köpfen oder gegen die Wand zu werfen?

Unverhältnismäßige Gewaltexzesse

Meist siegt im Märchen aller Brutalität, Abartigkeit und Mordkomplotte zum Trotz das „Gute“, „Schöne“ und „Tugendhafte“. Die Bösewichte – ob nun männlich oder weiblich – werden dabei im gleichen Maß bestraft, wie sie sich zuvor schuldig gemacht haben. Oder auch weit darüber hinaus. Die Hexe in „Hänsel und Gretel“, von einer couragierten Schwester knapp vom Kindermord an Hänsel abgehalten, findet einen grausamen Tod im Ofenfeuer. Schneewittchens Stiefmutter muss, des versuchten Mordes überführt, sich selbst in glühenden Schuhen zu Tode tanzen. Den neidischen, intriganten Stiefschwestern von Aschenputtel werden qualvoll die Augen ausgepickt. Diese Liste von Folter- und Tötungsmethoden, sowohl auf Täter- als auch auf Opferseite, ließe sich beliebig fortsetzen. Jeder erzählt diese Geschichten freimütig seinen Kindern – und das in einer Gesellschaft, die sich politisch klar gegen Folter und die Todesstrafe ausspricht. Ganz nach dem Motto: „Die Opfer sind naiv und die Täter selbst schuld an ihrem Schicksal“. Was mich und Sie als Leser eigentlich zu den Antworten führen sollte, warum Märchen im Original eigentlich so grausam sind, wie sie eben sind. Einige wird es vielleicht überraschen, sich daran zu erinnern. Aber: Märchen waren ursprünglich keine vergnüglichen Geschichten für Kinder!

Didaktisches Mittel und Abschreckungsmanöver

Versetzen wir uns in eine vordemokratische Zeit; in eine Epoche oder mehrere, in denen der Einzelne nichts weiter als ein Untertan adliger Willkür war. In eine Welt, in der Kritik an der Gesellschaft oder am politischen System tödich sein konnte, so wie noch heute in mancher Diktatur. Letztendlich in eine Bildungslandschaft, die man dank eines verbreiteten Analphabetismus aus heutiger Perspektive kaum als solche bezeichnen kann, mit mündlich überlieferten Geschichten und Gleichnissen als einzigem Medium für die Massen. Waren Märchen der einzige Weg, versteckte Warnungen und Botschaften in der Bevölkerung zu verbreiten, „zensierte Systemkritik“ unter die Leute zu bringen? Oder legten ihre überlieferten Varianten, von denen es oftmals mehrere gibt, schlicht die dunklen Seiten zeitgenössischen Gedankenguts und menschlicher Fantasie in einer von Gewalt bestimmten Gesellschaftsordnung offen? Wie jedes Kulturzeugnis vermitteln Märchen Werte, Prinzipien und Ideale und konnten dem (halbwegs) lebenserfahrenen, gebildeten Erwachsenen als didaktisches Mittel und Warnung dienen. Beispiele gefällig? Was wäre, wenn das junge Rotkäppchen weniger leichtsinnig gehandelt hätte? Die Dramaturgie wäre futsch, klar. Man kennt das ja aus dem klassischen Horrorfilm, wenn das Opfer dem verrückten Serienmörder naiv in die Arme läuft. Mit Taschenlampe, Ersatzkanister im Auto und einem aufgeladenen Akku im Handy wäre das nicht passiert. Ebenso könnte Rotkäppchen einfach überleben, hätte sie nur auf die Warnungen gehört, nicht mit Fremden mitzugehen. Würde die kleine Meerjungfrau mal einen Moment lang die rosafarbene Brille der Verliebtheit abnehmen und ihren Kopf wieder einschalten, könnte sie vielleicht erkennen, dass der Traumprinz ein gedankenloser Blender ist, anstatt alles für ihn aufzugeben. Übrigens auch in heutigen „Rom-Coms“ (romantischen Komödien) ein klassischer, oft weiblicher Fehler – eine ganze Hollywood-Glitzerindustrie lebt vom verklärten Glauben an die ewige, schicksalhafte Liebe. An Beziehungen, an denen man niemals arbeiten muss, damit sie funktionieren und bestehen bleiben. Aus der „Täterperspektive“ betrachtet hatten Volksmärchen sicherlich auch eine abschreckende Wirkung. Wer möchte schon gern bei lebendigem Leib verbrennen, sich die Augen herausreißen lassen, mit Pech übergossen werden (wie unehrliche, faule junge Frauen in „Frau Holle“) oder glühende Schuhe tragen müssen – und das alles nur für ein wenig Eitelkeit, Trägheit, Missgunst und kurzfristige Befriedigung an der eigenen Bosheit?

„Und die Moral von der Geschicht’ …“

Betrachte ich all diese Aspekte – sowohl innerhalb der Märchentexte und -filme als auch in ihren historischen Kontexten – mahnt mich das zur Vorsicht. Und ein wenig schuldig fühle ich mich auch, während ich meine Gedanken zur beliebtesten Kinderliteratur der Welt in derart harte Worte fasse. Immerhin lasse ich hier bewusst Träume und Illusionen vieler Disney-Nostalgiker wie Seifenblasen zerplatzen. Trotzdem glaube ich daran, dass wir, die jetzt Erwachsenen, im Happy-End-Kitschrausch nicht das vergessen sollten, was die „familienfreundlichen“ Verarbeitungen unserer Traumgeschichten unter den Tisch kehren. Wir sollten uns immer bewusst sein, welche Werte, Prinzipien und (Alb-)Träume wir unseren Kindern mitgeben wollen. Das bedeutet nicht, dass man das Märchen an sich aus dem Vorleseprogramm zwingend herausnehmen muss. Als Eltern sollten wir es nur nicht versäumen, rechtzeitig mit unseren Kindern über das zu reden, was Hollywood uns verschweigt und daraus zu lernen. So wie aus allem, was wir täglich in den Medien sehen und hören.

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