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Das Leben als Flickenteppich: Was ich von meiner Oma gelernt habe

Es ist gut, dass alles ein Ende hat. Auch, dass das Leben ein Ende hat, ist gut so. Im Dezember ist meine Oma mit 82 an Krebs gestorben. Durch sie habe ich viel über das Sterben, Totsein und vor allem das Leben gelernt. Denn seine Großeltern zu verlieren, ist immer auch ein Abschied von der eigenen Kindheit.

 

„Was will ich aus meinem Leben machen?“, diese Frage habe ich mir in den letzten Jahren oft gestellt. Die Antwort ist: Auch mit 30 sieht man schon die Konturen, die das eigene Leben einmal haben wird. Meine Oma wollte vor allem zufrieden sein. Von außen betrachtet ist ihr das nie besonders schwergefallen. „Ich habe mein Leben gelebt“, war in den letzten Jahren einer ihrer liebsten Sätze. Wie großartig er eigentlich ist, fällt mir erst jetzt auf. Er klingt so einfach und doch ist es schwer, dorthin zu kommen. Ist da nicht oft Bedauern, wenn etwas zu Ende geht? Man Chancen und Gelegenheiten verpasst hat?

Erwarten wir zu viel vom Leben?

Der Tod ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Dass es zu jedem Anfang ein Ende geben muss, schieben wir gerne weit von uns weg. Ich glaube, dass wir viel gewinnen, wenn wir uns ab und zu bewusst machen, dass alles endlich ist. Einen solchen Aha-Moment hatte ich, als ich vor ein paar Jahren den Roman „Stoner“ gelesen habe. John Williams erzählt darin nicht mehr und nicht weniger als das ganze – größtenteils unaufgeregte – Leben des amerikanischen Literaturprofessors William Stoner. Ich dachte: Das ist es also, ein ganzes Leben. Und natürlich fragt man sich: Wie wird meines aussehen? Was wird da sein, von Anfang bis Ende? Eine Stelle, es ist die kurz vor Stoners’ Tod, hat mich besonders berührt:

„Er hatte ein Lehrer sein wollen und war einer geworden, doch wusste er, hatte es immer gewusst, dass er über weite Strecken seines Lebens nur ein mittelmäßiger Lehrer gewesen war. Er hatte von einer Integrität geträumt, einer Art allumfassenden Reinheit, aber Kompromisse und die grellen Zerstreuungen des Trivialen gefunden. Er hatte Weisheit erstrebt und am Ende langer Jahre Unwissenheit erlangt. Und was noch?, dachte er. Was noch? Was hast du denn erwartet, fragte er sich.“ Der Satz „Was hast du denn erwartet“ taucht auf den folgenden Seiten immer wieder auf – ohne, dass der Autor eine Antwort darauf geben würde.

Wir feilen und tüfteln immer an etwas – unserem Leben. Und wenn es zu Ende ist, wird es vermutlich niemals vollständig sein, sondern immer nur zu Ende. Sein Leben zu leben, heißt vor allem, zu erkennen, dass es da nur diese eine Chance gibt. Es gibt einen Anfang und definitiv ein Ende. Alles, was dazwischenliegt, dürfen, ja müssen wir mit Leben füllen. Wie und nach welchen Prinzipien, darauf muss jeder selbst eine Antwort finden. Vor allem aber, denke ich, sollten wir die Freude und den Spaß nicht aus den Augen verlieren.

Annehmen und gleichzeitig loslassen

Meiner Oma ist das bis zuletzt gelungen. Auch als sie im Rollstuhl saß, kaum noch eine Stimme hatte, konnten wir sie immer zum Lachen bringen, hat sie sich wie eine Schneekönigin gefreut über die Blumen und die Post, die ich ihr geschickt habe. Keine Sekunde hat sie sich beklagt über die Schmerzen, die sie sicher gehabt haben muss, über ihr Leben, dass ohne das wir darüber sprachen, langsam aber sicher zu Ende ging. Mich hat das unglaublich fasziniert. Wie sie das geschafft hat, kann ich sie nicht mehr fragen, aber vermutlich kenne ich die Antwort: Annehmen, was ist, und loslassen, was ohnehin vorbeigeht.

An einem kalten Januarmorgen tragen wir das kleine Tütchen mit der Asche meiner Oma ans Meer. Sie, die von der Nordsee kam, soll wieder hierhin zurückfinden. Als ich den Rest der Asche verstreue, sage ich noch einmal leise „Danke“. Anfang und Ende – und dazwischen ein ganzes Leben.

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